DIW Wochenbericht 44 / 2020, S. 829-835
Shan Huang, Martin Salm
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„Jede Reform der Regulierung von privaten Krankenversicherungen muss ein breites Spektrum möglicher Konsequenzen bedenken. Dies betrifft vor allem das Risiko, dass in der gesetzlichen Versicherung zunehmend Personen mit hohen Gesundheitskosten verbleiben könnten.“ Shan Huang
Gesetzliche und private Krankenversicherungen in Deutschland unterscheiden sich in ihrer Beitragsgrundlage. Im Gegensatz zu den gesetzlichen Krankenkassen sind die Preise bei privaten Versicherern von individuellen Risikofaktoren der zu versichernden Person abhängig. Vor der sogenannten Unisex-Regelung 2013 waren private Krankenversicherungstarife für Frauen im Schnitt höher als für Männer. Nach der Unisex-Regelung entfiel das Geschlecht als Faktor für die Beitragsberechnung in der privaten Krankenversicherung. Auf Basis von Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) zeigt dieser Wochenbericht, dass die Unisex-Regelung die Wechselraten vom gesetzlichen in das private System von Frauen und Männern angenähert hat. Besonders ausgeprägt ist dieser Effekt bei Selbstständigen und geringfügig Beschäftigten, die verglichen mit Angestellten sowie Beamtinnen und Beamten weniger Beschränkungen bei der Wahl zwischen privater und gesetzlicher Versicherung unterliegen. Interpretiert man die Änderung im Wechselverhalten als eine Reaktion auf geänderte Beiträge, so legen die Ergebnisse nahe, dass Versicherte auf Auswirkungen von regulatorischen Rahmenbedingungen reagieren. Die Politik muss hierbei auf Nebenwirkungen achten. Dies betrifft auch mögliche Effekte auf die Zusammensetzung der Versicherten. So könnten etwa Maßnahmen wie die Unisex-Regelung bewirken, dass Personen mit niedrigen erwarteten Gesundheitskosten seltener aus der gesetzlichen Krankenversicherung austreten.
Eine der wichtigsten Bestimmungsfaktoren für den Preis für private Krankenversicherungsverträge war in der Vergangenheit das Geschlecht der zu versichernden Person. Für Frauen liegen die durchschnittlichen Gesundheitsausgaben der Versicherer höher als für Männer, unter anderem weil sie im Schnitt häufiger die Gesundheitsversorgung nutzen.Dieser Bericht basiert auf der wissenschaftlichen Veröffentlichung Shan Huang und Martin Salm (2020): The Effect of a Ban on Gender-Based Pricing on Risk Selection in the German Health Insurance Market. Health Economics 29 (1), 3–17 (online verfügbar, abgerufen am 12. Oktober 2020. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt.). Im Anhang des wissenschaftlichen Papiers wird mit aggregierten Daten der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) und des Bundesversicherungsamtes (BVA, ab 2020 Bundesamt für Soziale Sicherung, BAS) gezeigt, dass sowohl in der gesetzlichen als auch in der privaten Krankenversicherung die durchschnittlichen Versicherungsausgaben für Frauen höher sind als für Männer. Dies gilt auch, wenn sozio-ökonomische Faktoren herausgerechnet werden. Zudem können Versicherer das Geschlecht leicht ermitteln, im Gegensatz zu komplexeren Informationen wie der Krankheitsgeschichte. Daher waren Tarife für Frauen üblicherweise teurer als für Männer. Das Geschlecht war hingegen noch nie ein Preiskriterium bei den gesetzlichen Krankenkassen.
Im Jahr 2004 verabschiedete der Europäische Rat die Richtlinie zur Gleichbehandlung von Frauen und Männern beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen (2004/113/EG).Richtlinie 2004/113/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen. Amtsblatt der Europäischen Union L 373/37 (online verfügbar). Die Richtlinie hatte zum Ziel, geschlechtsspezifische Diskriminierung bei Verbraucherinnen und Verbrauchern zu verhindern. Von der Richtlinie waren Versicherungsanbieter zunächst ausgenommen. Der Europäische Gerichtshof entschied im März 2011 jedoch, dass die Richtlinie auch für Versicherungen gilt und legte den 21. Dezember 2012 als Stichtag für die Umsetzung der Unisex-Regelung fest. Durch die Unisex-Regelung darf das Geschlecht nicht mehr als Tarifkriterium für Neuverträge in der privaten Krankenversicherung berücksichtigt werden. Hinsichtlich des Geschlechts als Bestimmungsfaktor für den Preis führte die Unisex-Regelung somit zu einer Angleichung des privaten und des gesetzlichen Krankenversicherungssystems in Deutschland.
Eine mögliche Risikosegmentierung im deutschen Gesundheitssystem zwischen Versicherten des gesetzlichen und des privaten Sektors steht regelmäßig im Zentrum öffentlicher Diskussionen.Vgl. Z. B. Zeit Online (2020): Abschaffung der Privatkassen würde Versicherte entlasten. Ausgabe vom 17. Februar 2020 (online verfügbar). Bei einer solchen Segmentierung sind Menschen mit niedrigeren erwarteten Gesundheitsausgaben eher privat versichert, weil private Krankenversicherungen ihnen günstige Prämien anbieten. Menschen mit höheren erwarteten Gesundheitsausgaben sammeln sich hingegen eher in der gesetzlichen Krankenversicherung, weil für sie die Prämien im privaten System hoch wären und die gesetzliche Versicherung ihre Beiträge nicht nach den erwarteten Gesundheitsausgaben richten kann. Eine solche zunehmende Risikosegmentierung würde das gesetzliche Versicherungssystem belasten, indem immer höhere Beiträge nötig würden, um die steigenden Gesundheitsausgaben zu decken.Vgl. David M. Cutler und Richard J. Zeckhauser (2000): The Anatomy of Health Insurance. In: Anthony J. Culyer und Joseph P. Newhouse (Hrsg.): Handbook of Health Economics (Vol. 1A). Amsterdam, 563–643 (online verfügbar. Bisherige Studien kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen, inwieweit diese Risikosegmentierung in konkreten Fällen zum Tragen kommt, siehe zum Beispiel Christian Bünnings und Harald Tauchmann (2015): Who Opts Out of the Statutory Health Insurance? A Discrete Time Hazard Model for Germany. Health Economics 24 (10), 1331–1347 (); Martina Grunow und Robert Nuscheler (2014): Public and Private Health Insurance in Germany: The Ignored Risk Selection Problem. Health Economics 23 (6), 670–687 (); Maria Polyakova (2016): Risk Selection and Heterogeneous Preferences in Health Insurance Markets With a Public Option. Journal of Health Economics 49, 153–168 ().
Vor diesem Hintergrund analysiert dieser Bericht anhand von Daten von deutschen Versicherten und des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) vor und nach der Unisex-Regelung das Wechselverhalten von Männern und Frauen zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung. Neben der Analyse, wie Versicherte auf konkrete Änderungen in der Bepreisungsgrundlage reagieren, ist dies insbesondere mit Hinblick auf eine mögliche Risikosegmentierung von Interesse.
Der Großteil der Bevölkerung Deutschlands ist in gesetzlichen Krankenkassen versichert. Für gesetzliche Krankenkassen besteht keine Möglichkeit, gezielt Anträge von Personen mit höherem Krankheitsrisiko und damit für die Versicherung verbundenen höheren erwarteten Kosten abzulehnen. Zudem wird für die Berechnung der Versicherungsbeiträge nicht das individuelle Risiko berücksichtigt, sondern das Bruttoeinkommen und der Beschäftigungsstatus.
Zehn Prozent der Bevölkerung verfügen allerdings über eine private Krankenvollversicherung.Vgl. Verband der Ersatzkassen (Hrsg.) (2020): vdek-Basisdaten des Gesundheitswesens 2020. Berlin (online verfügbar). Bei privaten Krankenversicherungen bestimmt das individuelle Krankheitsrisiko die Beitragshöhe eines gegebenen Tarifs. Vor einer Mitgliedschaft werden potenzielle Versicherte nach ihrer Krankheitshistorie und Vorerkrankungen gefragt, infolgedessen Bewerberinnen und Bewerber auch abgelehnt werden können. Das Risiko von bereits versicherten Mitgliedern kann allerdings nur erneut bewertet und Preise neu gesetzt werden, wenn Versicherte einen Tarifwechsel beantragen. Tarife innerhalb und zwischen privaten Versicherungen können sich hinsichtlich monatlicher Prämienhöhe, Selbstbeteiligung oder Versicherungsleistung erheblich unterscheiden.
Der Wechsel aus einer gesetzlichen in eine private Krankenversicherung ist nur unter bestimmten Umständen erlaubt. Ein solcher Wechsel ist möglich für Selbstständige, Beamtinnen und Beamte, geringfügig Beschäftigte, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einem Einkommen oberhalb der allgemeinen Versicherungspflichtgrenze und sonstige von der gesetzlichen Versicherungspflicht befreite Personen ohne eigenes Einkommen.Im Jahr 2017 setzte eine geringfügige Beschäftigung ein Einkommen unter 450 Euro im Monat voraus. Die allgemeine Versicherungspflichtgrenze lag 2017 bei einem Bruttojahreseinkommen von 57600 Euro. Für privat versicherte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gilt die besondere Versicherungspflichtgrenze, bei deren Unterschreitung eine gesetzliche Versicherungspflicht besteht. Im Jahr 2017 lag die besondere Versicherungspflichtgrenze bei 52200 Euro. Der Wechsel aus einer privaten in eine gesetzliche Krankenversicherung ist verpflichtend für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die jünger als 55 Jahre sind und die ein Einkommen unterhalb der besonderen Versicherungspflichtgrenze beziehen. In sonstigen Fällen ist ein solcher Wechsel nicht möglich.
Sowohl in der privaten als auch in der gesetzlichen Krankenversicherung ist die Erwerbstätigengruppe entscheidend für die Aufteilung der Versicherungsbeiträge. Während die monatlich zu leistenden Versicherungsprämien zwischen ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen aufgeteilt werden, erhalten privat versicherte Berufsbeamtinnen und -beamte geschlechtsunabhängige Beihilfezuschüsse zu geleisteten Zahlungen, die in der gesetzlichen Krankenversicherung in der Regel nicht anfallen. Selbstständige, geringfügig Beschäftigte und weitere von der gesetzlichen Versicherungspflicht befreite Personen erbringen die Zahlungen vollständig selbst. Durch diese Unterschiede ist beispielsweise für Beamte die private Krankenversicherung finanziell besonders attraktiv.
Bezüglich möglicher Unterschiede hinsichtlich der Leistungen weisen mehrere Studien auf eine bevorzugte ärztliche Behandlung von privat versicherten Patientinnen und Patienten hin,Siehe zum Beispiel Markus Lungen et al. (2008): Waiting Times for Elective Treatments According To Insurance Status: A Randomized Empirical Study in Germany. International Journal for Equity in Health 7 (1), 1–7 (online verfügbar); Anna Werbeck, Ansgar Wübker und Nicolas R. Ziebarth (2020): Cream Skimming by Health Care Providers and Inequality in Health Care Access: Evidence From a Randomized Field Experiment. IZA Discussion Paper Nr. 13100 (online verfügbar). für die höhere Gebühren als für gesetzlich Versicherte berechnet werden können. Diese Anreize können allerdings auch zu einer Überbehandlung privat versicherter Patientinnen und Patienten führen.Hendrik Jürges (2009): Health Insurance Status and Physician Behavior in Germany. Schmollers Jahrbuch 129 (2), 297–307 (online verfügbar). Insgesamt wird eine Verbesserung des subjektiven Gesundheitszustands bei einem Wechsel in eine private Krankenversicherung beobachtet.Patrick Hullegie und Tobias J. Klein (2010): The Effect of Private Health Insurance on Medical Care Utilization and Self-Assessed Health in Germany. Health Economics 19 (9), 1048–1062 (online verfügbar).
Im Folgenden wird betrachtet, wie sich die Unisex-Regelung auf die Wechselraten zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung von Frauen und Männern auswirkt. Die Wechselrate gibt an, welcher Anteil der gesetzlich Versicherten innerhalb eines Jahres zu einer privaten Krankenversicherung gewechselt ist, und analog andersherum. Für die Analyse werden Daten des Sozio-oekonomischen Panels verwendet (Kasten). Hierbei werden die Wechselentscheidungen zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung für Frauen und Männer vor und nach Einführung der Unisex-Regelung miteinander verglichen.
Das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) ist eine jährliche für Deutschland repräsentative Haushaltsumfrage, in der neben zahlreichen sozio-ökonomischen Faktoren auch der Versichertenstatus und eine subjektive Einschätzung des Gesundheitszustandes abgefragt werden.Weiterführende Informationen zum SOEP finden sich auf www.diw.de/soep und in Jan Goebel et al. (2019): The German Socio-Economic Panel (SOEP). Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 239 (2), 345–360 (online verfügbar). Für diesen Bericht werden Daten des SOEP für die Jahre von 2004 bis 2015 ausgewertet.
Im SOEP lässt sich ein Wechsel der Versicherungsart beobachten, wenn sich die Angabe in einem gegebenen Jahr von der Angabe aus dem darauffolgenden Jahr unterscheidet. Beispielsweise wird angenommen, dass zwischen den Abfragen in den Jahren 2012 und 2013 ein Wechsel von gesetzlicher zu privater Krankenversicherung stattfand, wenn in den SOEP-Daten von 2012 erstmalig eine private Krankenversicherung und bis einschließlich 2012 fortlaufend eine gesetzliche Versicherung angegeben wurde. In diesem Fall wird der Wechsel in den Daten für das Jahr 2012 spezifiziert. Da allerdings der genaue Zeitpunkt des Wechsels unbekannt ist, könnte der tatsächliche Wechsel sowohl vor Umsetzung der Unisex-Regelung im Dezember 2012 als auch danach stattgefunden haben. Dieselbe Unbestimmtheit tritt im Rahmen der Ankündigung der Regelung im März 2011 auf. Ein für das Jahr 2010 spezifizierter Wechsel bedeutet, dass in den Umfragedaten aus dem Jahr 2011 erstmalig eine private Krankenversicherung angegeben wird. Der tatsächliche Wechsel könnte allerdings vor oder nach der Reformankündigung im März stattgefunden haben. Die Analyse fokussiert sich auf daher auf Beobachtungen für die Jahre 2013 bis 2015, in denen die Unisex-Regelung in Kraft war, und Beobachtungen bis einschließlich 2009, bevor sich Effekte durch die Ankündigung der Unisex-Regelung in den Daten widerspiegeln konnten.
Die Analyse beschränkt sich auf Befragte im Alter zwischen 25 und 55 Jahren, für die ein Wechsel im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen möglich ist. Zudem werden Befragte ausgeschlossen, die mehrfach zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung gewechselt sind, für die Daten unvollständig sind oder Versicherungsangaben offensichtlich fehlerhaft sind. Letzteres trifft insbesondere zu, wenn Befragte angeben, privat versichert zu sein, ohne dass die gesetzlichen Bestimmungen zu einer möglichen privaten Krankenversicherung erfüllt sind.
Innerhalb der Gruppe der Frauen ist sowohl der gesamte Anteil an privat Versicherten erheblich geringer als in der Gruppe der Männer (8,2 Prozent gegenüber 16,7 Prozent der Beobachtungen) als auch die Wechselrate von der gesetzlichen in die private Krankenversicherung (im Mittel 0,6 Prozent bei Frauen gegenüber 1,2 Prozent bei Männern, Tabelle). In beiden Versichertengruppen lässt sich auch eine höhere durchschnittliche Anzahl an Arztbesuchen bei der Gruppe der Frauen im Vergleich zur Gruppe der Männer beobachten.
Mittelwerte für ausgewählte Variablen | ||||
---|---|---|---|---|
Gesetzlich Versicherte | Privat Versicherte | |||
Männlich | Weiblich | Männlich | Weiblich | |
Wechselrate von GKV in PKV (in Prozent) | 1,2 | 0,8 | ||
(10,7) | (7,8) | |||
Wechselrate von PKV in GKV (in Prozent) | 3,8 | 4,4 | ||
(19,2) | (20,4) | |||
Anzahl an Arztbesuchen in den vergangenen drei Monaten | 1,8 | 2,4 | 1,5 | 2,5 |
(3,4) | (3,6) | (2,8) | (3,8) | |
Subjektive Bewertung des Gesundheitszustands gut oder sehr gut (in Prozent) | 57,1 | 56,0 | 66,7 | 64,4 |
(49,5) | (49,6) | (47,1) | (47,9) | |
Anzahl der Beobachtungen (Personen-Jahre) | 41664 | 55416 | 8338 | 4914 |
Anmerkungen: Die Abkürzungen GKV und PKV stehen für gesetzliche Krankenversicherung und private Krankenversicherung. Standardabweichung in Klammern.
Quelle: SOEP v32.1 (Wellen 2005–2015); eigene Berechnungen.
Insbesondere werden die Wechselraten ab (einschließlich) 2013 mit den Wechselraten bis (einschließlich) 2009 verglichen. Der Vergleich beschränkt sich auf diese Perioden, weil die Unisex-Regelung zunächst im März 2011 durch ein Urteil des europäischen Gerichtshofs verkündet wurde und erst im Dezember 2012 in Kraft trat. Die Wechselraten in den Jahren zwischen Bekanntgabe des Urteils und Umsetzung der Unisex-Regelung spiegeln möglicherweise Ankündigungseffekte wider. Zudem lässt dieser Bericht einen Wechsel des Tarifs innerhalb der privaten Krankenversicherung außer Acht, weil die Unisex-Regelung nur die Neuverträge der privaten Krankenversicherungen beeinflusst und Wechsel zwischen Tarifen innerhalb einer Versicherung im SOEP nicht beobachtbar sind.
Vergleicht man den Verlauf über die Zeit, so lässt sich erkennen, dass die Wechselrate in die private Krankenversicherung sowohl für Männer als auch für Frauen gesunken ist (Abbildung 1). Vor Ankündigung der Unisex-Tarife verliefen die Wechselraten für Männer und Frauen weitgehend parallel. Allerdings legen die Daten nahe, dass sich nach Einführung der Unisex-Tarife die Wechselrate von Frauen nicht maßgeblich veränderte, wohingegen die Wechselrate von Männern merklich abnahm. Somit verringerte sich die Geschlechterlücke in der Wechselrate nach dem Jahr 2012, und unter den Wechslern in die private Krankenversicherung stieg der Anteil an Frauen im Vergleich zu Männern. Die Entwicklung der Wechselrate aus der privaten in die gesetzliche Krankenversicherung weist dagegen für Männer und Frauen keinen klar erkennbaren Trend auf (Abbildung 2).
Die deskriptiven Statistiken der Wechselraten berücksichtigen allerdings keine weiteren Faktoren wie etwa das Einkommen oder die Gesundheit. Diese können relevant für die individuelle Wechselentscheidung sein und sich zugleich ebenso im Zeitverlauf ändern. Folglich lässt sich die Darstellung der reinen Wechselraten nicht zwangsläufig mit einem ursächlichen Einfluss der Unisex-Tarife erklären.
Die Wechselrate der Versicherten wird daher im Rahmen eines Regressionsmodells in Bezug zur Unisex-Reform gesetzt. Hierbei ist die zentrale erklärende Variable ein Indikator, der den Indikator Weiblich mit dem Indikator nach Unisex-Regelung multipliziert. Diese Variable erfasst den kausalen Effekt der Unisex-Regelung auf die Wechselrate von Frauen. Zusätzlich wird eine Vielzahl sozio-ökonomischer Charakteristika der Versicherten als erklärende Variablen aufgenommen. Insbesondere enthält das Modell neben Variablen zu Beschäftigung, Einkommen, Alter, Nationalität, Wohnsitz in Westdeutschland und Familienzusammensetzung auch den subjektiven Gesundheitszustand und die subjektive Risikobereitschaft als Kontrollvariablen.In alternativen Modellspezifikationen mit einer geringeren Zahl an Kontrollvariablen zeigt sich, dass die Ergebnisse unverändert bleiben. Regressionen mit geschlechtsspezifischen zeitlichen Trends geben keine Hinweise darauf, dass sich bis 2009 die Wechselraten für Frauen von Männern statistisch signifikant unterschieden. Für eine vollständige Liste der Kontrollvariablen und Sensitivitätsanalysen mit geschlechtsspezifischen zeitlichen Trends siehe Huang und Salm (2020), a.a.O. Zudem enthält das Modell eine Variable, die den Indikator für Weiblich mit einem Indikator für die Ankündigungsperiode der Unisex-Regelung multipliziert.
Um einen kausalen Effekt der Unisex-Regelung auf die Wechselraten zu identifizieren, muss insbesondere die Annahme getroffen werden, dass ohne die Umsetzung der Unisex-Regelung die Differenz in den Wechselraten von Frauen und Männern über die Zeit hinweg konstant geblieben wäre. Dabei sind Veränderungen über die Zeit, wie beispielsweise Gesetzesänderungen, solange unproblematisch, wie sie die Entscheidung zu einem Wechsel zwischen beiden Systemen für Frauen und Männer gleichermaßen betreffen. Dass die Annahme einer konstanten Differenz ohne Einführung der Unisex-Regelung plausibel ist, zeigt die ähnliche Entwicklung der Wechselraten von gesetzlicher in die private Krankenversicherung für Männer und Frauen bis 2009 (Abbildung 1). Bis zum Jahr 2009 lassen sich keine unterschiedlichen Zeittrends zwischen Männern und Frauen beobachten. Die konstante Differenz in diesem Zeitraum legt nahe, dass auch im Zeitraum nach Einführung der Unisex-Regelung die Differenz in den Wechselraten von gesetzlicher in die private Krankenversicherung konstant geblieben wäre, falls es die Unisex-Regelung nicht gegeben hätte. Die Entwicklung der Wechselrate aus der privaten in die gesetzliche Krankenversicherung verläuft dagegen nicht parallel (Abbildung 2).
Die Ergebnisse der Regressionsanalyse zeigen, dass die Unisex-Regelung die Wechselrate aus der gesetzlichen in die private Krankenversicherung für Frauen im Vergleich zu Männern statistisch signifikant beeinflusste (Tabelle). Unter Berücksichtigung sozio-ökonomischer und gesundheitlicher Faktoren lag die Wechselrate für Frauen vor Ankündigung der Unisex-Regelung 0,7 Prozentpunkte niedriger als für Männer. Nach Umsetzung der Unisex-Regelung verringerte sich die geschlechtsspezifische Differenz um 0,4 Prozentpunkte, also um mehr als die Hälfte. Dieser Effekt kann sich aus einer geringeren Wechselwahrscheinlichkeit für Männer und einer höheren Wechselwahrscheinlichkeit für Frauen zusammensetzen. Im Rahmen dieser Studie lässt sich die relative Bedeutung dieser zwei Effekte nicht ermitteln.
Regressionskoeffizienten
Wechsel GKV zu PKV | Wechsel PKV zu GKV | |
---|---|---|
Weiblich, nach Unisex-Regelung | 0,004*** | –0,011 |
(0,001) | (0,009) | |
Weiblich | –0,007*** | 0,008 |
(0,001) | (0,005) | |
Verbeamtet | 0,205*** | –0,157 |
(0,022) | (0,112) | |
Selbstständig | 0,017* | –0,119 |
(0,009) | (0,112) | |
Geringfügig beschäftigt | –0,021*** | 0,012 |
(0,007) | (0,036) | |
Kontrollvariablen | ||
Konstante und Kalenderjahr | ja | ja |
Sozio-ökonomische Kontrollvariablen | ja | ja |
Subjektiver Gesundheitszustand | ja | ja |
Subjektive Risikobereitschaft | ja | ja |
Kontrollvariablen für den Wechsel in die PKV | ja | nein |
Weiblich, Ankündigungsphase der Unisex-Regelung | ja | ja |
N (Personen-Jahre) | 96594 | 13002 |
Anmerkung: Schätzung nach Methode der kleinsten Quadrate (OLS). Robuste Standardfehler, geclustert auf Personenebene, in Klammern. Statistische Signifikanzniveaus: * p<0,10, ** p<0,05, *** p<0,01. Die Kontrollvariablen erfassen unter anderem Beschäftigung, Einkommen, Alter, Familienzusammensetzung, den subjektiven Gesundheitszustand, freiwillige Mitgliedschaft in der GKV, Zeiteffekte und Ankündigungseffekte der Unisex-Regelung. Eine vollständige Beschreibung der Kontrollvariablen findet sich in Huang und Salm (2020), a.a.O.
Lesehilfe: Die Wahrscheinlichkeit aus der GKV in die PKV zu wechseln liegt für Frauen um 0,7 Prozentpunkte niedriger als für Männer (Effekt der Variable Weiblich). Dieser Unterschied verringert sich um 0,4 Prozentpunkte nachdem die Unisex-Regelung eingeführt wurde (Effekt der Variable Weiblich, nach Unisex-Regelung).
Quelle: SOEP v32.1 (Wellen 2005–2015); eigene Berechnungen.
Die Unisex-Regelung hatte dagegen keinen statistisch signifikanten Effekt auf die geschlechtsspezifische Differenz in den Wechselraten aus der privaten in die gesetzliche Krankenversicherung (Tabelle). Die Regelung hat also nicht dazu geführt, dass Frauen im Vergleich zu Männern nach Einführung der Unisex-Regelung eher in der privaten Krankenversicherung verbleiben. Das Fehlen beobachtbarer Änderungen durch die Unisex-Regelung könnte damit erklärt werden, dass restriktive Regeln einen freiwilligen Wechsel aus der privaten in die gesetzliche Krankenversicherung verhindern, zum Beispiel aufgrund gestiegener Beiträge.
Bei einer Betrachtung von Teilgruppen zeigt sich, dass sich der Effekt der Unisex-Regelung nach Erwerbstätigengruppen unterscheidet. Für Selbstständige und geringfügig Beschäftigte glich die Unisex-Regelung die geschlechtsspezifischen Unterschiede mehr als vollständig aus (Abbildung 3). Für Angestellte lässt sich ein schwächerer Effekt beobachten. Für die Gruppe der Beamtinnen und Beamten lässt sich dagegen kein Effekt feststellen. Allerdings ist, im Vergleich zu den anderen Teilgruppen, die Fallzahl gesetzlich versicherter Beamtinnen und Beamten niedriger und damit die statistische Unsicherheit höher.
Die Heterogenität zwischen Erwerbstätigengruppen lässt sich durch Unterschiede im regulatorischen Rahmen erklären. Für die Gruppe der Beamtinnen und Beamten fiel eine private Krankenversicherung schon immer meistens finanziell günstiger aus, sodass sie unter Umständen weniger von einer Änderung in den finanziellen Anreizen durch die Unisex-Regelung betroffen sind. Angestellte sind durch die Einkommensregelung in der Wahl ihrer Versicherungsart eingeschränkt. Diese regulatorischen Unterschiede nach Erwerbstätigengruppen könnten die unterschiedlichen teilgruppenspezifischen Effekte herbeiführen.
Mit der Unisex-Regelung entfielen geschlechtsspezifische Preisunterschiede in der privaten Krankenversicherung. Die Unisex-Regelung führte so zu einer Annäherung der Wechselraten aus der gesetzlichen in die private Krankenversicherung von Frauen und Männern. Insbesondere änderte sich die Wechselrate von Frauen kaum, wohingegen die von Männern deutlich absank. Zudem unterscheidet sich das Ausmaß dieses Effekts nach Erwerbstätigengruppen, die unterschiedlichen Regeln unterliegen.
Die Befunde zeigen, dass eine Änderung der Rahmenbedingungen einen messbaren Effekt auf die Zusammensetzung der Versicherten im privaten und gesetzlichen Segment hat. Eine naheliegende Interpretation der Änderungen im Wechselverhalten ist eine Reaktion der Versicherten auf geänderte Preise infolge der Unisex-Regelung. Die Regelung bezog sich ausschließlich auf private Krankenversicherungen und hatte nie das ausdrückliche Ziel, die Wahl zwischen privatem und gesetzlichem Sektor zu beeinflussen. Dennoch können Gesetzesänderungen wie die Unisex-Regelung, welche die Beitragsgrundlage in der privaten Krankenversicherung verändern, sich auch auf die Attraktivität der gesetzlichen Krankenversicherung für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen auswirken. Die unterschiedlich starken Auswirkungen nach Berufsstellung zeigen zudem, dass Regelungen wie die Aufteilung von Prämienbeiträgen zwischen ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen einen erheblichen Einfluss auf das Wechselverhalten zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung haben.
Über die Unisex-Regelung hinaus legen die Ergebnisse dieses Berichts nahe, dass Unterschiede in der Berechnung von Versicherungsprämien zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung auch zu einer Risikosegmentierung führen können. Dies bedeutet, dass sich vor allem eher gesunde Versicherte in der privaten Krankenversicherung wiederfinden und Versicherte mit höheren Gesundheitsrisiken, und in der Erwartung auch höheren Gesundheitskosten, in der gesetzlichen. Allerdings kann mit der gegebenen Datenbasis keine direkte Aussage getroffen werden, in welchem Ausmaß die Unisex-Regelung Änderungen der Risiko- und erwarteten Kostenzusammensetzung innerhalb der beiden Versicherungssysteme herbeigeführt hat. Für eine solche Analyse wären neben Informationen zum Versicherungsstatus auch Daten zu Gesundheitsausgaben von WechslerInnen notwendig. Gesundheitsdaten von gesetzlich und privat Krankenversicherten werden in Deutschland jedoch nicht zentral verknüpft. Im Rahmen dieses Wochenberichts können allerdings anhand des Wechselverhaltens zumindest indirekte Hinweise auf eine veränderte Zusammenstellung des Risikopools ermittelt werden.
Behält der Gesetzesgeber ein duales Krankenversicherungsmodell bei, muss auf die Finanzierbarkeit beider Systeme geachtet werden. Insbesondere darf es nicht zu einer zu hohen Belastung der gesetzlichen Krankenkassen kommen, indem ein Austritt aus dem gesetzlichen System für Personen mit geringen Gesundheitsausgaben zunehmend attraktiver wird. Einschränkungen im Wechsel zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung bilden dabei einen Rahmen. Allerdings können auch Gesetzesänderungen wie die Unisex-Regelung in der privaten Krankenversicherung die Versicherungswahl von PatientInnen entlang erwarteter Gesundheitsausgaben beeinflussen. Bei solchen Maßnahmen müssen unbeabsichtigte Auswirkungen auf die Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen bedacht werden.
Themen: Gesundheit, Gender
JEL-Classification: I13;D82;H51
Keywords: public and private health insurance, risk selection, unisex mandate
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2020-44-1
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/226762