Blog Marcel Fratzscher vom 2. Juni 2023
Viele Zentralbanken werden sich weiter schwertun, Preisstabilität zu erreichen. Die EZB sollte ihr quantitatives Inflationsziel daher besser aufgeben, fordert Marcel Fratzscher.
Pandemie, Energiekrise und jetzt Bankenprobleme zeigen eindrucksvoll das Ausmaß, in dem Zentralbanken mehr und mehr die Kontrolle über ihr Mandat der Preisstabilität verlieren. Diese Zeiten multipler Krisen in einer zunehmend global vernetzten Wirtschaft erfordern ein Umdenken und einen Strategiewechsel von Zentralbanken.
Vier Gründe erschweren es vielen Zentralbanken zunehmend, Preisstabilität verlässlich und dauerhaft zu sichern – und diese dürften in Zukunft an Bedeutung gewinnen.
Als Erstes erfordert die duale Transformation der Wirtschaft in Bezug auf Klimaschutz und Digitalisierung massive Investitionen und große Anpassungen relativer Preise. Die steigende Nachfrage nach Rohstoffen für die Transformation hat einen neuen Superzyklus bei Rohstoffen ausgelöst.
Dieser Gastkommentar erschien am 2. Juni 2023 beim Handelsblatt.
Diese Transformation wird unweigerlich nicht nur mit einer hohen Volatilität, sondern auch mit einer dauerhaft höheren Inflation verbunden sein, ohne dass Zentralbanken viel daran ändern könnten oder sollten.
Der zweite Grund ist die Zunahme von Krisen und globalen Abhängigkeiten. Wie die gegenwärtige Energiekrise zeigt, können Zentralbanken mittelfristig kaum etwas gegen eine importierte Inflation ausrichten.
Die Neugestaltung globaler Lieferketten wird nicht nur den Druck auf Preise erhöhen, sondern auch die Globalisierung und damit die Abhängigkeiten eher verstärken. Externe Faktoren werden somit immer stärker die einheimische Inflation beeinflussen. Damit dürfte die Kontrolle der Zentralbanken über die Inflation weiter erodieren.
Drittens dürfte der Faktor Finanzstabilität den Spielraum der Zentralbanken einschränken. Der Kollaps verschiedener Banken in den USA und in Europa in den letzten Wochen zeigt, dass Zentralbanken auch in ihrem Mandat der Preisstabilität verstärkt Augenmerk auf die Finanzstabilität legen müssen. Denn Finanzkrisen und Finanzmarktturbulenzen waren und werden weiterhin mit die größte Gefahr für die Preisstabilität sein.
Die vierte Ursache für die Schwierigkeiten der Zentralbanken sind die hohen und zunehmenden globalen Ungleichgewichte, vor allem in Bezug auf die Staatsverschuldung. Damit nimmt auch die fiskalische Dominanz der nationalen Regierungen zu, die von Zentralbanken ernst genommen werden muss – nicht um Staaten die Finanzierung der Schulden zu ermöglichen, sondern um Preisstabilität gewährleisten zu können.
Wie sollten Zentralbanken auf diese neue Realität reagieren? Die Strategie vieler Notenbanken war es bisher, sich noch stärker an ihr Mandat der Preisstabilität zu binden. Pandemie und Energiekrise zeigen jedoch, dass dies ein Irrweg ist.
Denn je länger und stärker Zentralbanken ihr Inflationsziel verfehlen, desto mehr verlieren sie an Glaubwürdigkeit – und damit die Fähigkeit, Erwartungen zu verankern und wirtschaftliche Akteure in die gewünschte Richtung zu steuern. Es ist extrem kostspielig und schwierig, diese Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen, wenn sie einmal verloren ist.
Zentralbanken sollten daher ihre Strategie überdenken und neu ausrichten. Anstatt sich eng an ein immer weniger realistisches Ziel zu binden, wäre es klüger, sich mehr Diskretion und Flexibilität zur langfristigen Erreichung der Preisstabilität zu gewähren.
Eine Inflationsrate von beispielsweise drei Prozent ist per se wirtschaftlich nicht schädlich, solange Zentralbanken auch kommunizieren, dass sie mit einer solchen Inflationsrate einverstanden sind und sich wirtschaftliche Akteure auf eine stabile Inflationsrate und Finanzierungsbedingungen verlassen können.
Die US-Notenbank hat mit ihrem dualen Mandat von Preisstabilität und Vollbeschäftigung deutlich mehr Flexibilität als die EZB, die sich auf ein symmetrisches Mandat von zwei Prozent Inflation in der mittleren Frist festgelegt hat.
Klüger wäre es, ein quantitatives Inflationsziel aufzugeben und Finanzstabilität viel expliziter in der eigenen Strategie zu verankern. Dies würde mehr Transparenz bedeuten, einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung von Erwartungen leisten und letztlich die Glaubwürdigkeit von Zentralbanken schützen.
Es ist an der Zeit, dass sich Zentralbanken eingestehen, dass sie in dieser neuen Welt, die zunehmend von Transformation, Finanzinstabilität und globalen Ungleichgewichten bestimmt wird, einen Teil ihres Einflusses auf die Preisstabilität verloren haben.
Diese neue Realität erfordert keine Beschneidung der Unabhängigkeit von Zentralbanken – wie von manchen gefordert –, sondern mehr Pragmatismus und eine Anpassung der geldpolitischen Strategie. Je früher die Zentralbanken damit beginnen, desto besser.
Themen: Finanzmärkte , Öffentliche Finanzen