13. Mai 2014, Guido Baldi gbaldi@diw.de, Patrick Harms
Die Volkswirtschaften Europas und der Vereinigten Staaten erholen sich nur langsam von der weltweiten Finanzkrise und der Schuldenkrise im Euroraum. Wie hoch wird das Wirtschaftswachstum in den kommenden Jahren ausfallen? Werden die entwickelten Volkswirtschaften in einem hohen Maße Innovationen und Produktivitätswachstum erleben oder droht eine längere Phase der Stagnation? Namhafte Ökonomen haben hierzu eine Debatte angestoßen.
Es ist nicht erstaunlich und auch nicht neu, dass nach großen Rezessionen die Wachstumsaussichten teilweise pessimistisch beurteilt werden. Dies war etwa Ende der 1930er Jahre der Fall nach der „Großen Depression". Damals warnte der Ökonom Alvin Hansen vor der Möglichkeit einer „secular stagnation" - also einer lange andauernden Stagnation. Jene Ökonomen wie Robert Gordon oder Larry Summers, die heutzutage für die Zukunft niedrige Wachstumsraten vorhersagen, betonen denn auch, dass sie nicht in die „Falle" treten wollen, nach einer Krise zu pessimistisch zu sein. Sie betonen vielmehr, dass sich die Phase niedrigen Wachstums schon länger - also vor der Krise ab 2007 - angekündigt habe. Während Robert Gordon oder Tyler Cowen vor allem ein Ausbleiben von bahnbrechenden Innovationen als Grund für eine lange andauernde Stagnation betrachten, argumentieren Ökonomen um Larry Summers oder Paul Krugman vor allem aus einer nachfrageseitigen Perspektive.
Was sind die Kernaussagen der „Innovationsskeptiker", zu denen nicht nur Wirtschaftswissenschaftler, sondern etwa auch der Unternehmer Peter Thiel, der Schachweltmeister Garry Kasparov oder der IT-Spezialist Max Levchin gehören? Robert Gordon stellt fest, dass Innovationen, Produktivitätsfortschritt und Wirtschaftswachstum relativ neue Phänomene sind. Erst ab Mitte des achtzehnten Jahrhunderts könne in den heute entwickelten Volkswirtschaften ein stabiles Wachstum und Produktivitätsfortschritte festgestellt werden. Gordon argumentiert, dass die erste industrielle Revolution (ungefähr zwischen 1750 bis 1830) - gekennzeichnet durch die Erfindung der Dampfmaschine und der Eisenbahn -, und die zweite industrielle Revolution (ungefähr zwischen 1870 bis 1970) - getrieben durch die Elektrizität, fließendes Wasser, Chemie und Erdöl - einen viel stärkeren und länger anhaltenden Einfluss auf die Produktivität ausgeübt haben als die dritte industrielle - oder digitale - Revolution, die ihren Anfang in den 1960er Jahren nahm. Seit Ende der 1990er Jahre hat sich die digitale Revolution gemäß Gordon in erster Linie in neuen Konsumgütern niedergeschlagen. Diese würden das Leben der Menschen zwar angenehmer machen, aber eine stark produktivitätssteigernde Wirkung sei bislang ausgeblieben. Tatsächlich sind die Trendwachstumsraten der großen Volkswirtschaften seit der Jahrtausendwende niedriger geworden. Robert Gordon identifiziert sechs Gegenwinde aus verschiedenen Richtungen, welche die Innovationstätigkeit heutzutage bremsten: Demografie, Bildung, Ungleichheit, Globalisierung, Energie und Umwelt sowie die hohe Verschuldung privater und öffentlicher Haushalte.
Verschiedene Ökonomen kritisieren die Hypothesen von Robert Gordon und anderen Wachstumsskeptikern und sehen nicht, dass sich das Produktivitätswachstum verlangsamen werde. Unter den „Innovationsoptimisten" befinden sich etwa die Ökonomen Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee sowie der Wirtschaftshistoriker Joel Mokyr. Sie argumentieren, dass Innovationen nicht vorhersagbar seien und Wachstumsskeptiker in der Vergangenheit im Nachhinein meistens falsch gelegen haben. Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee argumentieren etwa, dass die größten produktivitätssteigernden Auswirkungen der „digitalen Revolution" erst noch bevorstehen. Sie schlagen eine Theorie vor, gemäß der sich die Wachstumschancen durch den technologischen Fortschritt nicht verringern, sondern vergrößern. Erfindungen sind demnach neue Kombinationen und Weiterentwicklungen des bisherigen Fortschrittes. Mit zunehmendem technologischem Fortschritt würden so immer neue Kombinationsmöglichkeiten entstehen, welche die Produktivität erhöhen. Allerdings betonen auch diese Optimisten, dass die entwickelten Volkswirtschaften vor großen Herausforderungen stehen, insbesondere was das Bildungswesen und die Einkommensverteilung betrifft.
Eine andere Gruppe von Ökonomen nimmt in dieser Debatte eine Position ein, welche nicht in erster Linie ausbleibende Produktivitätsfortschritte als Grund für die Möglichkeit einer lang andauernden Stagnation sieht, sondern die schwache Konsum- und Investitionsnachfrage. Diese Ökonomen argumentieren, dass eine Stagnationsphase mit geeigneten Politikmaßnahmen - vor allem zur Stärkung der aggregierten Nachfrage - verhindert werden könne. Die beiden prominentesten Verfechter dieses Standpunktes sind Paul Krugman und Larry Summers. Sie verwenden den von Alvin Hansen geprägten Begriff der „Secular Stagnation", der eine lang andauernde wirtschaftliche Stagnationsphase bezeichnet. Beide stellen fest, dass die Erholung von der Finanzkrise nur sehr zögerlich verlaufe. Der „natürliche" Zinssatz - also der mit Vollbeschäftigung vereinbare Zinssatz - ist nach der Meinung Summers und Krugmans gegenwärtig negativ. Aufgrund einer solchen Sichtweise sind die aktuellen, bereits sehr niedrigen Zinsen immer noch zu hoch, was Vollbeschäftigung verhindere. Viele entwickelte Volkswirtschaften befinden sich gemäß dieser Argumentation in einer keynesianischen Liquiditätsfalle, wie sie auf die heutige Situation angewandt beispielsweise von Paul Krugman beschrieben wird. Auch wenn die Zentralbanken zu unkonventionellen geldpolitischen Maßnahmen greifen, brauche es zusätzlich noch finanzpolitische Maßnahmen, um in einer solchen Lage die Wirtschaft zu stimulieren.
Dieser Sichtweise wird von anderen Ökonomen widersprochen. John Taylor und Stephen Williamson argumentieren, dass eine „säkulare Stagnation" und ein negativer „natürlicher" Zinssatz nur auftreten könnten, wenn sich die Preise und Löhne nicht nach unten anzupassen vermögen. Dies sei in der mittleren und langen Frist jedoch sehr unwahrscheinlich. Die gegenwärtige Investitionszurückhaltung der Unternehmen und die zögerliche Erholung der Wirtschaft sind für Taylor vor allem auf eine zu starke regulatorische Einmischung des Staates in die private Wirtschaft zurückzuführen, welche die Unsicherheit und Kosten für Unternehmen erhöhten.
Für Summers und Krugman hingegen ist die aufgrund ihrer Aussagen wachsende Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen ein wichtiger Grund für die Möglichkeit einer säkularen Stagnation. Hohe Ungleichheit belastet gemäß dieser Argumentation den Konsum, weil Personen mit hohen Einkommen eine höhere Sparneigung haben als die übrigen Bevölkerungsschichten. Die aggregierte Nachfrage wird so gedämpft. Die Aufstieg- und Bildungschancen seien geringer als früher, was dazu führe, dass viele Leute ihr Können und Potential nicht voll entfalten könnten. Summers und Krugman betonen die Wichtigkeit produktiver Staatsausgaben (etwa in Form von Infrastruktur, Bildung oder Forschung und Entwicklung), welche gleichzeitig die Nachfrage und die Produktivität fördern würden und somit einen Beitrag dazu leisten sollen, eine Phase niedriger Wachstumsraten zu verhindern.
Sowohl die Wachstumsskeptiker als auch die Wachstumsoptimisten haben gute Argumente für ihre Positionen. Die Skeptiker weisen darauf hin, dass das Produktivitätswachstum gering sei und ein Ausbleiben von bahnbrechenden Innovationen das Wirtschaftswachstum auf lange Zeit dämpfen würde. Die Optimisten heben hervor, dass sich Wachstumsskeptiker in der Vergangenheit oft geirrt hätten und die digitale Revolution ihre volle Wirkung erst noch entfalten werde. Ein Teil der Wachstumsskeptiker argumentiert von einer nachfrageseitigen Perspektive aus; die Konsum- und Investitionsnachfrage sei schwach und führe so zu einer Stagnation. Allerdings ist es nach einer großen Krise schwierig zu beurteilen, ob eine gedämpfte Entwicklung von Konsum und Investitionen vorübergehend ist oder ob strukturelle Gründe die aggregierte Nachfrage und damit das Wirtschaftswachstum langfristig dämpfen. In einem scheinen sich aber viele Ökonomen einig zu sein: die entwickelten Volkswirtschaften stehen vor großen Herausforderungen, etwa was die Qualität der Infrastruktur, Verteilungsfragen oder die Bildungs- und Energiepolitiken anbelangt.
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Themen: Konjunktur, Forschung und Entwicklung, Europa