Die Nicht-Energiewende führt den Industriestandort Deutschland ins Desaster: Kommentar

DIW Wochenbericht 43 / 2022, S. 564

Claudia Kemfert

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Mit der Gaskrise geht in Deutschland das Schreckgespenst der Deindustrialisierung um. Dabei waren doch gerade die „billigen fossilen Energien“ das Versprechen einer ewig florierenden deutschen Industrie.

Wer an das fossile Märchen vom billigen Gas geglaubt und die geostrategischen Risiken völlig verdrängt hat, ist geschockt von der Wucht der aktuellen Gaskrise. Nicht die Energiewende, sondern die Nicht-Energiewende führt ins Desaster. Gaskrise, Rezession, Inflation – ein fossiler Albtraum.

Hätte die Industrie vor über 15 Jahren begonnen, ernsthaft in Energieeffizienz zu investieren und auf erneuerbare Energien zu setzen, stände sie nun da wie manches Ökodorf in der Provinz: geopolitisch unabhängig und randvoll mit klimafreundlicher Energie und ausreichenden Fachkräften und Unternehmen vor Ort. Unsere Wirtschaft wäre nachhaltig resilient. Stattdessen haben wir uns damals von billigem Gas aus Russland abhängig gemacht und viel Geld in die Pipelines Nordstream I und II gesteckt. Ein klassisches Stranded Asset.

Dass auch im Industrieland Deutschland eine hundertprozentige Vollversorgung mit erneuerbaren Energien möglich ist, zeigt die Wissenschaft in Studien schon lange. Es wollte nur kaum einer glauben. Zu verlockend schien der fossile Werbefilm, der nur das Beste versprach. Und zu bedrohlich wirkte der propagandistische Energiewende-Horrorfilm, starring: „Zappelstrom“ und „Dunkelflaute“. Aus Sicht nüchterner Wissenschaft waren die Monster lächerlich, doch in den Chefetagen der Wirtschaft wirkte der Grusel. Leider.

Wie oft habe ich gehört: „Eine Industrienation wie Deutschland kann nicht allein mit Wind und Sonne funktionieren“. Wie oft habe ich geantwortet: Muss sie auch gar nicht! Denn zum industrie- und zukunftstauglichen Energie-Mix gehören außer Wind und Sonne auch nachhaltige Biomasse, Erdwärme, Wasserkraft und grüner Wasserstoff. Entscheidend ist das intelligente Zusammenspiel aller Instrumente. Die Energiewende krempelt das Energiesystem um, so wie das Internet das Vertriebssystem umgekrempelt hat. Unternehmen, die an Kohle, Öl und Gas festhalten, sind wie Händler, die auf Verkaufstresen und Registrierkassen beharren.

Der energetische Innovationsschub ist nicht mehr aufzuhalten. Wer klug ist, nutzt ihn als große wirtschaftliche Chance. Dank „Doppel E“, Effizienz und Elektrifizierung, wird der heute benötigte Primärenergiebedarf halbiert. Ein mit Ökostrom betriebenes Elektrofahrzeug oder eine Wärmepumpe sind energetisch effizienter als jeder Verbrenner. So werden Bedarfe und Kosten gesenkt. Wir kennen das Phänomen: Smartphones werden immer kleiner und gleichzeitig immer leistungsstärker. Nur Nostalgiker weinen dem Drehscheibentelefon hinterher.

Die staatlichen Rettungspakete sind bislang nur teure Trostpflaster ohne Perspektive. Die Hilfsgelder sollten besser an zukunftsträchtige Auflagen gekoppelt werden. Elektrifizierung bedeutet, endlich die brachliegenden Einsparpotenziale zu heben. Noch immer bleibt industrielle Abwärme zu oft ungenutzt, noch immer verpufft Energie im Nichts. Der Weckruf des Krieges ist brutal. Aber die deutsche Wirtschaft kann durchaus mit einem blauen Auge davonkommen, wenn sie den lange aufgeschobenen Wandel endlich angeht.

Und wer um den Industriestandort Deutschland fürchtet, dem sei gesagt: Die Industrie bleibt ein wichtiges Standbein der deutschen Wirtschaft. Aber nur, wenn sie modernisiert, digitalisiert, defossilisiert und dekarbonisiert wird. Dafür ist es nicht zu spät. Denn noch immer machen günstige Energie sowie erstklassige Ingenieur*innen und Facharbeiter*innen Produkte „Made in Germany“ zum Welterfolg. Nur muss es jetzt endlich wirklich preiswerte Energie sein – aus erneuerbaren Energien. Dann weht bald wieder der gute Geist der Zuversicht: die nachhaltige Re-Industrialisierung.

Der Beitrag ist am 22. Oktober 2022 online bei Ökonomenstimme erschienen.

Claudia Kemfert

Abteilungsleiterin in der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt

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