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Und die Ungleichheit hat doch zugenommen

Blog Marcel Fratzscher vom 15. September 2017

Dieser Beitrag ist am 15. September in der ZEIT ONLINE–Kolumne „Fratzschers Verteilungsfragen“ erschienen.

Kaum ein Thema ruft in Deutschland so große Emotionen hervor wie die soziale Ungleichheit. Rente, Steuern, Löhne, Geflüchtete oder Bildung – die große Mehrzahl der Themen im Bundestagswahlkampf sind direkt oder indirekt Fragen der Ungleichheit und Gerechtigkeit. Deshalb ist es so wichtig, dass auch WissenschaftlerInnen einen offenen, respektvollen Diskurs zur Frage der Ungleichheit pflegen, um die analytische Grundlage für die politische Debatte liefern zu können.

Ein hier kürzlich erschienener Gastbeitrag der Forscherin Judith Niehues bestreitet beispielsweise die Ergebnisse vom DIW Berlin und zahlreichen anderen Institutionen zur Entwicklung der Ungleichheit von Einkommen in Deutschland. Leider fehlen in diesem Beitrag konkrete Zahlen und Studien und er liegt mit seinen vier Behauptungen nicht richtig.

Der erste Streitpunkt ist die Behauptung, die Mittelschicht in Deutschland schrumpfe nicht. Es ist richtig, dass es keine einheitliche Definition der Mittelschicht gibt. Die üblichen Definitionen beziehen sich auf das Einkommen. So definiert beispielsweise der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung die Mittelschicht als solche Haushalte, die zwischen 60 Prozent und 200 Prozent des mittleren Einkommens erzielen. Die folgende Grafik (hier auf ZEIT ONLINE) zeigt aber, dass die Schrumpfung der Mittelschicht nicht davon abhängt, wie man diese definiert.

Auch, wenn man die Definition anpasst – zum Beispiel die Mittelschicht nur als diejenigen definiert, die zwischen 77 Prozent und 100 Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung haben oder andersherum sich für eine breite Definition entscheidet von 60 bis 169 Prozent des Medianeinkommens – bleibt das Bild einer Schrumpfung seit den 1990er Jahren bestehen.

Der zweite Widerspruch ist die Behauptung, die atypische Beschäftigung hätte in Deutschland nicht zugenommen, gemeint sind Arbeitsplätze mit geringen Löhnen oder prekären Beschäftigungsverhältnissen. Auch hier zeigen die Zahlen, dass eine differenzierte Betrachtung angebracht ist. Atypische Beschäftigungsverhältnisse haben für Menschen mit hohen Einkommen in der Tat abgenommen. Für Menschen mit mittleren und geringen Einkommen haben sie jedoch in den letzten 20 Jahren und seit 2005 zugenommen, wogegen reguläre Beschäftigungsverhältnisse in diesen Einkommenskategorien gesunken sind.

Der dritte Punkt ist die Behauptung, die Lohnungleichheit in Deutschland hätte in den vergangenen Jahren nicht zugenommen. Auch hier bedarf es einer differenzierten Betrachtung. Seit 1995 ist die Lohnungleichheit stark angestiegen (siehe Grafik auf ZEIT ONLINE).

Die unteren 40 Prozent erzielen heute sogar geringere Reallöhne, also Löhne nach Bereinigung der Inflation, als noch 1995. Die oberen 40 Prozent dagegen erlebten einen zum Teil sehr starken Anstieg ihrer Reallöhne. Es ist richtig, dass seit 2010 auch die Löhne am unteren Ende steigen, zum Teil durch die Einführung des Mindestlohns und zum Teil durch die verbesserte Lage am Arbeitsmarkt. Aber im selben Zeitraum sind die Reallöhne für das obere Drittel stärker gestiegen als die in der Mitte und am unteren Rand der Einkommensverteilung.

Der vierte Widerspruch des genannten Gastbeitrags ist die Behauptung, das Armutsrisiko sei seit 2010 "nur" für Menschen mit Migrationshintergrund gestiegen, nicht aber für Menschen ohne Migrationshintergrund. Zum einen ist nicht klar, was diese Aussage implizieren soll. Es sollte sicherlich nicht bedeuten, dass der Anstieg des Armutsrisikos weniger relevant ist, weil dies Menschen mit Migrationshintergrund betrifft.

Studien des DIW Berlin sowie der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zeigen aber, dass das Armutsrisiko zum Beispiel für Alleinerziehende (auch Alleinerziehende ohne Migrationshintergrund) sehr stark gestiegen und sehr hoch ist. Fast jeder vierte alleinerziehende Elternteil und seine Kinder in Deutschland sind heute von Armut bedroht – auch im europäischen Vergleich ein hoher Wert.

Ungleichheit von Einkommen, Löhnen und Vermögen

Letztlich geht es bei den Diskussionen zwischen uns WissenschaftlerInnen nicht bloß um Zahlen und Statistiken. Wir alle teilen die gleichen Datengrundlagen, zum Beispiel das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) am DIW Berlin, eine repräsentative jährliche Umfrage von fast 30.000 Menschen in Deutschland. Die Widersprüche zwischen ForscherInnen liegen vor allem in der Auslegung und in der Interpretation dieser Zahlen und Fakten.

Um die Frage zu beantworten, wie sich die Ungleichheit über die Zeit verändert hat, ist immer eine Referenzgröße, ein Vergleichsjahr notwendig. WissenschaftlerInnen, die die Diskussionen der Ungleichheit für überzogen halten, beziehen sich gerne in diesem Zusammenhang auf das Jahr 2005 und halten fest: Seit 2005 hat die Ungleichheit von Einkommen, Löhnen und Vermögen nicht systematisch zugenommen (nach einigen Kennzahlen sogar leicht abgenommen, nach anderen nur leicht zugenommen).

Ein Vergleich ist aber dann am informativsten, wenn er zwei Größen gegenüberstellt, die auch vergleichbar sind. Im große Krisenjahr 2005 waren mehr als fünf Millionen Menschen arbeitslos, die Wirtschaftskrise wütete und die Einkommensungleichheit erreichte ihren historischen Höhepunkt. Es ist also zweifelhaft, wieso ausgerechnet dieses Jahr 2005 ein relevantes Vergleichsjahr zu heute sein soll, also zu Zeiten des Wirtschaftsbooms und des gesamtwirtschaftlichen Wohlstands. Ein Vergleich zum Anfang der 2000er Jahre oder Ende der 1990er Jahre, die wirtschaftlich gesehen der heutigen Zeit ähnlicher sind, zeigt meist einen deutlichen Anstieg der Ungleichheit.

Eine andere Quelle für unterschiedliche Ergebnisse und Interpretationen ist die Frage, welche gesellschaftlichen Gruppen man zu solchen Vergleichen und Einschätzungen heranzieht. Ist es sinnvoll, zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund zu unterscheiden? Sollen Arbeitslose und Inaktive in die Vergleiche mit einbezogen werden? All dies sind schwierige Fragen, die aber häufig entscheidend für die Befunde sind.

Der dritte und vielleicht wichtigste Streitpunkt zwischen uns WissenschaftlerInnen ist die Interpretation. Die KritikerInnen der Ungleichheitsdebatte argumentieren, die Einkommensungleichheit sei seit 2005 in Deutschland nicht systematisch weiter gestiegen. Selbst wenn man das Krisenjahr 2005 als Vergleichsjahr akzeptiert: Soll dies wirklich als Erfolg gefeiert werden? Ist es nicht eher ein Scheitern, wenn trotz Wirtschaftsbooms, Halbierung der Arbeitslosenquote und guten Wirtschaftswachstums die Einkommensungleichheit auf ihren historischen Höhepunkt von 2005 verharrt?

Um all diese Fragen sollen wir uns streiten – sachlich und mit gegenseitigem Respekt. Denn die Verteilungsfragen bei Einkommen, Löhnen, Bildung, Rente, Steuern, Erbe und Lebenschancen werden auch in den kommenden Jahren das zentrale und bestimmende Thema des politischen Diskurses in Deutschland sein.

Themen: Ungleichheit

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