DIW Wochenbericht 44 / 2023, S. 618
Christian von Hirschhausen, Erich Wittenberg
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Herr von Hirschhausen, Sie und auch viele andere Wissenschaftler*innen haben schon vielfach darauf hingewiesen, dass Kernenergie teuer, nicht wettbewerbsfähig und mit vielen Risiken verbunden ist. Warum gibt es dennoch Studien, die von einer zunehmenden Bedeutung der Atomenergie ausgehen? Die internationale Atomenergie-Organisation (IAEO), die 1953 von dem damaligen US-Präsidenten Eisenhower ins Leben gerufen wurde, hat zwei Funktionen. Zum einen soll sie weltweit nukleare Sicherheit realisieren, zum anderen hat sie jedoch den Geburtsfehler, dass sie Länder zur Nutzung von Uran- und Plutoniumreaktoren anreizen soll. Deshalb kreiert sie ihre eigenen Wunschvorstellungen, insbesondere zur Durchsetzung der Plutoniumwirtschaft in Form von Energieszenarien, um diese Ziele der Ausweitung der Kapazität, die heute nicht mehr zeitgemäß sind, zu verfolgen.
Ist es so, dass hier im Grunde genommen alte Konzepte als neue Ideen verkauft werden? Die Idee, Plutonium auch zur Stromproduktion zu nutzen, ist in den 1940er Jahren entstanden. Die ersten Reaktoren in den USA und in Russland waren auch Plutonium-Brutreaktoren. In Deutschland hat man dann später versucht, den berühmten Plutonium-Brutreaktor in Kalkar zu entwickeln. Von daher handelt es sich um eine uralte Technologie, die jetzt von Bill Gates in Wyoming unter dem Namen TerraPower mal wieder getestet wird. Es ist auch nicht auszuschließen, dass dort in 30 bis 40 Jahren ein kommerzielles Kraftwerk steht. Auszuschließen ist aber, dass es sich wirtschaftlich lohnt und dass wir auf absehbare Zeit – in der Regel noch in diesem Jahrhundert – einen Ort finden, an dem die radioaktiven Abfälle endgelagert werden können.
Von welchen Zuwachsraten wird in den besagten Szenarien ausgegangen? Glenn Seaborg ging als Präsident der US-Atomenergiekommission davon aus, dass im Jahr 2015 in etwa 2000 Gigawatt produziert werden. Heute werden in den gesamten USA weniger als 100 Gigawatt genutzt. Wolf Häfele in Karlsruhe und dann später am Internationalen Institut für angewandte Systemanalyse hat in einer Studie von 5000 Kernreaktoren gesprochen, von denen die meisten Plutoniumbrüter sein sollten. Heute gehen die meisten Szenarien davon aus, dass die aktuelle Produktion von knapp 3000 Terawattstunden bis 2050 auf über das Doppelte steigt und dann bis zum Jahr 2100 auf über das Vierfache. Wir wären dann im Bereich von 12000 Terawattstunden, der überwiegende Anteil davon aus sogenannten Advanced Reactors, das sind unter anderem Plutonium-Brutreaktoren. Seit 1940 erforscht, bis heute nicht wirtschaftlich und natürlich hochgefährlich.
Von welchen Zuwachsraten gehen Sie aus? Aus energiewirtschaftlicher Sicht muss man davon ausgehen, dass Atomenergie, die derzeit etwa zehn Prozent der weltweit erzeugten Strommenge ausmacht, relativ schnell auf null geht, weil sich Atomenergie nicht rechnet. Wir beobachten auch, dass nur noch wenige Kraftwerke gebaut werden. Insbesondere der Sprung vom Leichtwasserreaktor, der vor allem Uran 235 nutzt, zur Plutoniumwirtschaft, bei der eine 60fach bessere energetische Ausnutzung erwartet wird, ist aus heutiger Sicht nicht absehbar.
Was bedeuten Ihre Ergebnisse für künftige energiepolitische Entscheidungen? Es gibt Interessengruppen, die den Schulterschluss zwischen der militärischen und der kommerziellen Nutzung suchen. Nicht nur die IAEO, sondern auch andere UN-Organisationen versuchen, Atomenergie als nachhaltig zu deklarieren. Von daher wird die Diskussion bleiben, aber sie wird aus der kommerziellen Entwicklung in Richtung Rückbau und Zwischen- und Endlagerung gehen müssen, denn Plutonium 239 hat eine Halbwertszeit von 24000 Jahren. Das bedeutet, dass die Abfälle, zumindest laut deutschem Standortauswahlgesetz, mindestens eine Million Jahre sicher gelagert werden müssen.
Das Gespräch führte Erich Wittenberg.