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Auch im Interesse der Impfgegner

Blog Marcel Fratzscher vom 28. Januar 2022

Die Gesellschaft kann Ungeimpfte nicht wie Menschen zweiter Klasse behandeln. Eine Impfpflicht wird uns genau davor bewahren.

Dieser Text erschien erstmals am 28. Januar 2022 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Das Thema Impfpflicht spaltet Gesellschaft und Politik, doch wir können uns davor nicht wegducken. Die Frage, ob und wann grundlegende, individuelle Freiheiten eingeschränkt werden sollen, ist so heikel, dass sie gründlich durchdacht werden muss. Dies macht auch eine Stellungnahme des Ethikrats deutlich. Doch angesichts immer neuer Corona-Wellen sollte die Frage dringend entschieden werden. Nicht um die Omikron-Welle der Pandemie zu stoppen – dafür wird eine Impfpflicht viel zu spät kommen –, sondern um für die Zukunft klare Kriterien zu definieren, wann Staat und Gesellschaft zentrale, individuelle Grundrechte in Bezug auf Impfen und Gesundheit beschneiden dürfen und wann nicht.

In meiner Kolumne Ende November habe ich davor gewarnt, dass die Einführung einer Impfpflicht die Gesellschaft noch weiter polarisieren könnte. Doch wird uns eine Impfpflicht auch davor bewahren, dass Patientinnen und Patienten in zwei Klassen unterteilt werden, in Geimpfte und Ungeimpfte, und bei Überlastung des Gesundheitssystems nicht mehr die gleiche Chance auf Behandlung haben könnten. 

Individuelle Freiheit versus Schutz der anderen

Drei grundsätzliche Argumente sollten bei der Diskussion um die Impfpflicht im Mittelpunkt stehen. Das erste ist der Selbstschutz. Die Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, ist aus vielerlei Hinsicht irrational – Menschen überschätzen die Risiken und Nebenwirkungen einer Impfung und unterschätzen den Preis, den sie selbst und andere für diese Entscheidung bezahlen. Nicht wenige Ungeimpfte bereuen ihre Entscheidung, wenn sie sich anstecken und medizinische Hilfe benötigen. In vielen Fällen macht der Staat den Menschen in der Tat Vorschriften aus solchen Gründen des Selbstschutzes – die Anschnallpflicht im Auto ist ein Beispiel. Ein solcher Selbstschutz allein kann und darf aber nicht das schlagende Argument für eine Impfpflicht sein, denn der Eingriff in die Persönlichkeitsrechte und das Recht auf körperliche Unversehrtheit wiegen zu schwer – gerade auch wegen unserer deutschen Geschichte.

Die Freiheit der Anderen

Beim zweiten Argument steht die individuelle Freiheit im direkten Konflikt mit der Freiheit und dem Recht der Unversehrtheit anderer. Ungeimpfte haben – zumindest traf das auf die Varianten vor Omikron zu und könnte auch für die Varianten nach Omikron gelten – eine vielfach höhere Wahrscheinlichkeit, sich mit dem Coronavirus anzustecken und andere damit zu infizieren. Aber auch dieses Argument ist nicht gänzlich überzeugend. Denn eine Ausgangssperre für Ungeimpfte und andere Restriktionen könnten dieses Ansteckungsrisiko deutlich reduzieren. Bund und Länder verfolgen bereits eine solche Strategie mit den 2G- oder 2G-plus-Regeln.

Schwerwiegender ist jedoch das dritte Argument. In US-Medien wurde vor einigen Wochen hitzig über das Schicksal von Dale Weeks diskutiert, einem 78 Jahre alten US-Amerikaner aus Iowa, der Ende November an einer heilbaren Sepsis verstarb. Seine Familie machte dafür die vielen ungeimpften Covid-Patienten verantwortlich, die die Betten im Krankenhaus blockierten und damit eine rechtzeitige Einweisung Dale Weeks' verhinderten. Auch in Deutschland mussten während der Corona-Pandemie viele Operationen verschoben oder abgesagt werden. Ob und wie viele Menschen durch die Be- und Überlastung des Gesundheitssystems langfristig Schaden genommen haben oder gestorben sind, ist noch unklar.

Alle haben Anspruch auf die gleiche Behandlung

Die beruhigende Nachricht in dieser Phase der Pandemie ist: Mit Omikron stecken sich zwar immer mehr Menschen an, allerdings zeigen Daten aus verschiedenen Ländern, dass das Risiko eines schweren Verlaufs im Vergleich zu einer Infektion mit Delta geringer ist. Doch wer kann mit Sicherheit sagen, dass eine neue Mutante das Gesundheitssystem nicht erneut an seine Grenzen bringt?  "Es ist ein elementares Gebot der Gerechtigkeit, dass alle Personen mit gleicher Behandlungsbedürftigkeit unabhängig von der Art ihres medizinischen Problems die gleiche Chance auf eine angemessene Versorgung haben", schrieb der Ethikrat kurz vor Weihnachten in seiner Stellungnahme zur Impfpflicht. Und sieht dieses Gebot verletzt, wenn wegen einer hohen Hospitalisierungsrate durch Ungeimpfte, Behandlungen nicht durchgeführt werden können.

Dieser Grundsatz gilt aber auch im umgekehrten Fall – sprich, dass alle Personen, auch unabhängig von ihrem Impfstatus, die gleiche Chance auf angemessene Versorgung haben. Peter Singer, ein australischer Philosoph und Ethikprofessor in Princeton, schlägt eine Priorisierung vor, bei der geimpfte Menschen im Gesundheitssystem immer Priorität über Ungeimpfte haben (solange es keinen triftigen Grund für eine fehlende Impfung gibt).

Das Recht auf Selbstbestimmung kommt an seine Grenze

Die Lösung klingt zunächst logisch und konsequent. Aber ist sie wirklich realistisch? Kann ein Staat Ungeimpfte zu Menschen zweiter Klasse im Gesundheitssystem machen? Könnte man – siehe das Beispiel von Dale Weeks – einem ungeimpften Covid-19-Patienten den Platz auf der Intensivstation verweigern, wenn ein geimpfter Patient dieses Bett benötigt? Können wir es vertreten, eine 25-jährige, alleinerziehende und ungeimpfte Mutter vom Beatmungsgerät zu nehmen, um es einer 85-jährigen, geimpften Frau zu geben?

Kurzum, es ist schwer zu rechtfertigen, wie eine solche Priorisierung allein nach Impfstatus ethisch vertretbar und praktisch umsetzbar sein soll. Und somit kommt das Recht auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit dort an seine Grenze. Denn die Gesellschaft muss auch den Mitmenschen helfen, die durch die Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, für ihre Covid-19-Erkrankungen eine erhebliche Mitverantwortung tragen, und kann sie nicht als Menschen zweiter Klasse behandeln. Und aus diesem Grund hat die Gesellschaft auch das Recht, von allen einen Beitrag in der Form einer Impfung einzufordern, um mit sinkender Hospitalisierungsrate den Krankenhäusern die schwierige Wahl zu ersparen, wem sie die Behandlung bei Engpässen verweigern.

Zum Wohle der großen Mehrheit die gesamte Gesellschaft in die Pflicht nehmen

Eine Impfpflicht allein wird die Pandemie nicht beenden. Das führt uns die Omikron-Variante aktuell eindrucksvoll vor Augen, vor der selbst die Boosterimpfung nur eingeschränkt schützt. Auch bei Einführung einer Impfpflicht wird noch viel Überzeugungsarbeit bei den immer noch knapp 20 Prozent ungeimpften Erwachsenen zu leisten und das Impfangebot zu verbessern sein. Selbst wenn eine staatliche Auflage nicht alle zur Impfung bewegen wird – ein harter Kern wird Einschränkungen und Geldbußen in Kauf nehmen –, werden sich viele, an denen die Solidaritätsappelle bisher abgeprallt sind, doch noch impfen lassen. Eine Impfpflicht würde aber vor allem deutlich signalisieren, dass die Politik in bestimmten Fällen die gesamte Gesellschaft zum Wohle der großen Mehrheit in die Pflicht nehmen darf. Und das sollte die Politik möglichst schnell tun – auch im Interesse der Impfgegnerinnen und Impfgegner.

Themen: Gesundheit

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