Blog Marcel Fratzscher vom 29. März 2021
Denken in nationalen oder nur europäischen Scheuklappen wird uns bei der Bewältigung der Corona-Pandemie oder der Klimakrise nicht helfen. Im Gegenteil, es rächt sich.
Dieser Text erschien erstmals am 25. März 2021 in der Zeit Online-Kolumne Fratzschers Verteilungsfragen.
Die Empörung in Deutschland ist groß, dass einige wenige Länder deutlich schneller bei den Impfungen vorankommen. Bei dem Anspruchsdenken, immer global führend zu sein, vergessen wir, wie groß die Privilegien sind, die wir genießen – auch in dieser Pandemie und in Bezug auf Impfungen. Dieses nationale Denken macht uns blind für die Realität, dass alle wichtigen Herausforderungen unserer Zeit – von Klimaschutz, über die wirtschaftliche Globalisierung, bis hin zum technologischen Wandel – nur mit starker globaler Solidarität und Kooperation gelöst werden können. Letztlich verschärfen wir mit unserem nationalen Egoismus, der gerade in dieser Pandemie stark zum Vorschein kommt, die globale Polarisierung und machen Lösungen für diese Herausforderung noch schwerer.
Die Corona-Pandemie stellt uns als Gesellschaft wiederholt vor schwierige ethische Fragen, bei denen nicht selten Menschenleben gegeneinander abgewogen werden müssen. Politik und Gesellschaft müssen dabei zwischen verschiedenen Gruppen priorisieren. Dies gilt nicht nur für die Triage in Krankenhäusern, sondern auch bei etlichen Fragen des täglichen Lebens: In welchem Maße soll die Öffnung von Kitas und Schulen Priorität über die Öffnung von Geschäften und Gastronomie haben? Welche Gruppen sollen zuerst geimpft werden, und wer zuletzt? Welche Unternehmen und Beschäftigte sollen durch den Staat, und damit die Gemeinschaft, unterstützt werden?
Diese Entscheidungen werden fast immer innerhalb nationaler Grenzen getroffen. Oder in europäischen Grenzen, wie bei der gemeinsamen europäischen Strategie zu den Impfungen.
Die Impfstoffe sollen einigermaßen gleichmäßig in Europa verteilt werden. Die Solidarität ist also europäisch, oder: die Impfung einer 80-jährigen Rumänin hat die gleiche Priorität wie die einer 80-jährigen Deutschen und eine höhere Priorität als die eines 50-Jährigen. Anhängerinnen und Anhänger eines Impfnationalismus sehen dies anders, auch wenn sie in der Minderheit sind: Der erste Impfstoff sei doch von einem deutschen Unternehmen entwickelt worden, wieso sollte Deutschland da nicht auch bei der Belieferung bevorzugt werden? Auf europäischer Ebene erwägt die EU-Kommission, Exporte von Impfstoffen ins EU-Ausland zu beschränken. Zunächst sollen die Mitgliedstaaten mit ausreichend Vakzinen versorgt werden.
Ausgeblendet wird dabei das Schicksal der Menschen in Afrika und anderen armen Regionen der Welt. Doch die nationalen und sogar die europäischen Scheuklappen sind gefährlich und ungerecht.
Denn es sind vor allem die Menschen in den ärmsten der armen Länder, die der Pandemie besonders schutzlos ausgeliefert sind. Sie haben meist kein gutes Gesundheitssystem und keine starke soziale oder wirtschaftliche Absicherung. Prognosen der Economist Intelligence Unit zeigen, dass Menschen in Afrika im Schnitt ihre Impfungen ein bis zwei Jahre später erhalten werden als die Menschen in Europa oder den USA. Eine 80-jährige Ägypterin läuft also ein bis zwei Jahre länger Gefahr, sich anzustecken und an dem Virus zu sterben, als ein 30-jähriger Deutscher, für den das gesundheitliche Risiko sehr viel geringer ist.
Auch in anderen Fällen ist diese ignorante Haltung gegenüber Entwicklungsländern zu beobachten. So sterben weltweit fast jedes Jahr 600.000 Menschen – meist Kinder in Afrika – an Malaria, und dies schon seit Jahrzehnten. Das ist eine jährlich wiederkehrende menschliche Tragödie fast in der Größenordnung der Corona-Pandemie. Da sie nur Menschen betrifft, die keine Stimme haben und für uns unsichtbar sind, erscheint dies den meisten Europäerinnen und Europäern nicht wichtig genug sind, um diesen Kindern ausreichend Schutz und Hilfe zukommen zu lassen. Beim Wettlauf um einen Impfstoff gegen Covid-19 scheuen hingegen Pharmaunternehmen und Regierungen keine Kosten, weil der wirtschaftliche und politische Nutzen eines solchen Impfstoffes für die Industrieländer enorm ist.
Dabei gäbe es auch beim Kampf gegen Malaria Medikamente und Vorbeugung. Die Kosten dafür sind für uns in Europa verschwindend gering. Wir Deutschen aber leisten nicht die bereits vor langer Zeit freiwillig zugesagte jährliche Entwicklungshilfe von 0,7 Prozent der Wirtschaftsleistung.
Nicht nur in Bezug auf Gesundheit und Impfungen leiden die ärmsten Länder und Menschen stärker als wir. Die eindringliche Warnung der Welternährungsorganisation, Träger des Friedensnobelpreises 2020, vor einer massiven Hungersnot in diesem Jahr fällt bei uns zudem auf taube Ohren. Die Weltbank moniert, dass durch die Pandemie bereits jetzt mehr als 100 Millionen Menschen weltweit wieder in die absolute Armut gerutscht sind. Investoren und Banken haben Kredite aus Entwicklungsländern abgezogen, sodass einigen nun eine Schulden- und Wirtschaftskrise droht. Kurzum, die kommenden fünf Jahre könnten wirtschaftlich, sozial und politisch für viele der Entwicklungsländer katastrophal werden – und mittelfristig auch für uns, denn die Welt wird immer globaler, die Folgen der Krise in den armen Ländern wirken sich am Ende auch negativ auf uns aus.
Aber kaum jemand in Deutschland interessiert dies. Das darf und kann uns schon allein aus moralischen Gründen nicht egal sein. Aber auch nicht aus ökologischen und wirtschaftlichen Gründen. Denn die Pandemie zeigt, dass alle großen Herausforderungen unserer Zeit nicht mehr national, sondern nur gemeinsam global gelöst werden können. So wird die Corona-Pandemie auch nur vorbei sein, wenn sie in allen Ländern ein Ende gefunden hat.
Wir vergessen gerne, dass BioNTech ohne den US-Pharmariesen Pfizer und ohne globale Kooperation den Impfstoff nicht hätte entwickeln und auf den Markt bringen können. Viele der 43.000 Probandinnen und Probanden, die bei der Erprobung des Impfstoffes in Phase III beteiligt waren, stammen aus der Türkei, Brasilien, Argentinien und Südafrika. Oder zynischer ausgedrückt: Die Zusammenarbeit mit Menschen in ärmeren Ländern ist uns recht, wenn es darum geht einen unbekannten und möglicherweise riskanten Impfstoff zu testen. Wenn dieser sich allerdings als erfolgreich erweist, dann werden bei den Impfungen die Menschen in den reichen Ländern bevorzugt.
Auch die Klimakrise zu bewältigen, wird ohne Einbeziehung der ärmsten Länder und ohne massive Unterstützung der Industrieländer unmöglich sein. Auch bei der Ausgestaltung der digitalen Transformation, der Globalisierung in Bezug auf Wirtschaft und Finanzsystem sowie der Migration sind wir zunehmend global voneinander abhängig.
Ein neuer Humanismus erfordert, Nationalismus und Populismus zurückzudrängen und Multilateralismus und globale Kooperation zu stärken. Dies gilt für die Bekämpfung von Pandemien und Ursachen von Konflikten genauso wie für den Schutz von Klima, Umwelt und Diversität, für Globalisierung und technologischen Wandel. Nur als eine starke globale Gemeinschaft werden wir diese Herausforderung bewerkstelligen können. Auch deshalb dürfen uns die anderen Länder der Welt nicht egal sein. Das Virus kennt ja auch keine Grenzen.
Themen: Gesundheit