Blog Marcel Fratzscher vom 6. Oktober 2023
Schon vor 500 Jahren war die Strategie der Populisten: Ängste schüren und sie für eigene Zwecke missbrauchen. Heute hat diese Methode einen Höhepunkt erreicht.
Die Ängste der Menschen waren selten größer als heute. Trotz hohem Wohlstand schaut die überwältigende Mehrheit der Deutschen mit großem Pessimismus in die Zukunft. Manche dieser Sorgen sind berechtigt, andere sind jedoch irrational oder gar fiktiv. Sie werden von manchen in Politik, Wirtschaft und Medien bewusst geschürt und als Instrument der Macht missbraucht. Denn Angst bedeutet Macht. Die Konsequenzen für Wirtschaft und Gesellschaft sind katastrophal; der ausgelöste Vertrauensverlust die wichtigste Gefährdung für Zukunftschancen und Wohlstand.
Dieser Text erschien am 6. Oktober 2023 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Umfragen zufolge ist die überwältigende Mehrheit davon überzeugt, dass der Lebensstandard in Deutschland in Zukunft sinken wird — über 80 Prozent der Menschen glauben, dass es künftigen Generationen schlechter gehen wird. Das wird von vielen als Bruch mit unserem Gesellschaftsvertrag wahrgenommen, der auf einem Aufstiegsversprechen und Chancengleichheit beruht.
Die größten Ängste betreffen laut ARD-Deutschlandtrend vom August die Wirtschaft, gefolgt von Sorgen um Zuwanderung und Migration. Dabei könnte die Diskrepanz zwischen Realität und Stimmung kaum größer sein. Der Pessimismus heute ist weiter verbreitet als in den Nullerjahren, als Deutschland mit über fünf Millionen Arbeitslosen als der sogenannte kranke Mann Europas galt, und ähnlich groß wie in der globalen Finanzkrise 2008/09. Deutschland hatte nie mehr Menschen in Arbeit als heute. Die deutsche Wirtschaft hat in den Jahren nach 2010 ein goldenes Jahrzehnt erlebt – nicht trotz, sondern auch wegen einer starken Zuwanderung vieler junger Europäerinnen und Europäern –, viele Industriekonzerne konnten ihre globalen Marktanteile erhöhen und die Löhne sind zum Teil deutlich gestiegen. Auch 2022 und 2023 fahren viele Unternehmen ordentliche Gewinne ein, eine Deindustrialisierung ist trotz vieler Unkenrufe bisher keine Realität.
Dennoch sind viele Sorgen berechtigt. Für existenzielle Unsicherheit haben die Pandemie, die Inflation und der Angriff Russlands auf die Ukraine gesorgt. Menschen mit geringen und mittleren Einkommen leiden heute stark unter den stark steigenden Preisen. Viele realisieren, dass die ökologische und digitale Transformation unsere Lebensweise stark verändern wird, was nicht nur Chancen, sondern auch Risiken und Verzicht bedeutet. Gerade bei jungen Menschen sind die Zukunftssorgen berechtigt, viele nehmen den Klimawandel als das wahr, was er ist: als existenzielle Bedrohung.
Manche Ängste sind jedoch stark übertrieben oder irrational. Sie werden bewusst von einigen in Politik, Wirtschaft und Medien geschürt und instrumentalisiert, um ihre Macht zu verteidigen. Denn ängstliche Menschen lassen sich leichter manipulieren. Robert Peckham beschreibt in seinem neuen Buch Fear: An Alternative History of the World, wie Könige, Kaiser, Diktatoren und die Kirchen über Jahrhunderte Ängste geschürt und instrumentalisiert haben.
Dabei ist Angst eigentlich eine inhärente und notwendige Eigenschaft des Menschen, die ihn gegenüber Gefahren sensibilisiert und schützt. Ängste schaffen aber auch Abhängigkeit von anderen Menschen oder Institutionen, die Schutz, Sicherheit und Lösungen versprechen, auch wenn solche Versprechen nicht erfüllt werden. Sie bereiten den Boden für Loyalität und die Suche nach einer gemeinsamen Identität in einem Feindbild als Reaktion gegen die (vermeintlichen) Ursachen dieser Ängste. Das waren früher Ungläubige, der Teufel oder Hexen, heute sind es Klimaaktivisten, Eliten oder Wissenschaftlerinnen aus dem Elfenbeinturm. Indem politische oder wirtschaftliche Akteure reale oder irrationale Ängste hochstilisieren, so Peckham, können sie ihre Macht besser zementieren als mit gutem Regieren oder der Bewältigung von Ängsten. Ängste werden mobilisiert, um den Status quo zu erhalten und Veränderungen zu verhindern — damals wie heute.
Martin Luther und die Erfindung des Buchdrucks sowie später die Aufklärung bedrohten die katholische Kirche und den Papst enorm, weil sie eine Alternative zum bisherigen Weltbild schufen und die Verbreitung von Wissen, Vernunft und Rationalität es schwerer machte, Menschen zu manipulieren. Robert Peckham beschreibt, wie Ängste auch heute noch von mächtigen Gruppen instrumentalisiert und missbraucht werden, nicht nur in autokratischen Regimen wie im Iran, in Russland oder China, sondern auch in westlichen Demokratien.
Dabei funktionierte die Strategie der Populisten, Ängste zu schüren und zu instrumentalisieren, vor 500 Jahren ähnlich wie heute: Es werden Verallgemeinerungen verbreitet, bei denen Einzelfälle als die Norm dargestellt werden. Durch Verbrechen einzelner Ausländer werden alle Menschen mit Migrationshintergrund unter Generalverdacht gestellt und Zuwanderung generell abgelehnt. Durch den einzelnen Missbrauch bei Sozialleistungen werden alle Beziehenden in Kollektivhaftung genommen und Forderungen nach Leistungskürzungen und harte Sanktionen für alle werden salonfähig.
Die Verbreitung alternativer Fakten ist ein weiteres Instrument der Populisten. Es ist bemerkenswert, wie das Narrativ zum Schutz von Klima und Umwelt in Teilen der Bevölkerung und Teilen des politischen Mainstreams ins Gegenteil verkehrt wurde: Klimaschutz wird von vielen mit dem Verlust von Wohlstand, Lebensstandard und wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit gleichgesetzt – nicht mit dessen Schutz. Die Konsequenz ist, dass ein erheblicher Anteil der Menschen den Umstieg auf erneuerbare Energien ablehnt, am Verbrennungsmotor oder der Gasheizung festhalten will und überzeugt ist, dass Klimaschutzmaßnahmen ineffektiv oder unnötig sind.
Teil der Strategie der Populisten ist es, die verletzlichsten Gruppen der Gesellschaft systematisch gegeneinander auszuspielen. Gerade die AfD hat beachtlichen Erfolg damit, Ängste zu schüren und die eigenen Wählenden – die selbst zu den verletzlichen Gruppen zählen – zu überzeugen, eine Ausgrenzung von noch schwächeren Minderheiten würde ihnen selbst helfen. Viele realisieren nicht, dass eine Kürzung von Sozialleistungen, Steuersenkungen für Unternehmen und Topverdienerinnen oder eine Abschottung von der internationalen Wirtschaft gerade den AfD-Wähler am meisten schaden würden. Ein solcher Populismus mag das Gefühl der Identität und des Zusammenhalts stärken, aber es löst keine Probleme, sondern schafft neue Konflikte.
Die Populisten könnten nun auch in Deutschland die Oberhand gewinnen. Mit Blick auf die USA und die Stärke der AfD springen immer mehr Politikerinnen und Politiker demokratischer Parteien auf den Zug des Populismus auf und machen Teile der AfD-Agenda zu ihrer eigenen: Die Aufweichung von Klimaschutzmaßnahmen bei Heizungen, Verbrennungsmotor oder Abgasnormen, der Versuch der Aushöhlung sozialer Leistungen (bei der Kindergrundsicherung oder beim Bürgergeld), die Ausgrenzung von und Abschottung gegenüber Ausländern und Geflüchteten (siehe die Kehrtwenden bei Grenzkontrollen und europäischer Asylpolitik) und die Schwächung europäischer Institutionen sind vier konkrete Beispiele.
Auch mächtige Industriekonzerne schüren Ängste eines Niedergangs der deutschen Wirtschaft, auch mit dem Ziel, der Politik weitere riesige Subventionen oder Steuererleichterungen aus den Rippen zu leiern. Dies wird jedoch langfristig weder Arbeitsplätze noch Wohlstand sichern, sondern die notwendige Transformation bei Digitalisierung und Umweltschutz verschleppen und den Wirtschaftsstandort schwächen. Zudem ist das Schüren von Ängsten zunehmend das Geschäftsmodell mancher Medien, die verstanden haben, dass Angst zu Aufmerksamkeit und damit zu Gewinnen und Macht führt.
Man kann versuchen, diese politischen Kehrtwenden als Pragmatismus zu verteidigen, oder man kann sie als das sehen, was sie sind: eine Kapitulation der Vernunft und des Humanismus gegenüber dem Populismus.
Die Konsequenzen dieser Instrumentalisierung von Ängsten sind katastrophal. Sie führt zu einer Polarisierung der Gesellschaft, die unüberbrückbare Differenzen aufbaut und somit Kompromisse und Lösungen immer schwieriger macht. Der Populismus verschärft den Verteilungskampf, dessen Gewinner unweigerlich die privilegierten Gruppen sind, die Arbeitgebenden gegenüber Beschäftigten, Menschen mit hohen Einkommen, guter Bildung und Mobilität gegenüber Menschen ohne diese Privilegien.
Und der Populismus führt zu Protektionismus und Paralyse auch in Bezug auf die Wirtschaftspolitik. Unternehmen klagen zu Recht über die enorme wirtschaftliche Unsicherheit, die dringend notwendige Investitionen kaum ökonomisch sinnvoll erscheinen lässt. Aber gleichzeitig tragen die mächtigen Wirtschaftslobbyisten selbst zu dieser Unsicherheit bei, indem sie Ängste vor Deindustrialisierung und immanenter Krise schüren. Anstatt eigene Fehler einzuräumen und dafür Verantwortung zu übernehmen, schieben sie die alleinige Verantwortung auf die Politik, die jedoch keines der Probleme allein lösen kann.
Auch wenn viele sich zu Recht sorgen – Deutschland steht an einer wichtigen Wegscheide –, sind das Schüren und die Instrumentalisierung von Ängsten und die damit verbundene Polarisierung der Gesellschaft kontraproduktiv. Sie verhindern notwendige Veränderungen, meist mit dem Ziel des eigenen Machterhalts zulasten künftiger Generationen und der verletzlichsten Gruppen der Gesellschaft. Es gilt, den Populismus zu entlarven sowie konstruktive Lösungen und soziale Akzeptanz für die dringend benötigte Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft zu finden. Dafür tragen die Vertreter von Wirtschaft und Gesellschaft genauso Verantwortung wie die demokratischen Parteien. Aufklärung und Vertrauen zu schaffen sind schwierige Herausforderungen, aber sie sind unsere einzige Chance, die multiplen Krisen unserer Zeit zu bewältigen.
Themen: Migration