Direkt zum Inhalt

Brückeneinsturz: Genua könnte auch in Deutschland passieren

Blog Marcel Fratzscher vom 17. August 2018

Dieser Beitrag ist am 17. August in der ZEIT ONLINE–Kolumne „Fratzschers Verteilungsfragen“ erschienen.

Die Tragödie von Genua hat viele schockiert. Die traurige Wahrheit ist, dass nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland die öffentliche Infrastruktur immer stärker verfällt. In kaum einem westlichen Industrieland investiert der Staat so wenig wie in Deutschland. Deshalb sollte der Brückeneinsturz von Genua ein Weckruf für die deutsche Politik sein, Deutschlands Investitionslücke endlich ernst zu nehmen und eine Kehrtwende in der Investitionspolitik zu vollziehen. Die Investitionsschwäche polarisiert Land und Gesellschaft und ist letztlich für das steigende Süd-Nord-Gefälle und die immer weniger gleichwertigen Lebensbedingungen verantwortlich. Zudem ist sie eine Bedrohung für den Wirtschaftsstandort Deutschland und damit für gute Jobs, Einkommen und Wohlstand in unserem Land.

Die Tatsachen sprechen eine deutliche Sprache: Die staatlichen Nettoinvestitionen in Deutschland sind negativ, der Verfall von Brücken, Straßen und jeglicher Infrastruktur ist also jedes Jahr größer als die staatlichen Neuinvestitionen. Allein bei der Verkehrsinfrastruktur fehlen in Deutschland jährlich zwischen sieben und zehn Milliarden. Vor allem jedoch die 30 Prozent der finanzschwächsten Kommunen können bei Weitem nicht genügend Investitionen tätigen. So ist bei den Kommunen nach Berechnungen des Kommunalpanels der KfW ein Investitionsstau von 159 Milliarden Euro entstanden, davon alleine 47 Milliarden Euro bei Schulen und 38 Milliarden Euro bei der kommunalen Verkehrsinfrastruktur.

Die Sorge ist jedoch nicht nur, dass die öffentliche Infrastruktur vielerorts verfällt, sondern dass auch das Nord-Süd-Gefälle in Deutschland weiter zunehmen wird. So haben Kommunen in Süddeutschland satte Überschüsse und investieren zum Teil mehr als das Fünffache pro Kopf in ihre lokale Infrastruktur als Kommunen im Norden. Es handelt sich also nicht um ein Ost-West-Gefälle – auch Kommunen in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen haben zunehmend Probleme.

Die Ursachen hierfür liegen meist nicht in der Entscheidungsmacht der Kommunen selbst, sondern darin, dass diese häufig hohe Sozialausgaben stemmen müssen, für die sie nicht ausreichend kompensiert werden. Damit werden diese Kommunen auch weniger attraktiv für Unternehmen und für mobile, hochqualifizierte junge Menschen, die häufig Richtung Süden abwandern und einen Teufelskreis in Gang setzen, bei dem die schwachen Kommunen immer schwächer und die starken Kommunen wirtschaftlich immer stärker werden.

Damit scheitert der Staat auch in seiner Aufgabe, gleichwertige Lebensbedingungen für alle in Deutschland zu gewährleisten. Eine politische, wirtschaftliche und soziale Polarisierung sind unweigerlich das Resultat.

Die Politik sollte die öffentliche Investitionslücke durch drei Maßnahmen adressieren. Zum einen sollte sie eine erneute Reform des Bund-Länder-Finanzausgleichs anstoßen, damit finanzschwache Kommunen finanziell besser ausgestattet werden und mehr Eigenverantwortung übernehmen können. Eine stärkere Solidarität zwischen Regionen und Kommunen ist unverzichtbar, wenn Deutschlands Föderalismus funktionieren soll.

Die Schuldenbremse trägt eine wichtige Mitschuld an der Misere der fehlenden Investitionen vieler Kommunen und Länder. Denn in den schwierigen Zeiten mussten viele so starke finanzielle Kürzungen vornehmen, dass ihnen nun das Personal in Bauämtern und Planungsbüros fehlt, um die entstehenden Lücken zu füllen. Deshalb sollte die Schuldenbremse durch eine Investitionsregel ergänzt werden, die sicherstellt, dass jede Kommune und jedes Bundesland zumindest den Wertverfall der Infrastruktur kompensieren muss und dies auch kann.

Überschuldete Kommunen müssen entlastet werden

Als drittes sollten Bund und Länder die überschuldeten Kommunen durch einen Schuldenschnitt entlassen, damit diese wieder die Chance bekommen, in ihre Infrastruktur zu investieren und für Menschen und Unternehmen attraktiv zu werden. Griechenland hat man kürzlich de facto einen Schuldenschnitt gewährt. Wieso nicht auch den deutschen Kommunen, damit diese wieder auf die Beine kommen und eigenverantwortlich handeln können?

Der deutsche Staat lebt von seiner Substanz. Der Verfall öffentlicher Infrastruktur ist ein Vergehen vor allem an den künftigen Generationen. Denn eine starke, leistungsfähige Infrastruktur ist essenziell für die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts und letztlich für Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand in unserem Land. Mit den riesigen Überschüssen in den öffentlichen Kassen hat der deutsche Staat alle Möglichkeiten, die öffentliche Investitionslücke zu schließen. Dies erfordert jedoch ein grundlegendes Umdenken bei der finanziellen Ausstattung der Kommunen, bei der Schuldenbremse und beim Bund-Länder-Finanzausgleich. Es ist höchste Zeit für eine Kehrtwende der Bundesregierung bei ihrer Investitionspolitik.

keyboard_arrow_up