Zehn Jahre später: Steht Griechenland für ein kleines Wunder? Kommentar

DIW Wochenbericht 44 / 2025, S. 708

Alexander S. Kritikos

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Vor zehn Jahren entschied eine denkwürdige Volksabstimmung in Griechenland über die Zukunft des schuldengeplagten Landes: Entgegen einer Mehrheit, die gegen die von außen auferlegten Reformen votierte, entschied sich die Regierung Tsipras für deren Fortsetzung und für einen Verbleib in der Eurozone. Ein drittes Schuldenpaket wurde geschnürt, geknüpft an die Verpflichtung, jährlich Primärüberschüsse zu erzielen. Zwei Fragen standen im Raum: Wird Griechenland jemals die Schuldenlast von knapp 180 Prozent des Bruttoinlandsprodukts abtragen? Und kann das Land Primärüberschüsse erzielen?

Es kann. Mit Ausnahme der Pandemiejahre gab es jedes Jahr einen Primärüberschuss. Auch wächst die Wirtschaft seit 2021 durchweg überdurchschnittlich innerhalb der Eurozone. Die Staatsschuldenquote ist auf 155 Prozent gesunken, die Renditen für griechische Anleihen liegen sogar unter denen von Italien und Frankreich. Ebenso hat sich der Arbeitsmarkt erholt.

All das wurde durch eine Reihe von schmerzhaften Reformen möglich: drastische Rentenkürzungen und Erhöhung der Steuersätze. Beides sanierte den tief in den Miesen steckenden Haushalt. Die im Jahr 2019 an die Macht gekommene Regierung Mitsotakis setzte mehr auf wirtschaftsfreundliche Reformen: Beschleunigung der Privatisierungsvorhaben, weitreichende Digitalisierung öffentlicher Dienstleistungen, Erleichterungen bei Investitionsverfahren und Senkung der Unternehmens- und Einkommensteuern. Kürzlich wurden diese Reformschritte mit der Hochstufung im Rating für griechische Staatsanleihen belohnt.

Es scheint alles zum Besten zu stehen. Doch es lässt sich auch eine andere Geschichte erzählen. Die wirtschaftliche Entwicklung wird von zwei Sektoren getragen, Tourismus und Bau. Zwar sind wieder mehr Menschen in Lohn und Brot, doch werden in den Sektoren niedrige Löhne gezahlt. So liegt das heutige Wohlstandsniveau Griechenlands immer noch rund fünf Prozentpunkte unter dem Niveau von 2007. Produktion und Export von höherwertigen Produkten mit besseren Löhnen stagnieren hingegen. Entsprechend ist die Arbeitsproduktivität pro Stunde so niedrig wie in keinem anderen Land der OECD.

Und dann sind da noch die jüngsten Regierungsskandale, die das Vertrauen in die Regierung erschüttert haben. Hinzu kommen weitere strukturelle Probleme, darunter ein Reformstau im Justizsystem. All dies ist keine Einladung für Investoren und Innovatoren, die Höherwertiges in Griechenland produzieren wollten.

Wie kann es zu dieser „Divergenz der Narrative“ kommen? Letztlich hat die Regierung Mitsotakis den richtigen Reformprozess angestoßen, ist dann aber auf halbem Wege stehen geblieben. Griechenland hat es bis heute versäumt, echten Nutzen aus seiner EU-Mitgliedschaft zu ziehen, um Institutionen aufzubauen, die innovative Investitionen besser ermöglichen.

Will also die Regierung mehr Wohlstand in die Mitte ihrer Bevölkerung tragen, muss sie sich ambitioniertere Ziele setzen. Statt mehr Touristen auf eine Insel zu quetschen, braucht es technologische Durchbrüche, die zur Erstellung höherwertiger Produkte und dadurch zu mehr Exporten und Wachstum führen.

Das Humankapital dafür gibt es in Griechenland. Denn es bildet laut „Global Innovation Index“ seinen Nachwuchs hervorragend aus, und es gibt exzellente Forschung in Griechenland. Aber die Übersetzung der Forschungsergebnisse in die Welt der Unternehmen, die innovative Produkte marktfähig machen, findet selten in Griechenland statt, sondern meist anderswo.

Drei wichtige Reformen sollte die Regierung anstoßen: Erstens muss Griechenland mehr in Forschung und Entwicklung investieren; Wissenschaft und Wirtschaft müssen viel systematischer als bisher in den produktiven Austausch gehen können. Zweitens muss die Qualität der öffentlichen Verwaltung, aber auch der Justiz verbessert werden. Drittens muss die Regierung anfangen, die Kommunalpolitik mit einzubinden und Verantwortung auf mehr Schultern zu verteilen. Denn die Attraktivität eines Standortes hängt auch vom lokalen Geschäftsklima ab. Griechenland muss also seinen dringend benötigten Reformprozess fortsetzen.

Der Beitrag ist am 21. Oktober 2025 in einer längeren Fassung in der Welt erschienen.

Alexander S. Kritikos

Forschungsgruppenleiter in der Forschungsgruppe Entrepreneurship

Themen: Konjunktur, Europa

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