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Ein Digitalpakt für Kitas ist überfällig

Medienbeitrag vom 21. Dezember 2020

Wie die Corona-Pandemie und ihre Begleiterscheinungen gesellschaftliche Phänomene sichtbarer machen, wird gerne mit dem Bild eines Brennglases beschrieben. Die Pandemie ist demnach auch eine ”Sehhilfe”. Sie macht deutlich, dass die Bedeutung der frühen Bildung in Deutschland nicht hinreichend erkannt ist. Das gilt insbesondere für die Bedeutung der frühen Bildung, die in Kindertageseinrichtungen und der öffentlich finanzierten Kindertagespflege stattfindet. Diese ist ein zentrales Feld der Familienpolitik im engeren Sinne, aber auch der Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Integrationspolitik. Trotzdem wird sie noch immer etwas stiefmütterlich behandelt und häufig nur sehr einseitig betrachtet, nicht nur in punkto Digitalisierung. Aber nun der Reihe nach.

Die flächendeckenden Schließungen von Kindertageseinrichtungen während des ersten Lockdowns dieses Jahres haben deutlich gemacht, wie wichtig die Betreuung ist, die in diesen Einrichtungen geleistet wird. Der Wegfall dieser Funktion wurde auch im weiteren Verlauf der Pandemie immer wieder beklagt, etwa bei Schließungen von einzelnen Einrichtungen oder von Kita-Gruppen sowie von vielfachen Quarantäneanordnungen für Familien mit Kita-Kindern. Auch der jetzige Lockdown wird dies deutlich machen: Die Schließung von Kindertageseinrichtungen stellt Familien vor große Betreuungsprobleme.

Natürlich sind auch Familien mit Schulkindern von den Einschränkungen betroffen, vor allem solche, die sonst ganztägige Schulangebote nutzen. Dieser Befund kam häufig etwas zu kurz. Insgesamt aber waren von den insgesamt 5,1 Millionen Paaren mit Kindern unter zwölf Jahren wohl besonders gravierend diejenigen Familien betroffen, in denen beide Eltern erwerbstätig sind. Das sind etwa zwei Drittel. Schwierig ist auch die Lage jener zwei Drittel der etwa 900 000 Alleinerziehenden mit Kindern unter zwölf Jahren, die einer Vollzeit- oder Teilzeiterwerbstätig nachgehen.

Nachdem am Anfang die Betreuungsprobleme der Familien kaum beachtet wurden, hat sich der Blick allmählich gewandelt: Vielfach berichten die Medien inzwischen von überforderten Familien, die wegen des eingeschränktem Kita- und Schulbetriebs oder gar wegen der Schließung ganzer Einrichtungen gezwungen sind, ihre Kinder ganztags zu versorgen und ”nebenher” zu arbeiten. Für einige gab es zwar eine Notbetreuung, bei anderen wurden trotz des erhöhten Gesundheitsrisikos die Großeltern aktiv. So zeigt zum Beispiel die Studie ”Kindsein in Zeiten von Corona”, dass während des ersten Lockdowns immerhin jedes fünfte Kind im Kindergartenalter von den Großeltern betreut wurde. Auch die Daten der SOEP-CoV-Studie zeigen, dass die Großeltern entgegen aller epidemiologischen Empfehlungen für die Notbetreuung zur Verfügung standen - ein wichtiger Indikator für die schwierige Betreuungssituation von Familien in Corona-Zeiten.

Es überrascht daher auch nicht, dass viele empirische Studien zu dem Ergebnis kommen, dass das Wohlbefinden von Eltern durch die Corona-bedingten Maßnahmen stark beeinträchtigt wurde. Einschlägige empirische Untersuchungen des DIW Berlin zeigen, dass die Zufriedenheit mit dem Leben im Allgemeinen, aber auch mit dem Familienleben und insbesondere der Kinderbetreuung signifikant zurückgegangen sind. Bei Eltern von jungen Kindern im Kita-Alter war dieser Rückgang besonders ausgeprägt. Außerdem war insbesondere das Wohlbefinden von Müttern im Frühsommer stark beeinträchtigt. Erste Betrachtungen jüngerer Zahlen legen nahe, dass die Zufriedenheit mit der Kinderbetreuung während des zweiten ”Lockdown-Light” im November deutlich höher lag als im Frühjahr - denn diesmal blieben Kitas und Schulen weitestgehend geöffnet. Ohne Frage steht also fest, dass Kitas elementar dafür sind, dass Eltern ihren Beruf und das Familienleben vereinbaren können, ohne ihr Wohlbefinden dabei nachhaltig zu beeinträchtigen. Und dieses Wohlbefinden ist nicht nur für die Individuen selbst wichtig, sondern auch für die Kinder - auch dies belegen empirische Studien.

Festzuhalten ist aber auch, dass die Schließung von Kitas und Schulen im Frühjahr 2020 notwendig war, um das Infektionsgeschehen vor dem Hintergrund der damaligen Faktenlage und wissenschaftlichen Erkenntnisse einzudämmen. Über den Verlauf der Pandemie hinweg wurde jedoch immer mehr Wissen über das Infektionsgeschehen bei Kindern und deren Ansteckungsrisiko gesammelt - aber eben auch mehr Wissen über das Ansteckungsrisiko derer, die in Kindertagereinrichtungen beschäftigt sind, sowie deren Familien. Die Politiker müssen all dieses Wissen in ihre Überlegungen einbeziehen.

Dieser Beitrag erschien erstmals am 19. Dezember 2020 in der Franfurter Allgemeinen Zeitung.

Eltern bei Kita- und Schulschließungen zielgerichtet unterstützen

Würden die Kita-Winter-Ferien nun um eine Woche verlängert und kämen in Abhängigkeit von dem regionalen Pandemiegeschehen weitere Schließungen hinzu, so ist dies aus virologischer Perspektive sinnvoll. Die nach wie vor hohen Infektionszahlen lassen wohl keinen Spielraum zu. Was die Betreuung angeht, so benötigen aus familienwissenschaftlicher Perspektive dann aber viele Alleinerziehende und Familien, in denen beide Partner erwerbstätig sind, Unterstützung. Im Sommer dieses Jahres hätten Kommunen und freie Träger eigentlich Zeit gehabt sich, zielgerichtete und bedarfsgerechte Unterstützungsangebote vorzubereiten. Ein Kinderbonus für alle, der wenig bedarfsorientiert viel Geld an Familien verteilt, nützt in diesem Zusammenhang nichts.

Beispielsweise könnte eine längst überfällige Unterstützung durch eine nochmalige Anpassung des Infektionsschutzgesetzes erfolgen. Derzeit haben Eltern, die pandemiebedingt ihre Kinder betreuen müssen und deshalb nicht erwerbstätig sein können, Anspruch auf eine entsprechende Entschädigung. Allerdings, man mag es kaum glauben, erlischt dieser Anspruch, wenn die Arbeit aus dem Homeoffice bzw. ”ortsflexibel” möglich ist! Diese Einschränkung wurde auch während der Corona-Pandemie noch nicht angepasst. Das ist aus zweierlei Hinsicht problematisch. Denn entweder offenbart dieser Passus ein tiefes Missverständnis über den Aufwand, jüngere Kinder kindgerecht zu betreuen, oder aber die Regelung verkennt, dass Arbeit aus dem Homeoffice auch vollwertig ausgeführt werden muss. Doch gleich was im Hintergrund dieser Einschränkung stehen mag: eine Eliminierung der Homeoffice-Einschränkung aus dem Infektionsschutzgesetz ist überfällig.

Kurzfristig soll - so die neusten Nachrichten - ein Zusatzurlaub für Eltern kommen. Darüber hinaus müssen künftig aber auch die erwerbstätigen Eltern Unterstützung erhalten, die wegen eines kranken Kindes oder einer Quarantäne, die ihrem Kind verordnet wurde, zu Hause bleiben müssen. Es muss für sie darum gehen, dass die Ausweitung des Kinderkrankengeldes auf nunmehr 30 Tage, die im August für 2020 beschlossen wurde, auch in 2021 beibehalten wird.

Kitas sind Bildungseinrichtungen mit nachhaltiger Bedeutung

All diese Überlegungen beziehen sich aber zunächst nur auf die Betreuungsfunktion von Kindertageseinrichtungen. Nur vereinzelt findet sich in der Debatte der Hinweis, dass pädagogische Fachkräfte in den Kitas mehr leisten als ”nur” betreuen. Kitas sind wichtige Bildungseinrichtungen. Und genauso wie Eltern nur ein unvollständiger Ersatz für Lehrkräfte an Schulen sein können, genauso ersetzen sie auch frühpädagogische Fachkräfte nicht vollständig. Dass aber die Fachkräfte selbst in der öffentlichen Diskussion kaum vorkommen und auch selbst nicht noch deutlicher auf die Bedeutung ihrer Arbeit hingewiesen haben, ist vielleicht auch ein Spiegel dessen, dass Kitas nach wie vor nicht als Bildungseinrichtungen wahrgenommen werden, die so wichtig wie die Schulen sind.

Hinzu kommt, dass für junge Kinder ein häufiger Wechsel im betreuenden und erziehenden Umfeld viel belastender ist als für ältere Kinder. Häufen sich solche Situationen, können sie die Persönlichkeitsentwicklung nachhaltig beeinflussen. Aus dieser Perspektive ist es sinnvoll und richtig, dass eine längere flächendeckende Kita-Schließung derzeit nicht vorgesehen ist und auch von Fachleuten nicht empfohlen wird. Kurzfristig und regional begrenzt werden sie aber unausweichlich sein. Beim Wiederhochfahren des gesellschaftlichen Lebens nach einem harten Lockdown sollte ihre Öffnung aber diesmal Priorität erfahren.

Da Kitas eben auch Bildungseinrichtungen mit einem Erziehungs- und Sozialisationsauftrag sind, muss man sich auch über Kontakte und Bildung im Distanzbetrieb Gedanken machen - und das so selbstverständlich, wie dies auch bei Grundschulen geschieht. Förderung im Distanzmodus oder in Hybridmodellen gerät bei Kindertageseinrichtungen jedoch nach wie vor aus dem Blick. Dies ist überdies um so nachteiliger, als empirische Studien längst gezeigt haben, dass insbesondere Kinder aus bildungsbenachteiligten Gruppen und Kinder mit Flucht- und Migrationshintergrund von einer qualitativ guten frühen Bildung in Kitas profitieren. Für sie ist beispielsweise eine Sprachförderung in diesen Einrichtungen von immenser Bedeutung. Auch im sozio-emotionalen Bereich ist die Förderung in Kitas für die Entwicklung von Kindern elementar. Wenn all dies ausgesetzt wird, können daraus nicht nur Nachteile im Übergang auf die Grundschule entstehen. Auch aus einer mittel- bis langfristigen Perspektive unterbleiben Förderungen, welche in monetärer und auch nicht-monetärer Hinsicht hohe private und gesellschaftliche Renditen erwarten lassen. Darauf kann man auch in Pandemiezeiten nicht oft genug hinweisen.

Kitas leisten auch einen Integrationsbeitrag

Kitas sind aber noch mehr als Betreuungs- und Bildungseinrichtungen. Aus familienwissenschaftlicher Perspektive leisten sie auch wichtige Elternarbeit. Oft sind sie Integrationsorte, an denen sich Eltern niederschwellig begegnen können. Kitas können so dazu beitragen, dass Familien, die nach Deutschland migriert oder geflüchtet sind, besser integriert werden. Finden diese Familien in der Kita keinen Ort mehr, wo sie sich sowohl untereinander als auch mit Familien der Mehrheitsgesellschaft treffen können, verlangsamen sich Integrationsprozesse.

Genauso wie in der Schule muss es also auch in den Kindertageseinrichtungen darum gehen, Betreuung, Bildung und Elternarbeit unter Einhaltung des notwendigen Infektionsschutzes bestmöglich zu gewährleisten. Während die entsprechenden Versäumnisse im Schulbereich über den Sommer öffentlich diskutiert werden, blieb eine breite Debatte über die Ertüchtigung der Kitas aus. Dabei gab es nicht nur unter den Schulen, sondern auch unter den Kindertageseinrichtungen vereinzelt solche, die mit vielen guten Ideen aus der Sommerpause zurückkamen. Aber dies sind bislang eben nur Einzelfälle. Es fehlen Konzepte für die gesamte Bundesrepublik.

Es fehlt eine zentrale Plattform für Kitas

Um so wichtiger wäre es nun, eine bundesweite qualitätsgeprüfte Plattform aufzubauen, auf der Pädagogen für Familien Informationen und Förderimpulse bereitstellen. Dabei sollte es um Ideen für frühe sprachliche Förderung gehen, um Anregungen wie mathematische Vorläuferfähigkeiten von Kindern gefördert werden können, aber auch um musische oder motorische Impulse. Die Plattform, die anders als die Corona-Warn-App von Beginn auch mehrsprachig aufgebaut sein müsste, könnte Familien zu jeder Zeit eine wertvolle Informationsquelle sein. Sie wäre dann besonders nützlich, wenn Familien mit ihren Kindern in Quarantäne sind oder Kitas zeitweise geschlossen sind. Auf solchen Plattformen könnten auch Eltern mit Flucht- oder Migrationshintergrund entsprechende Informationen finden, um in besonderen Lebenslagen Unterstützung zu bieten. Voraussetzung für die Wirkung solcher Plattformen ist natürlich deren Nutzung - darauf sollten pädagogische Fachkräfte der Kitas aufmerksam machen und hinwirken, insbesondere bei Eltern, die früher Bildung keine besonders große Bedeutung beimessen.

Digitalisierung sollte auch Kitas einschließen

Wer an solche oder ähnliche digitale Angebote denkt, der muss schnell feststellen, dass es um die digitale Ausstattung der Kitas noch schlechter bestellt ist als die der Schule. Dabei hätte auch der Kita-Bereich im Umgang mit der Pandemie stark von einer digitalen Grundausstattung und von einiger Erfahrung im Einsatz digitaler Medien profitiert. Doch in der Vergangenheit wurde vor solchen Digitalisierungs-Überlegungen im Kita-Bereich sogar gewarnt. Dem liegt wohl ein Missverständnis zugrunde. Natürlich geht es nicht darum, dass Kinder den Kita-Alltag unbegleitet vor Bildschirmen verbringen - sondern zunächst einmal darum, frühzeitig Kompetenzen im Umgang mit digitalen Medien zu erwerben.

Darüber hinaus könnten sich die Kindertageseinrichtungen die zunehmende Digitalisierung der Gesellschaft noch auf ganz andere Weise zu nutzen machen. Ein digitalisiertes Management dürfte den organisatorischen Alltag erheblich erleichtern. Fachkräfte könnten über einfache elektronische Kanäle den Austausch mit Eltern suchen, ohne sich um Datenschutzbelange oder ähnliches zu sorgen oder gar private Geräte nutzen zu müssen. Es sollte alsbald selbstverständlich sein, dass alle Fachkräfte entsprechende Zugänge erhalten.

Kindliches Förderungspotenzial besser messen

Digitale Medien können auch sehr gut dabei helfen, die Dokumentationsaufgaben im Arbeitsalltag von Erzieherinnen und Erziehern zu erfüllen und diese Arbeit auch noch zu erleichtern. Ergänzend können diese Medien dahingehend genutzt werden, dass Entwicklungsschwierigkeiten oder besondere Begabungen von Kindern frühzeitig identifiziert werden. Dieser Ansatz wird schon lange von einigen BildungsforscherInnen gefordert, welche sich mit der frühen Entwicklung von Kindern und dabei insbesondere von solchen mit besonderen Förderbedarfen befassen. In Deutschland werden spezifische Förderbedarfe von Kindern vielfach zu spät diagnostiziert. Allein aus einer bildungsökonomischen Perspektive ist dies fatal. Denn je früher Entwicklungsdefizite, aber auch Talente erkannt werden, umso gezielter kann darauf reagiert werden, indem Kinder in der Entfaltung ihrer individuellen Potentiale zielgerichtet begleiten werden. Erste Modelle einer solchen digital unterstützten Diagnostik werden in anderen Ländern angewendet.

Um all dies gewährleisten zu können, müssen die Kitas nicht nur mit den entsprechenden digitalen Medien ausgestattet werden. Ohne eine hinreichende Qualifizierung der pädagogischen Fachkräfte würden die damit einhergehenden Chancen verschenkt. Daher müssten Aus- und Weiterbildungen angeboten und anerkannt werden. Die Einrichtungen selbst könnten in ihrer Organisationsentwicklung unterstützt werden - und das gerade dann, wenn pädagogische Fachkräfte pandemiebedingt nicht direkt mit den Kindern arbeiten können.

Es ist Zeit für einen Digitalpakt für Kitas

Zwar hat der Bund mit dem 5. Investitionsprogramm ”Kinderbetreuungsfinanzierung” eine Milliarde Euro zusätzlich für den Ausbau der Kitas zur Verfügung gestellt. Dieses Geld kann auch für die Digitalisierung der Einrichtungen ausgegeben werden. Aber die systematische Digitalisierung, wie sie hier skizziert wird, ist ein Großprojekt, das nicht in Konkurrenz zum weiteren Ausbau der Kitas stehen darf. Deshalb sollte sich neben den Ländern und den Kommunen, die primär für die Kindertagesbetreuung zuständig sind, auch der Bund mit zusätzlichen Ressourcen an diesem großen Vorhaben beteiligen. Denn letztlich geht es um eine gute frühkindliche Bildung, auch in Pandemiezeiten. Auf diesem Fundament entwickeln sich aus Kindern die Fachkräfte von morgen. Diese werden es auch sein, die vermutlich noch einen Teil der Schuldenlast abtragen müssen, die heute im öffentlichen Bereich pandemiebedingt gemacht werden. Ist deren Fundament solide, kann ein Schuldenabbau auch über ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum gelingen.

Der Digitalisierungsschub, der langsam in den Schulen ankommt - wenn auch da nur sehr schleppend - sollte also genauso die Kitas erfassen. Auch für sie braucht es einen Digitalpakt! Wenn die Digitalisierung kein elftes Handlungsfeld der deutschen Kita-Politik wird, dann wird das ”Gute-KiTa- Gesetz” mit seinen anderen zehn Handlungsfeldern ein Gesetz sein, das gesellschaftlichen Veränderungen hinterherhinkt. Auch damit sollte sich der von Bundesfamilienministerin Giffey (SPD) eingerichtete Corona-Kita-Rat befassen. Und solche Vorschläge sollten unbedingt in den Bundestagswahlkampf 2021 eingebracht werden.

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