Bedingungsloses Grundeinkommen: Zeit für Experimente! Kommentar

DIW Wochenbericht 10 / 2021, S. 166

Marcel Fratzscher

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Kaum ein Thema wird in Deutschland derzeit so kontrovers diskutiert wie das bedingungslose Grundeinkommen. Die soziale Polarisierung war bereits vor der Pandemie groß und verstärkt sich nun drastisch. Gerade jetzt wächst das Bedürfnis nach einer grundlegenden Reform der sozialen Sicherungssysteme – und die Pandemie gibt uns die Chance, viele Dinge neu zu denken. So könnte die soziale Sicherung nicht nur darauf angelegt sein, existenzielle Löcher zu stopfen, sondern jedem und jeder Einzelnen in unserer Gesellschaft neben einem Minimum an Sicherheit auch mehr Eigenverantwortung zu geben.

Der technologische Wandel und eine stetig voranschreitende Globalisierung werden die soziale Polarisierung weiter beschleunigen. Während die einen von diesem Wandel profitieren werden und ihn klug für sich persönlich nutzen können, werden andere dagegen, vor allem solche mit geringeren Qualifikationen und schlechteren Startchancen, eine wertschätzende Arbeit verlieren und an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Dies ist nicht nur eine in die Zukunft gerichtete Sorge; diese gesellschaftlichen Verschiebungen zeichnen sich seit zwei Jahrzehnten ab und sind für viele verstärkt in der Pandemie Realität geworden. Die US-Präsidentschaft Donald Trumps, der Brexit und der Aufstieg populistischer und rechtsextremer Parteien überall in Europa, auch in Deutschland, sind ein Resultat dieser zunehmenden sozialen Polarisierung.

Angesichts dieser Verwerfungen rufen viele nach einem größeren Sozialstaat, der mehr finanzielle Ressourcen umverteilt, damit aber letztlich die Abgehängten und Chancenlosen nur ruhigstellt. Dies kann keine Lösung sein und war es auch nie. Die Lösung liegt vielmehr in einer grundlegenden Umgestaltung des Sozialstaats, der nicht länger versucht, Menschen ruhig zu stellen oder zu sanktionieren. Erforderlich ist ein Sozialstaat, der jedem Menschen die Chance auf Eigenverantwortung und soziale Teilhabe gibt, der wirkliche Chancengleichheit in allen Bereichen, vom Bildungssystem bis hin zum Arbeitsmarkt, gewährleistet.

Genau dies ist die grundlegende Idee des bedingungslosen Grundeinkommens – die intrinsische Motivation in jedem Einzelnen zu stärken und zu unterstützen, sein eigenes Potenzial zu nutzen und einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten. Viele zweifeln daran, dass das bedingungslose Grundeinkommen der richtige Weg ist, um dieses Ziel zu erreichen. Viele dieser Zweifel sind berechtigt. Einige Menschen werden durch ein Grundeinkommen ihre Arbeit aufgeben und nicht mehr, sondern weniger in ihre Bildung und Qualifizierung investieren. Aber einigen Menschen wird es helfen, eigene Träume und Pläne zu realisieren und sich damit auch verstärkt in die Gesellschaft einzubringen.

Wir wissen nicht, wie und für wen ein bedingungsloses Grundeinkommen funktionieren wird und was es mit den Menschen machen wird. Und deshalb ist es so wichtig und wertvoll, dies durch einen breit angelegten Modellversuch herauszufinden. Genau dies will die privat finanzierte Initiative Mein Grundeinkommen tun, der es im vergangenen Jahr gelungen ist, zwei Millionen Interessierte für einen Feldversuch zum bedingungslosen Grundeinkommen zu rekrutieren. Eine andere Initiative – Expedition Grundeinkommen – versucht, mit Städten, Kommunen und Bundesländern einen eigenen öffentlich finanzierten Modellversuch zu starten. Beide sind extrem wichtige Initiativen, die das DIW Berlin als unabhängiger Partner wissenschaftlich begleiten wird.

Wer glaubt, solche Modellversuche würden ein binäres Resultat produzieren – Grundeinkommen ja oder nein –, der irrt. Das Gegenteil wird der Fall sein: Für viele Menschen wird ein bedingungsloses Grundeinkommen nicht funktionieren, für andere ganz oder teilweise schon. Die Folgen eines Grundeinkommens werden zudem weit über den Arbeitsmarkt hinausreichen. Das bedingungslose Grundeinkommen ist eine der radikalsten Ideen für die Reform der Sozialsysteme und des Gesellschaftsvertrags. Dabei ist es gerade diese Radikalität und Einfachheit, die es Politik und Gesellschaft ermöglichen, klare Erkenntnisse darüber zu gewinnen, welche Elemente der Reformen funktionieren und welche nicht. Und wenn nicht jetzt, wann dann?

Dieser Beitrag ist in einer längeren Version am 26. Februar bei ZEIT Online erschienen.

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