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Wie wir den Arbeitskräftemangel beheben können

Blog Marcel Fratzscher vom 22. Juli 2022

Dieser Beitrag erschien bei Zeit Online.
Mehr und unkompliziertere Fachkräfteeinwanderung ist das eine. Aber es gibt auch auf dem deutschen Arbeitsmarkt noch viel Potenzial – Zeit, dass wir es nutzen.

Innenministerin Nancy Faeser und Arbeitsminister Hubertus Heil haben diese Woche eine wichtige Initiative zur Reform des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes gestartet, um den massiven Arbeitskräftemangel durch Zuwanderung von außerhalb der EU zu schließen. So richtig diese Initiative auch ist, so kann sie nur ein Baustein einer übergreifenden Strategie zum Arbeitskräftemangel sein. 

Dieser Text erschien am 22. Juli 2022 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Die Bundesregierung muss vor allem Reformen anstoßen, um die enorm große stille Reserve im deutschen Arbeitsmarkt zu heben. Der Arbeitskräftemangel ist mit die größte Bedrohung für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und den Wohlstand, den wir heute genießen. Denn Unternehmen werden im globalen Wettbewerb zurückfallen, wenn sie nicht ausreichend qualifizierte Beschäftigte für sich gewinnen können.

Der Wirtschaftsboom der 2010er Jahre wäre ohne die massive Zuwanderung von meist jungen, gut qualifizierten Menschen aus Europa nicht möglich gewesen. Über das gesamte Jahrzehnt gab es eine Zuwanderung von netto – also nach Abwanderung aus Deutschland – mehr als zwei Millionen Beschäftigten. Schon heute ist der Arbeitskräftekräftemangel enorm: Es gibt mehr als eine Million offene Stellen. Der Mangel besteht nicht nur bei hochqualifizierten Fachkräften, sondern in fast allen Berufen und bei den meisten Qualifikationen.

Studien zeigen, dass in den kommenden zehn Jahren vor allem technische Berufe, IT und Berufe in der Gesundheit, vor allem der Pflege, besonders unter dem Fachkräftemangel leiden werden. Die Zuwanderung aus der EU wird nicht ausreichen, um den Arbeitskräftemangel aufzufangen. Über die kommenden zehn Jahren werden vier Millionen Beschäftigte mehr in den Ruhestand gehen, als junge Menschen neu in den Arbeitsmarkt kommen. Daher wird Deutschland in den nächsten zehn Jahren jedes Jahr 500.000 zusätzliche Beschäftigte benötigen. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz von 2019 sollte die Zuwanderung von Arbeitskräften von außerhalb der EU fördern.

Der verantwortliche Minister und die damalige Bundesregierung schienen jedoch eher zu versuchen, Zuwanderung zu verhindern. Denn die Hürden für eine Zuwanderung sind hoch: Das Gesetz verlangt gute deutsche Sprachkenntnisse, einen Arbeitsvertrag, eine anerkannte Ausbildung oder ausreichend finanzielle Mittel, bevor jemand nach Deutschland kommen darf. Viele Menschen entscheiden sich da eher für andere Länder. Faeser und Heil wollen nun das Anerkennungsverfahren für die berufliche Qualifikation erleichtern, sodass Fachkräfte, die Berufserfahrung und einen Abschluss mitbringen, leichter nach Deutschland kommen können. Diese Initiative ist wichtig, um Deutschland attraktiver für Zuwanderung zu machen.

So wichtig diese Initiative ist – sie wird bei Weitem nicht ausreichen. Sie kann lediglich ein Baustein von vielen sein. Die Bundesregierung sollte sich in den kommenden Jahren daher vor allem auf drei weitere Elemente fokussieren. Das erste Element ist, mehr Offenheit, Toleranz und Wertschätzung für Menschen anderer Herkunft und allgemein für Menschen mit anderer Hautfarbe, Religion, Identität und Kultur zu schaffen. Denn es ist naiv zu glauben, Menschen in der Welt sähen Deutschland als Paradies auf Erden und warteten nur darauf, endlich in die Bundesrepublik kommen zu dürfen.

Endlich Hürden für die Erwerbstätigkeit der Frauen abbauen

Der Mythos der Zuwanderung in die Sozialsysteme, also die Behauptung, die meisten Menschen aus dem Ausland kämen nach Deutschland, um hier Sozialleistungen zu erschleichen, muss endlich enden. Es erfordert mehr Wertschätzung für andere Perspektiven und Lebenswege. Und es muss eine klare Zukunftsperspektive geben, zu der auch die deutsche Staatsbürgerschaft in absehbarer Zeit gehört.

Das zweite Element zum Schließen der Arbeitskräftelücke liegt in Deutschland selbst. Denn die größte und wichtigste stille Reserve auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist die Erwerbstätigkeit der Frauen. Mehr als die Hälfte der Frauen arbeitet in Teilzeit und viele würden gerne mehr arbeiten, wenn die finanziellen, familiären und bürokratischen Rahmenbedingungen besser wären. Daher muss die Bundesregierung endlich Hürden für die Erwerbstätigkeit der Frauen abbauen. Dazu gehört sowohl eine Reform des Ehegattensplittings und der Minijobs als auch massive Investitionen in Kitas und Schulen. Auch die unterschiedlichen Karrieremöglichkeiten für Frauen und die ungleiche Bezahlung müssen in den Blick genommen werden.

Offensive bei Weiterbildungen

Das dritte Element ist eine Offensive bei Qualifizierung und Weiterbildung. Zu viele Menschen haben zu wenige oder die falschen Qualifikationen für die vielen Möglichkeiten, die heute auf dem Arbeitsmarkt bestehen. Mehr als jeder zehnte junge Mensch beendet heute die Schule oder die Ausbildung ohne Abschluss. Und technologischer Wandel und Globalisierung bedeuten, dass sich die Anforderungen in Zukunft noch schneller verändern werden. Daher muss die Weiterbildung ein viel höheres Gewicht bekommen. Die Bundesregierung kann das nicht allein den Unternehmen überlassen, sondern muss eine überzeugende Strategie der Qualifizierung und Weiterbildung entwickeln.

Das kostet viel Geld, aber besser kann es kaum investiert werden. Der jetzt schon enorme Arbeitskräftemangel ist eine der größten Bedrohungen für Wirtschaft und Wohlstand im kommenden Jahrzehnt. Es ist gut, dass die Bundesregierung Deutschland weiter öffnen will, um attraktiver für Zuwanderung von außerhalb Europas zu werden. Es fehlt jedoch eine übergreifende Strategie, in der die überfällige Reform des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes nur ein Baustein sein kann. Sie muss auch die große stille Reserve der Erwerbstätigkeit von Frauen und eine Initiative für Qualifizierung und Weiterbildung umfassen.

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