DIW Wochenbericht 31/32 / 2022, S. 411-420
Fabian Beckmann, Rolf G. Heinze, Dominik Schad, Jürgen Schupp
get_appDownload (PDF 426 KB)
get_appGesamtausgabe/ Whole Issue (PDF 2.38 MB - barrierefrei / universal access)
„Ein hoher Anteil von 42 Prozent der Hartz-IV-Beziehenden schämt sich für diesen Leistungsbezug. Mehr als die Hälfte hat das Gefühl, nicht richtig zur Gesellschaft zu gehören. Dieses offensichtlich stigmatisierende Image gilt es mit dem neuen Bürgergeld-Gesetz zu überwinden.“ Jürgen Schupp
Mit dem Bürgergeld plant die Ampel-Koalition eine Reform des Hartz-IV-Systems mit Erleichterungen für Leistungsbeziehende. Dieser Wochenbericht nimmt auf Basis einer zufallsbasierten Befragung in acht Jobcentern in Nordrhein-Westfalen die Perspektive von Langzeitarbeitslosen ein: Wie schätzen sie zentrale Reforminhalte ein? Wie nehmen Langzeitarbeitslose ihre Situation wahr? Und was machen sie tagtäglich? Die Befunde offenbaren mehrheitlich positive, aber mit Blick auf einzelne Reformaspekte auch differenzierte Einschätzungen zum Bürgergeld. Bessere Hinzuverdienstmöglichkeiten werden beispielsweise von einer großen Mehrheit der Langzeitarbeitslosen befürwortet, während einen grundsätzlichen Vericht auf Sanktionen viele auch skeptisch sehen. Über 40 Prozent der Langzeitarbeitslosen berichten zudem, sich „voll und ganz“ oder „eher“ für den Grundsicherungsbezug zu schämen; knapp zwei Drittel stimmen „voll und ganz“ oder „eher“ der Aussage zu, dass andere Leistungsbeziehende das System ausnutzen. Viele Leistungsbeziehende sind eigenen Angaben zufolge ehrenamtlich und nachbarschaftlich aktiv. Eine zukünftig verbesserte Förderung solcher Tätigkeiten birgt jenseits der Vermittlung in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung Chancen für die Stärkung der sozialen Teilhabe. Kurz- und mittelfristig wird zudem die Inflation eine spürbare Erhöhung des Regelsatzes notwendig machen, um Armutsrisiken abzumildern. Zudem sollten die Chancen eines Modellprojekts zur Evaluierung der Wirkungen von Sanktionen genutzt werden, um dieses kontroverse Thema evidenzbasiert bewerten zu können.
Die Ablösung des als Hartz IV bezeichneten Grundsicherungssystems ist das zentrale sozialpolitische Projekt der Ampel-Koalition. Voraussichtlich ab Herbst 2022 wird es in den parlamentarischen Beratungsprozess eingebracht werden. Erste grundlegende Reformschritte sollen zum 1. Januar 2023 in Form des künftigen Bürgergeldes gesetzlich umgesetzt werden. Bereits zum Juli 2022 wurden mit dem einjährigen Sanktionsmoratorium mildere Sanktionen bei Meldeversäumnissen eingeführt und bei Verletzungen von Mitwirkungspflichten in Gänze temporär außer Kraft gesetzt. Wie das Bürgergeld im Weiteren ausgestaltet wird, ist Gegenstand kontroverser Diskussionen.
Mit Blick auf die Leistungsbeziehenden liegen bislang vergleichsweise wenige Erkenntnisse über deren Präferenzen und die möglichen Reformwirkungen vor.Vgl. hierzu die Studien von Fabian Beckmann et al. (2021a): Erzwungene Modernisierung? Arbeitsverwaltung und Grundsicherung in der Corona-Pandemie. Politikberatung kompakt Nr. 161 (online verfügbar; abgerufen am 11. Juli 2022. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt); Fabian Beckmann (2021b): Hartz-IV-Reformvorschlag: Weder sozialpolitischer Meilenstein noch schleichende Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommen. DIW aktuell Nr. 58 (online verfügbar); Fabian Beckmann et al. (2021c): Klima der Angst oder Respekt auf Augenhöhe? Erfahrungen von Hartz-IV-Beziehenden mit Jobcentern im Zuge der Corona-Pandemie. Sozialer Fortschritt, 70 (10–11), 651–669 (online verfügbar; abgerufen am 14. Juni 2022); sowie Jonas Beste, Mark Trappmann und Jens Wiederspohn (2021): Vereinfachter Zugang zur Grundsicherung: Wer von einer Schonfrist bei Vermögensanrechnung und Aufwendungen für die Unterkunft profitieren würde. IAB-Forum vom 13. Dezember 2021 (online verfügbar). Grundlage der vorliegenden Studie ist eine quantitative Befragung von (gemäß § 18 SGB III) langzeitarbeitslosen ALG-II-Beziehenden, die im Zeitraum vom 21. März bis 16. Mai 2022 in acht Jobcentern des Ruhrgebiets in Nordrhein-Westfalen durchgeführt wurde (Kasten). Dabei wird beleuchtet, wie Langzeitarbeitslose zentrale Reformaspekte des von der Ampel-Koalition geplanten Bürgergeldes beurteilen, wie sie ihre eigene Situation im Leistungsbezug wahrnehmen und wofür sie ihre Zeit während der Langzeitarbeitslosigkeit nutzen.
Die präsentierten Befunde beruhen auf einer empirischen Erhebung, die durch das Institut InWis an der Ruhr-Universität Bochum durchgeführt wurde. Die Studie wurde durch die acht Jobcenter Bochum, Dortmund, Duisburg, Essen, Gelsenkirchen, Ennepe-Ruhr-Kreis, Oberhausen sowie Recklinghausen beauftragt. Die Datenerhebung erfolgte in Form einer standardisierten, etwa 20 minütigen telefonischen Befragung der Langzeitarbeitslosen als sogenanntes Computer Assisted Telephone Interview (CATI). Dem Institut wurden nach entsprechenden datenschutzrechtlichen Prüfungen und Genehmigungen durch das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (MAGS) und durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) Kontaktdaten der Kundinnen und Kunden der acht beteiligten Jobcenter übermittelt. Jedes der beteiligten Jobcenter ermittelte zunächst per Zufall aus ihrem Register 500 Kontakte zu nichtbeschäftigten Langzeitarbeitslosen, die hinsichtlich Geschlechterverteilung sowie Dauer der Langzeitarbeitslosigkeit (zwölf Monate bis unter 36 Monate sowie 36 Monate und länger) jeweils etwa vier gleich große Auswahlgruppen von je 125 Fällen bereitstellten. Die insgesamt 4000 Kontaktadressen wurden in der Zeit vom 21. März bis 16. Mai 2022 angesprochen. Insgesamt konnten innerhalb der Feldzeit 563 vollständige Interviews durchgeführt werden, was einer durchschnittlichen Ausschöpfungsquote von 14,1 Prozent entspricht. Angesichts der kurzen Feldzeit kann das als vergleichsweise gutes Ergebnis gewertet werden. Um die Daten auf die Gesamtzahl der Langzeitarbeitslosen der acht Jobcenter beziehen und somit die Ergebnisse verallgemeinern zu können, wurde mit Blick auf die verschiedenen Merkmale der Langzeitarbeitslosen wie Geschlecht und Dauer der Arbeitslosigkeit (Tabelle) ein Gewichtungsrahmen erstellt.
Absolute Zahlen, sofern nicht anders angegeben
Region |
Arbeitslose Insgesamt |
davon Langzeitarbeitslose1 | ||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Insgesamt | Männer | Frauen | 12 bis unter 36 Monate | 36 Monate und länger | ||||
Männer | Frauen | Männer | Frauen | |||||
Deutschland insgesamt | 1526828 | 839370 | 469465 | 369905 | 301309 | 236259 | 167487 | 133051 |
Nordrhein-Westfalen (NRW) | 468030 | 279854 | 151690 | 128164 | 91510 | 76186 | 60180 | 51978 |
Anteil NRW (in Prozent) | 30,7 | 33,3 | 32,3 | 34,6 | 30,4 | 32,2 | 35,9 | 39,1 |
Jobcenter Bochum, Stadt (GE)2 – Typ3: IIIc | 12745 | 6914 | 3938 | 2976 | 2431 | 1793 | 1507 | 1183 |
Jobcenter Dortmund, Stadt (GE) – Typ: IIIc | 26840 | 15499 | 8507 | 6992 | 5386 | 4320 | 3121 | 2672 |
Jobcenter Duisburg, Stadt (GE) – Typ: IIIc | 24074 | 13383 | 6615 | 6768 | 4407 | 4093 | 2208 | 2675 |
Jobcenter Essen, Stadt (kommunal)4 – Typ: IIIc | 23980 | 13622 | 7364 | 6258 | 4634 | 3942 | 2730 | 2316 |
Jobcenter Gelsenkirchen, Stadt (GE) – Typ: IIIc | 15156 | 8562 | 4624 | 3938 | 3100 | 2524 | 1524 | 1414 |
Jobcenter Ennepe-Ruhr-Kreis (kommunal) – Typ: IId | 7063 | 3700 | 2140 | 1560 | 1453 | 1024 | 687 | 536 |
Jobcenter Oberhausen, Stadt (GE) – Typ: IIIc | 8339 | 5308 | 2875 | 2433 | 1447 | 1160 | 1428 | 1273 |
Jobcenter Recklinghausen (kommunal) – Typ: IIIc | 19269 | 12876 | 6852 | 6024 | 3792 | 3192 | 3060 | 2832 |
Summe der acht befragten Jobcenter | 137466 | 79864 | 42915 | 36949 | 26650 | 22048 | 16265 | 14901 |
Anteil der acht befragten Jobcenter an NRW (in Prozent) | 29,4 | 28,5 | 28,3 | 28,8 | 29,1 | 28,9 | 27,0 | 28,7 |
Anteil der acht befragten Jobcenter an Deutschland (in Prozent) | 9,0 | 9,5 | 9,1 | 10,0 | 8,8 | 9,3 | 9,7 | 11,2 |
Geschlechterverteilung der Teilgruppen (in Prozent) | ||||||||
Verteilung insgesamt | 100,0 | 55,9 | 44,1 | 56,1 | 43,9 | 55,7 | 44,3 | |
Verteilung NRW | 100,0 | 54,2 | 45,8 | 54,6 | 45,4 | 53,7 | 46,3 | |
Verteilung in den acht befragten Jobcentern | 100,0 | 53,7 | 46,3 | 54,7 | 45,3 | 52,2 | 47,8 |
1 Langzeitarbeitslose sind Arbeitslose, die ein Jahr und länger durchgehend arbeitslos sind (§ 18 Abs. 1 SGB III).
2 Gemeinsame Einrichtung.
3 Vergleichstypen der Jobcenter; Details sind beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung erhältlich (online verfügbar).
4 Zugelassene kommunale Träger.
Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Erstellungsdatum: 2. Juni 2022, Statistik-Service West, Auftragsnummer 330197.
In den acht beteiligten Jobcentern waren im März dieses Jahres 79864 Personen als Langzeitarbeitslose registriert. Sie repräsentieren 28,5 Prozent aller in Nordrhein-Westfalen zu dem Zeitpunkt registrierten Langzeitarbeitslosen. Bezogen auf Deutschland insgesamt sind in der Regionalstudie 9,5 Prozent aller gemeldeten Langzeitarbeitslosen repräsentiert.
Der Anteil der Langzeitarbeitslosen in den acht Jobcentern ist in den zurückliegenden Jahren gestiegen und lag zum Zeitpunkt der Befragung im Mai 2022 bei 48,6 Prozent. Damit war er leicht höher als in Nordrhein-Westfalen insgesamt und zugleich deutlich höher als in Deutschland insgesamt (Abbildung).
Gemäß der Typisierung aller Jobcenter Deutschlands unter Berücksichtigung der jeweiligen regionalen Besonderheiten hat die Bundesagentur für Arbeit Vergleichstypen erstellt, um einen Vergleich und eine Einordnung der Leistungsfähigkeit der 408 Jobcenter Deutschlands vornehmen zu können. Gemäß dieser TypologieFür detaillierte Infos zur Typisierung von Jobcentern im SGB-II-Bereich vgl. Wolfgang Dauth, Matthias Dorner und Uwe Blien (2013): Neukonzeption der Typisierung im SGB-II-Bereich. Vorgehensweise und Ergebnisse. IAB-Forschungsbericht Nr. 11/2013 (online verfügbar; abgerufen am 11. Juli 2022). werden die ausgewählten Jobcenter nahezu allesamt dem Typ IIIC zugeordnet mit vergleichbaren Merkmalen hinsichtlich:
Sie können allgemein typisiert werden als: „Städte bzw. (hoch-)verdichtete Landkreise überwiegend im Agglomerationsraum Rhein-Ruhr mit sehr geringer Arbeitsplatzdichte, geringer saisonaler Dynamik bei gleichzeitig hohem Beschäftigungspotenzial in einfachen Tätigkeiten und hohem Migrantenanteil.“
Lediglich für Teilnehmende des Jobcenters Ennepetal (Ennepe-Ruhr-Kreis) gelten schwerpunktmäßig die Typmerkmale IId: „Überwiegend Landkreise mit Schwerpunkt in Nordrhein-Westfalen mit eher durchschnittlichen Rahmenbedingungen und geringer saisonaler Dynamik.“
Der Arbeitsmarkt in Deutschland ist seit mehr als einem Jahrzehnt durch eine nahezu ungebrochene Aufwärtsdynamik gekennzeichnet. Allerdings verlief dieser Trend nicht für alle Gruppen in gleichem Maße positiv. Insbesondere bleibt der Arbeitsmarkt von einer sich verfestigenden Langzeitarbeitslosigkeit geprägt. Zwar ist im Zuge des Arbeitsmarktaufschwungs seit 2010 auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen gesunken; dennoch laufen in diesem Bereich verschiedene problematische Entwicklungen zusammen.
Erstens konnte die Langzeitarbeitslosigkeit bei weitem nicht so stark abgebaut werden wie die übrige Arbeitslosigkeit: So waren im Jahresdurchschnitt 2021 mit rund einer Million Menschen in etwa genau so viele langzeitarbeitslos wie im Jahr 2012. Zweitens ist die Vermittlungsquote aus der Langzeitarbeitslosigkeit in den (ersten) Arbeitsmarkt äußerst gering: 2021 lag die sogenannte „Abgangsrate“ in Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt bei gerade einmal 1,7 Prozent aller Langzeitarbeitslosen.Vgl. DGB (2022): Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit während der Corona-Krise. arbeitsmarktaktuell Nr. 1, Februar, 13 (online verfügbar). Drittens offenbart sich – und das hängt mit dem vorangegangenen Punkt zusammen – eine statistische Ungenauigkeit in der Bestimmung der Langzeitarbeitslosigkeit. Da Betroffene auch aus der Statistik fallen, wenn sie dem Arbeitsmarkt gemäß § 18 SGB III lediglich temporär nicht zur Verfügung stehen oder an Maßnahmen der Jobcenter teilnehmen, wird die Abgangsdynamik tendenziell über- und die tatsächliche Persistenz der Langzeitarbeitslosigkeit unterschätzt. Viertens sind die Re-Integrationschancen auch innerhalb der Gruppe der Langzeitarbeitslosen zum Teil sehr unterschiedlich. Dabei gilt, dass sich die ohnehin geringen Re-Integrationschancen in den regulären Arbeitsmarkt mit jedem „Vermittlungshemmnis“ nochmals halbieren.Jonas Beste und Mark Trappmann (2016): Erwerbsbedingte Abgänge aus der Grundsicherung. Der Abbau von Hemmnissen macht's möglich. IAB-Kurzbericht Nr. 21/2016 (online verfügbar). Hierzu zählen allen voran gesundheitliche Einschränkungen, fehlende schulische und berufliche Qualifikationen, die Dauer der Arbeitslosigkeit, ein Migrationshintergrund, die Pflege von Angehörigen und/oder die Betreuung von Kindern.Siehe Fabian Beckmann und Florian Spohr (2022): Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik. München. UVK, 44ff. Fünftens ist auch bei einer gelungenen Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt der Erfolg häufig nicht von langer Dauer, denn eine nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt gelingt vielen Langzeitarbeitslosen nicht. Vor allem fehlende Qualifikationen und ein im Durchschnitt höheres Alter wirken sich hier negativ aus.Katharina Dengler, Katrin Hohmeyer und Cordula Zabel (2021): Erwerbslose in der Grundsicherung: Welche Faktoren begünstigen die Aufnahme stabiler Beschäftigungsverhältnisse? IAB-Forum vom 13. Dezember 2021 (online verfügbar). Sechstens ist das Ausmaß der Langzeitarbeitslosigkeit nicht gleichmäßig in Deutschland verteilt, sondern es gibt Schwerpunkte in einzelnen Regionen. Nicht nur divergieren grundsätzlich die Arbeitslosenquoten regional zum Teil erheblich; speziell die Langzeitarbeitslosigkeit ist in eher strukturschwachen Regionen mit einem eingeschränkt aufnahmefähigen lokalen und regionalen Arbeitsmarkt ein besonderes Problem.
Nicht zuletzt das Ruhrgebiet gilt in Sachen Langzeitarbeitslosigkeit als Problemregion. Unter den zehn Städten und Kreisen mit der höchsten Arbeitslosenquote fanden sich im Jahr 2021 mit Gelsenkirchen, Duisburg, Hagen, Dortmund, Herne und Essen gleich sechs Städte aus dem Ruhrgebiet. Auch kommt es hier besonders häufig zu Verfestigungen von Langzeitarbeitslosigkeit: Während im Mai 2022 bundesweit rund 40 Prozent aller Arbeitslosen als langzeitarbeitslos galten, lag dieser Wert in Nordrhein-Westfalen (NRW) mit über 47 Prozent und in den für diesen Wochenbericht acht einbezogenen Jobcentern mit rund 49 Prozent nochmal deutlich höher (Kasten).
Die Langzeitarbeitslosigkeit hat sich im Zuge der Corona-Pandemie vergrößert und verfestigt.Vgl. hierzu auch Kerstin Bruckmeier et al. (2021): Entwicklungen in der Grundsicherung seit 2010: Die Corona-Krise hat den positiven Trend vorerst gestoppt. IAB-Forum vom 10. Mai 2021 (online verfügbar). Waren im März 2020 in Deutschland noch 708730 Menschen bei der Bundesagentur für Arbeit als Langzeitarbeitslose gemeldet, waren es ein Jahr später mit 1031 330 rund 300000 Menschen mehr.Vgl. Bundesagentur für Arbeit (2022a): Langzeitarbeitslosigkeit (Monatszahlen). Deutschland, Länder, Kreise und Jobcenter. Mai 2022. Auch der Anteil der Langzeitarbeitslosen an allen Arbeitslosen stieg von 28 Prozent im März 2020 auf 42 Prozent zum Ende des Jahres 2021.Vgl. DGB (2022), a.a.O. Im selben Zeitraum verringerte sich die Zahl der Nicht-Langzeitarbeitslosen um fast 17 Prozent, wohingegen die Zahl der Langzeitarbeitslosen um 38 Prozent stieg. Obgleich die Zahl der Langzeitarbeitslosen seit Beginn des Jahres 2022 rückläufig ist, lag sie auch im Mai 2022 mit rund 916000 nach wie vor deutlich über dem Niveau von vor der Corona-Pandemie.Bundesagentur für Arbeit (2022a), a.a.O. Ob dieses Niveau je wieder erreicht werden wird, scheint fraglich, denn die Corona-Krise ist nicht isoliert zu fassen, sondern eingebettet in ein Krisen- und Transformationskonglomerat. Aktuell sind die ökonomischen Aussichten angesichts des Angriffskrieges auf die Ukraine und der steigenden Energie- und Lebenshaltungskosten sowie Lieferkettenprobleme ebenso unklar wie die weitere Entwicklung der Pandemie. In der Sozialpolitik werden so zunehmend und parteiübergreifend Fragen nach einer zeitgemäßen sozialen Sicherungsarchitektur virulent. Nicht zufällig erlebt beispielsweise die Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen seit nunmehr zwei Jahren eine Renaissance.Vgl. Rolf G. Heinze und Jürgen Schupp (2022a): Bürgergeld und Kindergrundsicherung als Einstiege ins bedingungslose Grundeinkommen? Gesellschaft, Wirtschaft, Politik 71(1), 37–50 (online verfügbar; abgerufen am 14. Juni 2022); sowie zur These einer schleichenden Sozialstaatstransformation: Rolf G. Heinze und Jürgen Schupp (2022b): Grundeinkommen – Von der Vision zur schleichenden sozialstaatlichen Transformation. Wiesbaden. Springer VS.
Auch die Grundsicherung für Arbeitssuchende steht als Kerninstitution des Wohlfahrtsstaates vor der Herausforderung, angesichts der skizzierten Transformations- und Krisenanforderungen widerstandsfähig zu sein und dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung zu entsprechen. Dabei war und ist die Corona-Pandemie ein Beschleuniger für eine Reform der Grundsicherung. Im Zuge des vereinfachten Zugangs wurden bereits im März 2020 weitreichende Erleichterungen für Leistungsbeziehende beschlossen, die in den Reformdiskursen der vorigen Jahre häufig als nicht umsetzbar angesehen wurden.Vgl. hierzu Bundesagentur für Arbeit (2022b): Weisungen zum Gesetz für den erleichterten Zugang zu sozialer Sicherung und zum Einsatz und zur Absicherung sozialer Dienstleister aufgrund des Coronavirus SARS-Cov-2 (Sozialschutz-Pakete) sowie ergänzende Regelungen, Stand vom 8. Juni 2022 (online verfügbar); vgl. auch Beckmann et al. (2021a), a.a.O. So wurden sämtliche Sanktionen für einen kurzen Zeitraum gänzlich ausgesetzt. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Sanktionen aus dem November 2019 war hierfür verwaltungsprägend, so dass auch nach Wiedereinführung der Sanktionsmöglichkeiten die tatsächlichen Sanktionen unter dem vorherigen Niveau verblieben.Vgl. hierzu Bundesagentur für Arbeit (2022c): Sanktionen Deutschland, West/Ost und Länder (online verfügbar). Mit dem am 19. Mai 2022 beschlossenem Sanktionsmoratorium wurde zudem jüngst eine im Koalitionsvertrag der Bundesregierung angekündigte Übergangslösung im Umgang mit Sanktionen vereinbart: Demnach werden Sanktionen für Pflichtverletzungen bis Mitte 2023 ausgesetzt und die Sanktionshöhe bei (wiederholten) Meldeversäumnissen oder Terminverletzungen auf maximal zehn Prozent des Regelsatzes beschränkt. Darüber hinaus werden seit März 2020 die tatsächlichen Kosten der Unterkunft unabhängig von der Angemessenheit übernommen und es wird auf Kostensenkungsverfahren mindestens in den ersten sechs Monaten nach Beginn des Leistungsbezugs verzichtet. Zudem wurden die Anrechnungsmodalitäten für Privatvermögen deutlich gelockert. Seither liegt das Schonvermögen für einen Single-Haushalt bei 60000 Euro. Zudem ersetzt aktuell eine verpflichtende Selbsterklärung die Prüfung durch das Jobcenter. Insgesamt wurde seit der Corona-Pandemie eine Reihe weitreichender Erleichterungen für Grundsicherungsbeziehende – bislang befristet – eingeführt. Damit wurde auch der Reformdiskurs zum SGB II wieder ins Rollen gebracht.
Dieses quasi-natürliche Experiment zeigte nicht nur, dass derlei Änderungen verhältnismäßig zügig und gut funktionierend von den Jobcentern umgesetzt werden können. Eine wichtige Erkenntnis war auch, dass befürchtete negative (Arbeitsmarkt-)Effekte infolge von Verhaltensanpassungen seitens der Leistungsbeziehenden bislang nicht in substanziellem Umfang eingetreten sind. Gleichzeitig mangelt es bislang an empirischen (Evaluations-)Studien zu Erfahrungen mit dem vereinfachten Zugang. Die wenigen vorhandenen Untersuchungen deuten – zumindest für die frühe Phase der Pandemie im Jahr 2020 – auf nicht unerhebliche Vorbehalte auf Seiten der Jobcenter-Beschäftigten hin, die sich mehrheitlich gegen die Erleichterungen bei Sanktionierung, Kosten der Unterkunft und Vermögen aussprachen.Vgl. hierzu auch Beste, Trappmann und Wiederspohn (2021), a.a.O.; sowie Beckmann et al. (2021a), a.a.O. Demgegenüber fielen die Einschätzungen der Leistungsbeziehenden in der Tendenz positiver aus, obgleich sich eine gewisse Skepsis gegenüber einer gänzlichen Sanktionsfreiheit zeigte.Vgl. hierzu Beckmann et al. (2021c), a.a.O.
Die Ampel-Koalition hat in ihrem Koalitionsvertrag eine substanzielle Reform der Grundsicherung versprochen, die verschiedene Säulen umfassen soll. Als übergeordnetes Leitbild soll das neue Bürgergeld „die Würde des und der Einzelnen achten, zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen sowie digital und unkompliziert zugänglich sein“.Siehe Bundesregierung (2021): Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, 59 (online verfügbar). Neben einer Entbürokratisierung, die in ihrer konkreten Ausgestaltung noch weitgehend offen ist, steht vor allem eine neue Austarierung des Verhältnisses von Fördern und Fordern auf der Regierungsagenda. Dabei sollen nicht alle grundsätzlichen Prämissen der Grundsicherung – etwa gewisse Mitwirkungspflichten der Leistungsbeziehenden – verändert, wohl aber verschiedene Instrumente, Prozesse und Leitbilder neu austariert werden. Hinsichtlich der in Fachkreisen seit Längerem diskutierten Erhöhung der Regelsätze in der Grundsicherung konnte bislang kein Konsens erzielt werden, obwohl eine Erhöhung der Regelsätze sowohl von Verbänden als auch aus Kreisen der Sozialpolitikforschung seit geraumer Zeit gefordert wird. Dies hätte freilich zugleich auch eine Ausweitung des Kreises von Anspruchsberechtigten zur Folge.Vgl. hierzu beispielsweise die Kurz-Expertise zur Regelbedarfsermittlung des Paritätischen Wohlfahrtsverbands vom 19. Januar 2022 (online verfügbar) sowie den Überblick von Irene Becker (2022): Sicherung des Existenzminimums mit Regelleistungen. Kritische Anmerkungen und Reformüberlegungen zu Hartz IV und zum Familienlastenausgleich. In: Florian Blank et al. (Hrsg.): Grundsicherung weiterdenken. Bielefeld. transcript Verlag, 61–88. Jüngst wurden armutsgeprägte Soziallagen auch medial vermehrt debattiert. Unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffenSiehe hierzu exemplarisch die Kolumne von Samira El Quassil (2022): Warum der Hashtag so wirkmächtig ist. Spiegel Online vom 19. Mai 2022 (online verfügbar). haben unter anderem Langzeitarbeitslose persönliche Einblicke in die Schwierigkeiten und finanziellen Probleme ihres Lebens gewährt und dabei auch gängige Stereotype eines vermeintlich guten Lebens in der sozialen Hängematte in Frage gestellt.
Neben der Kindergrundsicherung, die nach aktuellem Stand jedoch eher gegen Ende der Legislaturperiode im Jahr 2025 eingeführt werden dürfte, enthält der Koalitionsvertrag unter anderem folgende zentrale Reformvorhaben der Grundsicherung:
In der Summe stellen die geplanten Reformpunkte eine Erleichterung für Leistungsbeziehende dar, die mit einer tendenziellen Stärkung des Förderns zulasten des Forderns einhergeht – ohne dass die Reformaspekte einer Bedingungslosigkeit entsprächen. Im Wesentlichen erstrecken sich die Reformvorhaben auf drei zentrale Säulen:
Auch wenn die Reform hin zum Bürgergeld keinen sozialpolitischen Pfadbruch darstellt, gehen die Reformvorhaben dennoch weit über bisherige partielle Nachjustierungen in den bislang elf Änderungsgesetzen des SGB II hinaus. Mit ihnen werden auch die moralökonomischen Grundlagen der sozialen (Grund-)Sicherung wie Reziprozität und Solidarität neu ausgerichtet und tendenziell in Richtung eines Vertrauensvorschusses für Leistungsbeziehende verschoben. Es überrascht daher kaum, dass sowohl in der Öffentlichkeit als auch in den Fachkreisen nicht erst mit der Vorstellung des geplanten Gesetzesvorhabens durch Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil am 20. Juli 2022Vgl. hierzu Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2022): Das neue Bürgergeld: Mehr Respekt und Sicherheit, weniger Bürokratie (online verfügbar; abgerufen am 21. Juli 2022). kontroverse Debatten entflammt sind.
Unklar ist bislang jedoch, wie die Leistungsbeziehenden selbst die aktuell im Gesetzgebungsprozess befindlichen Reformvorhaben beurteilen. Vor diesem Hintergrund wurden im Rahmen der Studie Langzeitarbeitslose aus acht Jobcentern in Nordrhein-Westfalen unter anderem zu dieser Thematik befragt (Kasten).
Im Rahmen der Studie wurden die an acht Jobcentern in Nordrhein-Westfalen befragten Langzeitarbeitslosen um eine Einschätzung einzelner Reformaspekte der Grundsicherung gebeten. Dabei fiel die Wahl vornehmlich auf jene geplanten Veränderungen, die auch im Rahmen des Koalitionsvertrags als Reformvorhaben genannt werden. Die Befunde erlauben nicht nur eine grundsätzliche Abschätzung, wie langzeitarbeitslose ALG-II-Beziehende die Reformaspekte beurteilen, sondern auch eine relationale Differenzierung, welche dieser Punkte vorrangig positiv beurteilt werden.
Die größte Zustimmung findet unter den befragten Langzeitarbeitslosen ein Aspekt, der innerhalb der Ampel-Koalition zwar derzeit noch keine Mehrheit hat, unter den Langzeitarbeitslosen im Frühjahr 2022 jedoch höchste Priorität genießt: Rund 89 Prozent beurteilen eine Erhöhung des Regelsatzes der Grundsicherung als „sehr gut“ oder „eher gut“, ablehnende Einschätzungen sind mit rund zwei Prozent nur von marginaler Bedeutung (Abbildung 1). Ebenfalls überwiegend positiv werden zwei potenzielle Reformpunkte beurteilt, die vor allem die Möglichkeiten und Konditionen der Erwerbsteilhabe und Re-Integration in den Arbeitsmarkt betreffen. Drei Viertel der Befragungspersonen fänden es gut, wenn sie nicht mehr jeden zumutbaren Job annehmen müssten; lediglich rund acht Prozent beurteilen eine solche Änderung negativ, was als ein klares Plädoyer für die geplante Abschaffung des Vermittlungsvorrangs beim künftigen Bürgergeld interpretiert werden kann. Darüber hinaus sprechen sich rund 74 Prozent der Langzeitarbeitslosen für eine Reform der sogenannten Transferentzugsrate aus und fänden es gut, wenn sie ergänzend zum Grundsicherungsbezug mehr Geld hinzuverdienen könnten, ohne dass dies auf die Leistungen der Grundsicherung angerechnet würde. Lediglich rund vier Prozent der befragten Langzeitarbeitslosen lehnen dies ab.
Darüber hinaus wird auch eine Erhöhung des Schonvermögens mehrheitlich befürwortet. 62 Prozent der Langzeitarbeitslosen fänden es „sehr gut“ oder „eher gut“, wenn sie mehr eigenes Vermögen behalten dürften, ohne dass dies auf die Grundsicherungszahlungen angerechnet wird. Anders als bei den vorherigen Reformpunkten findet sich hier mit 20 Prozent ein höherer Anteil an ambivalenten Einschätzungen und immerhin fast elf Prozent der Befragten beurteilen eine solche Reform negativ. Nahezu identische Befunde zeigen sich hinsichtlich der Einschätzungen zu Erleichterungen bei den Kosten der Unterkunft. Rund 60 Prozent der Befragungspersonen fänden es gut, wenn das Jobcenter für einen Zeitraum von zwei Jahren die tatsächlichen Kosten der Unterkunft übernimmt. Auch hier gibt es mit gut einem Fünftel verhältnismäßig viele ambivalente Urteile, wohingegen rund 13 Prozent dies ablehnen. Ähnliche Befunde ergeben sich auch mit Blick auf die Frage nach der Anrechnung privater Vermögen in den ersten beiden Bezugsjahren bei erstmaliger Langzeitarbeitslosigkeit: Auch hier sind es rund 60 Prozent der Befragungspersonen, die es befürworten, wenn für einen Zeitraum von zwei Jahren Leistungen der Grundsicherung unabhängig vom eigenen Vermögen gewährt werden. Demgegenüber äußern sich 19 Prozent ambivalent und 13 Prozent ablehnend.
Zu guter Letzt finden sich zwei Reformpunkte mit etwas geringerer Zustimmung und etwas größerer Ablehnung. Ein grundsätzlicher Verzicht auf Sanktionen – also auch über den jetzt geplanten Zeitraum von zwölf Monaten hinaus – wird von einer knappen Mehrheit der Befragten (53 Prozent) befürwortet. Rund 22 Prozent äußern sich diesbezüglich ambivalent, wohingegen mit 22 Prozent mehr als ein Fünftel der befragten Personen einen grundsätzlichen Verzicht auf Sanktionen im SGB II ablehnt. Die Befunde zeigten sich in tendenziell ähnlicher Form bereits in einer VorgängerstudieVgl. Beckmann et al. (2021b), a.a.O., 5f. und deuten an, dass das kontroverse Thema Sanktionen auch unter den Leistungsbeziehenden selbst unterschiedlich beurteilt wird. Ein ähnliches Bild zeigt sich mit Blick auf die Frage, wie eine Offenlegung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse anderer Haushaltsmitglieder gegenüber dem Jobcenter seitens der Langzeitarbeitslosen beurteilt wird. Eine knappe Mehrheit von 51 Prozent fände es gut, wenn Leistungsbeziehende die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der anderen Haushaltsmitglieder nicht offenlegen müssten, wohingegen dies zugleich 21 Prozent ambivalent und 18 Prozent ablehnend beurteilen.
Zusammenfassend weisen die Befunde darauf hin, dass die verschiedenen Aspekte einer Grundsicherungsreform seitens der Langzeitarbeitslosen mehrheitlich begrüßt werden. Angesichts der Tatsache, dass die Reformen Erleichterungen und Verbesserungen für Leistungsbeziehende nach sich ziehen würden, war das durchaus erwartbar. Allerdings zeigt sich eine bemerkenswerte Differenzierung und Priorisierung der einzelnen Reformpunkte: Besonders hohe Zustimmung finden solche Vorhaben, die die materielle Lage der Langzeitarbeitslosen verbessern und einen (höheren) Hinzuverdienst durch Erwerbseinkommen ermöglichen. Gleichzeitig finden sich in den Ergebnissen auch viele Ambivalenzen und zum Teil negative Einschätzungen von Reformvorhaben wieder, die besonders jene Punkte betreffen, die eine Bedingungslosigkeit implizieren. Gerade die im Vergleich geringste Zustimmung zu einer dauerhaften Aussetzung von Sanktionen und einem Verzicht auf die Überprüfung von Einkommens- und Vermögensverhältnissen deutet an, dass Langzeitarbeitslose hinsichtlich ihrer Wert- und Gerechtigkeitsorientierungen keineswegs eine homogene Gruppe sind, sondern hier auch kontroverse Vorstellungen von Fairness und Solidarität anzutreffen sind. Diese sind aber bei einem Teil durchaus selektiv und an Voraussetzungen gebunden – etwa die Befolgung gewisser „Spielregeln“ im Umgang mit den Jobcentern oder die Inpflichtnahme von Leistungsbeziehenden, die sich anderweitig materiell absichern können.
Ein weiterer Fragenblock widmete sich der individuellen Situation und den Problemwahrnehmungen von Langzeitarbeitslosen sowie deren Zeitnutzung. Sie äußerten auch, ob und inwieweit sie vielfältigen Klischees sowie Stereotypen gegenüber Hartz-IV-Beziehenden zustimmen. 42 Prozent der Leistungsbeziehenden stimmen demnach „voll und ganz“ oder „eher“ der Aussage zu, dass sie sich für den Hartz-IV-Bezug schämen (Abbildung 2). Mehr als die Hälfte bestätigt persönlich das Gefühl, dass man als Hartz-IV-Bezieherin oder -Bezieher nicht richtig zur Gesellschaft gehöre. Zugleich schätzen mehr als vier Fünftel der Langzeitarbeitslosen sehr, dass sie auf die finanziellen Hilfen und Beratungsangebote des Jobcenters zählen können. 69 Prozent verneinen die Aussage, dass es ihnen schwerfalle, die Vorschriften und Vorgaben des Jobcenters einzuhalten; lediglich 19 Prozent stimmen dieser Aussage zu. Allerdings überrascht zugleich, dass immerhin annähernd zwei Drittel aller Langzeitarbeitslosen „voll und ganz“ oder „eher“ der Aussage zustimmen, dass es viele Hartz-IV-Beziehende gäbe, die das System ausnutzen würden. An dieser Stelle muss offenbleiben, ob diese vergleichsweise hohe Zustimmung auf eigenen persönlichen Erfahrungen beruht oder schlicht auf ungeprüften Fremdberichten von FreundInnen oder aus Medien basiert.
Im Rahmen der Studie wurde zudem ein Fokus auf die Zeitnutzung der Langzeitarbeitslosen gelegt (Tabelle). Dies ist aus zweierlei Gründen von Bedeutung: Zum einen ergeben sich daraus Aufschlüsse zum „Aktivitätsgrad“ der Langzeitarbeitslosen, außerdem zum Grad der sozialen und gesellschaftlichen Integration. Zum anderen lassen sich hieraus indirekt auch Ansätze für mögliche Reformen der Grundsicherung und Potenziale für Re-Integrationsmaßnahmen ableiten.
Anteil der Befragten in Prozent
Mindestens einen Werktag pro Woche | darunter: | seltener | ||||
---|---|---|---|---|---|---|
täglich | drei bis vier Tage pro Woche | zwei Tage pro Woche | höchstens einmal pro Woche | |||
Jobsuche | 67 | 9 | 34 | 11 | 13 | 27 |
Angelegenheiten mit Behörden klären (Post, Telefonieren, Termine) | 49 | 2 | 13 | 17 | 17 | 46 |
Weiterbilden, neue Dinge lernen, im Internet recherchieren | 62 | 13 | 17 | 19 | 13 | 33 |
Aufgaben im Haushalt erledigen (z.B. um Kinder kümmern, kochen, putzen) | 96 | 75 | 15 | 5 | 1 | 3 |
Ehrenamtliches Engagement oder anderen Menschen helfen (z.B. NachbarInnen) | 41 | 9 | 11 | 8 | 13 | 48 |
Geringe Hinzuverdienste, kleine Jobs übernehmen | 35 | 5 | 8 | 11 | 11 | 53 |
Freizeitaktivitäten wie Sport, Hobbies oder Spiele | 64 | 12 | 25 | 19 | 8 | 28 |
Medien nutzen, vor allem zur Unterhaltung (Smartphone, TV, Computer, Streaming) | 88 | 42 | 30 | 12 | 4 | 9 |
Anmerkungen: Gewichtete Ergebnisse. Die Fallzahl beträgt 563; an 100 Prozent fehlende Anteile entfallen auf „keine Angabe“.
Quelle: Befragung Langzeitarbeitsloser aus acht Jobcentern in Nordrhein-Westfalen vom 21. März bis 16.Mai 2022.
Die Befunde offenbaren zuvorderst, dass wie zu erwarten vor allem alltagstypische und alltagsnotwendige Tätigkeiten wie die Erledigung von Aufgaben im Haushalt oder die private Mediennutzung zu Unterhaltungszwecken weit verbreitet sind und mehrheitlich an mindestens drei bis vier Werktagen pro Woche stattfinden. Demgegenüber spielen Freizeitaktivitäten sowie Weiterbildungs- und Lerntätigkeiten eine geringere Rolle. Gleichwohl gehen 64 Prozent der Befragten mindestens einmal pro Woche einer Freizeitaktivität wie Sport, Hobbies oder Spielen nach und 62 Prozent beschäftigen sich mindestens einmal pro Woche mit Weiterbildung, Lernen oder Internetrecherchen. Rund die Hälfte gibt zudem an, mindestens einmal wöchentlich Angelegenheiten mit Behörden und Verwaltungen zu klären.
Für die Frage nach Perspektiven der Arbeits(markt)integration sind vor allem damit zusammenhängende Tätigkeiten von Interesse. Die Suche nach einem Job ist für neun Prozent der Langzeitarbeitslosen werktäglicher Bestandteil der eigenen Aktivitäten. 34 Prozent beschäftigen sich mit der Jobsuche an mindestens drei bis vier Werktagen pro Woche. Insgesamt geben 67 Prozent der Langzeitarbeitslosen an, mindestens einmal an einem Werktag pro Woche nach einem Job zu suchen. Gleichzeitig machen die Befunde auch deutlich, dass viele Langzeitarbeitslose keineswegs völlig ohne Ausübung gesellschaftlich notwendiger Tätigkeiten „inaktiv“ ihre Zeit verbringen. So gaben rund 41 Prozent der Langzeitarbeitslosen an, jenseits von regulärer Erwerbsarbeit im ersten Arbeitsmarkt mindestens einmal pro Woche einer ehrenamtlichen Tätigkeit nachzugehen oder anderen Menschen (beispielsweise NachbarInnen) zu helfen.Dieser Wert liegt höher als im aktuellen Freiwilligensurvey. Vgl. hierzu Julia Simonson et al. (2022): Freiwilliges Engagement in Deutschland. Der Deutsche Freiwilligensurvey 2019. Berlin. DZA. Dieser Befund kann vor allem auf hohe Anteile an informellen Hilfen in Nachbarschaft und Bekanntenkreis und weniger auf formelle Engagementtätigkeiten in zivilgesellschaftlichen Organisationen zurückgeführt werden. 35 Prozent der Befragten verdienen sich mindestens einmal pro Woche etwas dazu oder übernehmen kleinere Jobs.
Dieser vergleichsweiseObwohl es sich bei der ausgewählten Gruppe um ausschließlich Langzeitarbeitslose gemäß § 18 SGB III handelte, kann nicht ausgeschlossen werden, dass bei einem gewissen Anteil der Befragten von Tätigkeiten in Maßnahmen berichtet wurde. hohe Anteil kann in zweierlei Hinsicht interpretiert werden: Auf der einen Seite zeigt der Befund, dass informelle Hinzuverdienste in der Schattenwirtschaft für Arbeitslose und AuftraggeberInnen gleichermaßen attraktiv zu sein scheinen. Auf der anderen Seite dürfte es sich um das Resultat unattraktiver Hinzuverdienstmöglichkeiten für ALG-II-Beziehende handeln, denen ein großer Teil des hinzuverdienten Geldes aufgrund der Verrechnung mit den Transferleistungen wieder abgenommen wird. Hierzu passt auch das Ergebnis, wonach Langzeitarbeitslose verbesserten Hinzuverdienstmöglichkeiten eine zentrale Bedeutung bei einer Grundsicherungsreform beimessen. Die Ergebnisse erlauben freilich keine weitergehenden Analysen, wann im Prozess der Langzeitarbeitslosigkeit solche Jobs aufgenommen wurden und ob die Langzeitarbeitslosen aufgrund der Ausübung solcher Gelegenheitsjobs vom Jobcenter eher in Ruhe gelassen werden wollen.Eine entsprechende Frage danach, ob die Langzeitarbeitslosen sich vom Jobcenter wünschen „in Ruhe gelassen zu werden“, haben knapp zwei Drittel der Langzeitarbeitslosen verneint. Lediglich 16 Prozent haben der Aussage zugestimmt.
Die Befragungsergebnisse von Langzeitarbeitslosen aus acht Jobcentern in Nordrhein-Westfahlen deuten auf eine vergleichsweise hohe Akzeptanz der vorgesehenen Überführung des früheren „Hartz-IV-Systems“ in ein neues „Bürgergeldgesetz“ hin. Die hohe Priorität für eine Erhöhung des Regelsatzes macht deutlich, wie sehr die in den vergangenen Monaten deutlich gestiegenen Preise vor allem für Strom und Energie insbesondere Menschen mit wenig Geld zusätzlich zu schaffen machen. Zwar wurden Hartz-IV-Beziehende im Maßnahmenpaket des Bundes zum Umgang mit den hohen Energiekosten mit insgesamt 200 Euro je SozielleistungsempfängerInDie 200 Euro stehen Beziehenden in der Regelbedarfsstufe 1 und 2 zu (vgl. § 73 SGB II). Eine vergleichende Analyse der im Sommer wirksamen Entlastungspakete zeigt, dass Menschen in der Grundsicherung „sehr deutlich entlastet“ werden. Vgl. Sebastian Dullien, Katja Rietzler und Silke Tober (2022): Die Entlastungspakete der Bundesregierung – ein Update. IMK Policy Brief Nr. 126 (online verfügbar). berücksichtigt. Vermutlich bedarf es aber einer baldigen weiteren Brückenentlastung noch in diesem Jahr, bevor zum 1. Januar 2023 die Regelbedarfe um die hohen Preissteigerungen im Jahr 2022 angepasst und entsprechend erhöht werden können.
Eine direkte Verbesserung der Zuverdienstmöglichkeiten dürfte mit dem Inkrafttreten des Bürgergeldgesetzes noch nicht erfolgen, jedoch hat die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag verabredet, die Transferentzugsraten so zu verbessern, dass künftig Grundbelastungen von 100 und mehr Prozent ausgeschlossen werden. Hierzu bleibt abzuwarten, welche Reformmodelle von einer noch einzusetzenden unabhängigen Kommission erarbeitet und vermutlich erst zum Ende der Legislaturperiode umgesetzt werden.
Dass viele Langzeitarbeitslose ehrenamtlich engagiert sind oder nachbarschaftliche Hilfe leisten, könnte die Wertschätzung solcher Aktivitäten verbessern. Schon heute besteht die MöglichkeitGemäß der Regelung des § 11b SGB II in Verbindung mit § 3 Nr. 26, 26a ESTG., ehrenamtliche Tätigkeiten in Form eines höheren Freibetrags (175 statt 100 Euro) monetär zu fördern. Die Jobcenter könnten Langzeitarbeitslosen gezielt Angebote zur Ausübung ehrenamtlicher Tätigkeiten anbieten, um die soziale Integration und gesellschaftliche Wertschätzung zu verbessern. Zumdem wäre zu prüfen, inwieweit Langzeitarbeitslosen bei der Ausübung ehrenamtlicher Tätigkeiten finanziell stärker entgegengekommen werden kann, etwa bei anrechnungsfreien Aufwandsentschädigungen und Einnahmen.
Das im Frühjahr verabschiedete Sanktionsmoratorium sieht vor, dass für die Dauer von einem Jahr keine Leistungsminderungen verhängt werden dürfen. Lediglich die Verletzung von Mitwirkungspflichten wie Terminversäumnisse werden weiterhin sanktioniert. Eine Mehrheit der Befragten (53 Prozent) spricht sich in der Befragung für einen grundsätzlichen Verzicht auf Sanktionen aus, also auch über den jetzt beschlossenen Zeitraum von zwölf Monaten hinaus. Es erscheint fraglich, ob mit Hilfe eines zwölfmonatigen Moratoriums abschließend und sachgemäß beantwortet werden kann, ob Sanktionen wirksam sind. Das hatte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom November 2019 angemahnt und entsprechende evidenzbasierte Studien gefordert. Bei der Anhörung im Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales sind diesbezüglich grundsätzliche Differenzen zu Tage getreten.Vgl. die unterschiedlichen Sachverständigenvoten in der 14. Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Soziales vom 16. Mai 2022 (online verfügbar). Auch deshalb sollte die Politik zeitnah prüfen, ob die Sanktionsfreiheit in ausgewählten Jobcentern längere Zeit als wissenschaftlich begleitetes Modellprojekt fortgeführt werden kann, um anschließend eine belastbare Evaluierung zur Wirksamkeit von Sanktionen vorzulegen.
Themen: Verteilung, Ungleichheit
JEL-Classification: D01;J28;J64
Keywords: transfer reform, long-term unemployment, preferences
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2022-31-1
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/263228