Blog Marcel Fratzscher vom 4. Februar 2022
Wenn der Mindestlohn steigt, muss auch die Geringfügigkeitsgrenze bei Minijobs steigen. Doch damit werden Minijobs ausgeweitet – und das wäre fatal für den Arbeitsmarkt.
Die Vorhaben der neuen Regierung für Arbeitsmarktreformen und Sozialsystem sind ambitioniert und gleichzeitig ausgewogen. Bis auf eine große Schwäche: die Pläne bei den Minijobs.
Dieser Beitrag erschien erstmals am 4. Februar 2022 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen
Anstatt diese Form der atypischen Beschäftigung zu beschränken, soll sie weiter ausgeweitet werden. Das wäre ein Fehler mit negativen Konsequenzen für viele der fast sieben Millionen Menschen, die derzeit in solchen Jobs arbeiten. Zudem würden die Pläne die Arbeitskräfteprobleme in Deutschland weiter verschärfen. Doch noch besteht die Chance, umzudenken.
Und der Reihe nach: Der Koalitionsvertrag sieht eine Erhöhung der Minijobgrenze auf 520 Euro im Monat vor. Dies entspricht in etwa zehn Arbeitsstunden bei einem Mindestlohn von zwölf Euro – dieser soll nach einem Gesetzentwurf aus dem Bundesarbeitsministerium ab Oktober 2022 gelten. Weil die Minijobeinkommensgrenze mit dem Mindestlohn zusammenhängt, wollen die Ampel-Koalitionäre diese immer im Gleichschritt mit dem Mindestlohn erhöhen, sodass Menschen mit Mindestlohn stetig zehn Stunden pro Woche in solchen Jobs arbeiten können.
Doch es gibt ein Problem: Minijobs haben deutlich mehr Nachteile als Vorteile, das haben diverse Studien bewiesen. Zwar hieß es in der Vergangenheit häufig, Minijobs seien ein Sprungbrett in reguläre, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Wir wissen aus vielen Erhebungen aber, dass dies für nur wenige zutrifft, und wenn, dann meist für Studierende, die diese Tätigkeit als Zuverdienst nutzen. Für viele sind Minijobs aber der Hauptverdienst. Ihr Haushalt ist dauerhaft auf diese Einkommen angewiesen, ohne dass eine Perspektive auf einen Übergang in reguläre Beschäftigung besteht.
Über die vergangenen 20 Jahren hat Deutschland – bis auf einen kurzen Einbruch zu Beginn der Corona-Pandemie – eine deutliche Ausweitung der Minijobs erfahren. Es gibt viele Anzeichen, dass solche Arbeitsformen auch reguläre sozialversicherungspflichtige Beschäftigung verdrängt haben. Zudem gibt es für Unternehmen viele Anreize, Minijobs anstelle regulärer Beschäftigung zu schaffen – mit allen Nachteilen für die Beschäftigten und auch für das Sozialsystem, denn Minijobbende zahlen ja nicht voll in die Sozialversicherungen ein. Das führt dazu, dass es für viele geringfügig Beschäftigte schwer ist, in ihrem Beruf oder Branche eine neue sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu finden, wenn sie den Job verlieren.
Ein weiterer Nachteil der Minijobs ist, dass Lohnerhöhungen nicht oder nur teilweise bei den Beschäftigten in der Form von höheren Monatseinkommen ankommen. Denn wenn Minijobbende an der Einkommensobergrenze sind, dann bedeuten Lohnerhöhungen, dass sie ihre Arbeitszeit reduzieren müssen – schlicht, weil ein Überschreiten der Geringfügigkeitsgrenze sich finanziell nicht lohnt. Denn dann werden auf einen Schlag Sozialbeiträge und Steuern fällig, die den Einkommenszuwachs wieder auffressen.
Und genau in dieser Beschränkung liegt ein großer Schaden der Minijobs für die gesamte Gesellschaft und für die Wirtschaft: Bereits heute haben wir einen massiven Arbeitskräftemangel in Deutschland.
Sieben Millionen Minijobs bedeuten, dass diese Menschen effektiv in vielen Fällen nicht mehr arbeiten können, selbst wenn der Arbeitgeber und die Beschäftigten dies möchten. In der Tat zeigen Umfragen, dass die Mehrheit der Minijobberinnen und Minijobber gern mehr Stunden arbeiten möchte. Man kann daher sagen: Durch das Modell der Minijobs werden Menschen nicht nur im Einkommen und Umfang ihrer Erwerbsarbeit begrenzt, der deutschen Wirtschaft entgehen auch noch Arbeitskräfte.
Und dann ist da noch die fehlende soziale Absicherung, ein weiteres Problem der Minijobs. Gerade in der Pandemie gehörten die Minijobbende zu den größten Leidtragenden. Denn sie hatten keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld und andere Unterstützung. Und es waren diese Menschen, die besonders häufig ihre Arbeit verloren haben. Nach Schätzungen des DIW Berlin wurden 850.000 oder zwölf Prozent aller Minijobberinnen und Minijobber im Jahr 2020 arbeitslos. Sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ist zwar auch zurückgegangen, mit 0,2 Prozent jedoch sehr viel weniger als die geringfügige Beschäftigung.
Wie könnten Lösungen für dieses Minijob-Dilemma aussehen? Minijobs könnten für manche Gruppen wie Studierende oder Rentnerinnen und Rentner durchaus sinnvoll sein. Daher sollte man diese Minijobs nur auf diese Gruppen beschränken, nicht jedoch für die große Mehrheit der Menschen im erwerbsfähigen Alter zugänglich machen. Zudem wäre eine deutliche Absenkung der Obergrenze für den Verdienst in Minijobs der richtige Weg und nicht eine Erhöhung, so wie jetzt im Koalitionsvertrag vorgesehen ist. Man sollte stattdessen die Spanne der Midijobs – also Jobs, die über der Minijobgrenze bis zu einem Einkommen von 1.300 Euro liegen – sowohl nach oben als auch nach unten ausweiten, um Anreize für einen graduellen Übergang in reguläre, voll sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu verbessern. Außerdem sollten Subventionen direkt an die Stundenlöhne der Beschäftigten gekoppelt werden – dann würden vor allem Personen mit geringen Einkommen profitieren.
Es ist höchste Zeit für eine grundlegende Reform der Minijobs in Deutschland. Dies ist kein triviales Thema, denn Minijobs sind für viele eher eine Falle als eine Hilfe. Die neue Bundesregierung sollte eine Kehrtwende in ihrer Politik vollziehen und Minijobs stark reduzieren und nicht weiter ausweiten, so wie es der Koalitionsvertrag vorsieht.
Themen: Arbeit und Beschäftigung