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Die unehrliche Inflations-Debatte

Blog Marcel Fratzscher vom 14. Dezember 2021

Wer wegen der wachsenden Geldentwertung Ängste schürt, argumentiert populistisch und falsch. Wir brauchen dringend eine sachliche Auseinandersetzung mit Preissteigerungen, Zinsen und Geldpolitik in Deutschland.

Der Anstieg der Inflation auf mehr als fünf Prozent zum Jahresende 2021 hat viel Empörung und Ängste ausgelöst. Die Rede ist von einer „Enteignung“ der Sparerinnen und Sparer, die auf ihr Erspartes keine Zinsen mehr erhalten und nun auch noch mit einer davongaloppierenden Inflation ihr Erspartes dahinschmelzen sähen. Einige der Kritikerinnen und Kritiker malen den Teufel an die Wand und sagen eine hohe Inflation für viele weitere Jahre voraus. Der beziehungsweise die Schuldige ist für sie bereits ausgemacht: die Europäische Zentralbank (EZB), die durch ihre Nullzinspolitik und ihre expansiven Anleihekäufe die Inflation in die Höhe treibe und die Sparerinnen und Sparer enteigne.

Dieser Beitrag erschien erstmals in der Süddeutschen Zeitung vom 14. Dezember 2021.

Dieses Narrativ der Inflation ist populistisch, falsch und schädlich. Viele der Verantwortlichen in Politik und Medien, die diese Behauptungen aufstellen, wissen es besser. Daher liegt die Vermutung nahe, dass bewusst Ängste und Sorgen geschürt werden, um politische und wirtschaftliche Ziele zu erreichen. In keinem anderen Land in Europa gibt es eine solche Panikmache – mehr noch: In keinem anderen Land ist diese ungerechtfertigter.

Die Argumente der Inflationsalarmisten können zumeist leicht widerlegt werden. Da ist zunächst die Empörung über einen vermeintlichen Kontrollverlust, bei dem der Staat und staatliche Institutionen die Situation nicht mehr im Griff haben, mit einem massiven Schaden für die einfachen Leute. Ein ehrlicher Blick auf die Fakten zeichnet jedoch ein komplett anderes Bild: Die Zahl von mehr als fünf Prozent an Inflation ist ein Vorjahresvergleich, setzt also die Preise beispielsweise im November 2021 in Bezug zu den Preisen vom November 2020. Was die Kritikerinnen und Kritiker nicht sagen: Im Monatsvergleich sind die Preise in den meisten Monaten des zweiten Halbjahres 2021 gar nicht gestiegen. Sie sind im September 2021 gegenüber August und Juli 2021 gleichgeblieben. Die Inflation lag im Vergleich zu den vorangegangenen Monaten also bei 0,0 Prozent, die Preise blieben demnach stabil.

Die Inflation von mehr als fünf Prozent für den Vorjahresvergleich ist hauptsächlich deshalb zustande gekommen, weil die Preise von Juni bis November 2020 zum Teil deutlich gefallen sind. Das lag beispielsweise daran, dass ab vom 1. Juli 2020 an die Mehrwertsteuer vorübergehend um drei Prozentpunkte gesenkt wurde und auch die Energiepreise coronabedingt stark zurückgegangen waren. In anderen Worten: Die erhöhte Inflation ist nichts anderes als das Resultat sogenannter Basiseffekte fallender Preise im Jahr 2020 und in den allermeisten Fällen nicht durch hohe Preise im Herbst 2021 verursacht.

Negative Realzinsen waren in Deutschland nie etwas Ungewöhnliches

Einige Kritiker in Deutschland entgegnen nun, dass eine solche Inflation trotzdem unfair sei und eine „Enteignung der Sparer“ darstelle, weil die Zinsen trotz einer erhöhten Inflation bei null liegen. Das ist richtig und in der Tat ein Problem für die betroffenen Menschen. Nun lässt sich anmerken, dass knapp ein Drittel der Deutschen überhaupt keine Ersparnisse hat und es daher für sie ziemlich egal ist, ob die Zinsen bei null, fünf oder zehn Prozent liegen. Auch kann man anmerken, dass die Zinsen auf den Sparkonten zwar bei null liegen, die Werte für Immobilien und Aktien jedoch auch wegen niedriger Zinsen deutlich gestiegen sind.

Vielleicht der wichtigste Einwand gegen diese Kritik ist jedoch, dass negative Realzinsen in den vergangenen 60 Jahren in Deutschland überhaupt nichts Ungewöhnliches waren, auch nicht in Zeiten der Bundesbank und der D-Mark. Im Durchschnitt waren die realen Zinsen auf dem Sparkonto in der Bundesrepublik zwischen 1957, der Unabhängigkeit der Bundesbank, und der Einführung des Euro im Jahr 1999 negativ. Die meiste Zeit war die Inflation also höher als die Nominalzinsen. Für die Sparerinnen und Sparer ist es letztlich egal, ob die Zinsen bei null Prozent und die Inflation bei drei Prozent oder die Zinsen bei vier Prozent und die Inflation bei sieben Prozent, wie zeitweise in den 1970er-Jahren, liegen. Dies ist die Wahrheit, über die heute niemand reden möchte und die nur wenigen bewusst ist. Man malt lieber das Bild der guten alten D-Mark-Zeit, in der angeblich alles besser war und sich Sparen noch gelohnt habe.

Viele der Kritiker sagen ferner voraus, dass sich die erhöhte Inflation verfestigen werde. Markus Söder fordert eine „Inflationsbremse“ bei fünf Prozent. Dabei zeigen alle Prognosen, dass die Inflation wohl bereits im Jahr 2022 wieder unter die Marke von drei Prozent fallen wird. 2023 dürfte die Inflation nochmals weiter zurückgehen, sodass die EZB eher wieder vor dem Problem einer zu niedrigen Inflation stehen wird. Es ist sehr viel wahrscheinlicher, dass die Inflation kurz- und mittelfristig zu niedrig als zu hoch sein wird.

Eine weitere Sorge ist, dass die Löhne für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Zukunft stark steigen könnten, weil Gewerkschaften zu hart verhandeln, und es somit zu einer Lohn-Preis-Spirale kommt. Bei einer solchen Spirale werden Unternehmen gezwungen, ihre Preise zu erhöhen, um höhere Lohnkosten finanzieren zu können, was dann wiederum die Gewerkschaften dazu bringt, ihre Lohnforderungen an der stärkeren Inflation auszurichten. Diese Problematik gab es in der Tat in Deutschland in den 1970er Jahren und auch in vielen anderen europäischen Ländern, in denen die Lohnentwicklung teilweise sogar an die Inflation gebunden wurde. In Deutschland und in ganz Europa gibt es das jedoch seit Langem nicht mehr, und die Gewerkschaften sind mittlerweile auch in Deutschland so geschwächt, dass es wohl selbst angesichts eines Fachkräftemangels kaum zu einer solchen Lohn-Preis- Spirale kommen wird. Die meisten Menschen mit geringen Löhnen haben überhaupt keine Tarifverträge und Unterstützung durch Gewerkschaften.

Für höhere Wohnkosten und Energiepreise ist nicht die EZB, sondern die Politik verantwortlich

Das finale Argument der Kritiker ist, die Energiepreise würden zu stark steigen, und dies sei nun wirklich nicht nur einer Normalisierung nach der Pandemie geschuldet. Das ist sicherlich zum Teil richtig und es ist auch richtig, dass die Energiepreise in den kommenden Jahren weiter steigen könnten, zumal mit der Einführung und einer stetigen Erhöhung des CO2-Preises. Aber ist das wirklich etwas Negatives, etwas, das verhindert werden sollte? An dieser Stelle überlappt sich die Kritik an der EZB mit den Forderungen nach mehr und schnellerem Klimaschutz. Denn deutlich höhere Preise für nicht klimaneutrale Energiequellen sind notwendig und richtig. Daher gilt es dies nicht zu beklagen, sondern zu begrüßen, da höhere Preise die richtigen Anreize setzen, effizienter und klimafreundlicher zu werden.

Das wirkliche Problem der Inflation liegt anderswo und wird von den Kritikerinnen und Kritikern meist ignoriert: Einzelne Gruppen, vor allem die einkommensschwächsten Menschen in Deutschland, leiden am stärksten unter der Preisentwicklung. Für viele Menschen mit geringen Einkommen in den Städten sind nicht nur die Energiepreise, sondern auch die Wohnkosten in den vergangenen zehn Jahren massiv gestiegen: Deshalb haben sie am Ende des Monats weniger Geld in der Tasche. Wieso ignorieren die Kritiker der EZB-Geldpolitik aus Politik und Medien diese Tatsache? Meine Vermutung ist, dass diese Wahrheit nicht in das bequeme Narrativ des Inflationsalarmismus passt. Denn für steigende Wohnkosten und Energiepreise könnten sie nicht länger die EZB verantwortlich machen – es ist die Politik selbst, die die Hauptverantwortung trägt, da sie in der Wohnungspolitik jahrelang geschlafen hat und noch immer zu wenig tut, um diese Probleme zu adressieren.

Wir brauchen dringend eine ehrliche Debatte zu Inflation und Geldpolitik in Deutschland. Es kann nicht sein, dass einige in Politik und Medien noch immer mit ihrem falschen und manipulativen Narrativ durchkommen, Inflation und Geldpolitik enteigneten kleine Sparerinnen und Sparer. Die Wahrheit ist vielmehr, dass das Versagen der Politik, von einer verfehlten Wohnungsbaupolitik bis hin zu einer unzureichenden Sozial- und Finanzpolitik, dafür verantwortlich ist.

Themen: Geldpolitik

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