DIW Wochenbericht 20 / 2024, S. 291-299
Ludger Baba, Marco Schmandt, Constantin Tielkes, Felix Weinhardt, Katrin Wilbert
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„Die Wohnsitzregelung soll nicht nur den Zuzug in stark ausgelastete Orte vermeiden, sondern auch die Integration in den Bereichen Arbeit, Wohnen, Soziales und Sprache fördern. Tatsächlich aber können wir anhand unserer Daten keine integrationsfördernden Effekte feststellen. Tendenziell sind die Effekte sogar eher negativ, etwa auf dem Wohnungsmarkt und auf dem Arbeitsmarkt.“ Felix Weinhardt
Mehrere Millionen Menschen sind in den vergangenen Jahren nach Deutschland geflüchtet. Viele Städte und Gemeinden stellt das mit Blick auf die Unterbringung der Geflüchteten und deren Integration vor große Herausforderungen. Um eine Überlastung zu verhindern und die schutzsuchenden Menschen gleichmäßiger in Deutschland zu verteilen, ist im Jahr 2016 die sogenannte Wohnsitzregelung in Kraft getreten. Seitdem müssen Geflüchtete – von Ausnahmen abgesehen – noch mindestens drei Jahre, nachdem ihnen der Schutzstatus zugesprochen wurde, am Ort des Asylverfahrens wohnen. Auf Basis der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten in Deutschland und einem Forschungsdatensatz des Ausländerzentralregisters geht dieser Wochenbericht der Frage nach, welche Folgen diese Regelung hat. Demnach fördert die Wohnsitzregelung die Integration nicht und beschert Geflüchteten auf dem Wohnungsmarkt und auf dem Arbeitsmarkt stattdessen eher Nachteile. Gleichzeitig ist ihre Steuerungswirkung begrenzt. Die Wohnsitzregelung senkt den Anteil der Geflüchteten, die überhaupt umziehen, von 42 auf 30 Prozent. Von diesen zieht wiederum deutlich weniger als die Hälfte an überlastete Orte. Einem Großteil der Geflüchteten wird ein Wohnortwechsel pauschal verwehrt, obwohl er mit Blick auf die Belastung der Integrationsinfrastruktur unproblematisch wäre. Hinzu kommt ein hoher Verwaltungsaufwand. Die Wohnsitzregelung sollte aus diesen Gründen dringend reformiert werden.
In den Jahren 2015 bis 2022 haben rund 2,35 Millionen Geflüchtete in Deutschland Asyl beantragt.Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2023): Das Bundesamt in Zahlen 2022. Asyl, Migration und Integration (online verfügbar; abgerufen am 30. April 2024. Dies gilt auch für alle anderen Onlinequellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt). Vielen dieser Menschen wurde hierzulande ein permanenter Schutzstatus zuerkannt. So hatten laut Ausländerzentralregister Ende 2022 etwa 1,8 Millionen Menschen mehr einen unbefristeten oder befristeten Aufenthaltstitel mit anerkanntem Schutzstatus als noch Ende 2014.
Der Gesetzgeber hat diesen schutzberechtigten Personen eine Reihe von Einschränkungen bei der Wohnortwahl auferlegt. Zunächst werden alle Geflüchteten für die Dauer ihres Asylverfahrens einer Kommune zugeteilt – dort müssen sie dann ihren Wohnsitz nehmen. Die Verteilung erfolgt formal über den Königsteiner Schlüssel nach Bevölkerung und Wirtschaftskraft, wobei in der Realität die Wirtschaftskraft jedoch kaum eine Rolle spielt und der Verteilschlüssel in der Praxis nicht vollständig eingehalten wird.Vgl. Marco Schmandt, Constantin Tielkes und Felix Weinhardt (2023): Königsteiner Schlüssel verteilt Gelder und Aufgaben zwischen Bundesländern kaum nach Wirtschaftskraft. DIW Wochenbericht Nr. 18, 204–209 (online verfügbar). Nachdem ihnen ein Schutzstatus zuerkannt wurde und sie einen entsprechenden Aufenthaltstitel erhielten, konnten Geflüchtete in Deutschland bis zum Jahr 2016 ihren Wohnort frei wählen.
Vor dem Hintergrund des damals gestiegenen Zuzugs Schutzsuchender befürchtete der Gesetzgeber, dass die Integrationsinfrastruktur – dazu zählen beispielsweise das Sprachkursangebot vor Ort, die Kapzitäten in Ausländerbehörden und anderen relevanten Verwaltungsstellen oder das ehrenamtliche Engament vor Ort – durch Umzüge nach erhaltenem Schutzstatus an manchen Orten zu stark beansprucht würde. Um Geflüchtete gleichmäßiger zu verteilen und die Integration der Schutzberechtigten zu fördern, trat am 6. August 2016 die sogenannte Wohnsitzregelung in Kraft (Kasten 1).Die Wohnsitzregelung war zunächst auf drei Jahre befristet, wurde jedoch im Jahr 2019 entfristet. Im Zuge dieser Entfristung wurde festgelegt, dass die Integrationswirkung dieser Regelung evaluiert werden muss. Diese Evaluation wurde durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gefördert und liegt nun vor, vgl. Ludger Baba et al. (2024): Evaluation der Wohnsitzregelung nach § 12a AufenthG. Forschungszentrum des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Beiträge zu Migration und Integration, Band 13 (online verfügbar). Dieses Gutachten ist Grundlage des vorliegenden Wochenberichts. Insbesondere die weiterführenden Ausführungen zur Belastungswirkung der Wohnsitzregelung und den Nebenwirkungen der Wohnsitzregelung gehen jedoch über das ursprüngliche Gutachten hinaus und stellen eine eigenständige Bewertung der Autor*innen außerhalb des Evaluationsauftrages dar. Diese legt fest, dass Schutzberechtigte in den ersten drei Jahren, nachdem ihnen ein Schutzstatus zuerkannt wurde, ihren Wohnsitz grundsätzlich weiterhin am Ort des Asylverfahrens haben müssen, sofern keine Ausnahmetatbestände vorliegen.Zu diesen Ausnahmetatbeständen (auch Aufhebungstatbestände genannt) gehörten in der Fassung vom 6. August 2016 die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, einer Ausbildung oder eines Studiums, die Zusammenführung mit Mitgliedern der Kernfamilie oder unzumutbare Härtefälle.
Das Asyl- und Aufenthaltsrecht sieht verschiedene Einschränkungen bei der Wohnortwahl zu unterschiedlichen Zeiträumen des Asyl- und Integrationsprozesses vor:
Residenzpflicht: Während der Unterbringung in einer zentralen Aufnahmeeinrichtung dürfen Asylsuchende den Kreis der Einrichtung nicht verlassen (§ 56 AsylG in Verbindung mit § 59 AsylG Abs. 1 S. 2).
Wohnsitzauflage im Asylverfahren: Sofern die schutzsuchende Person während des Asylverfahrens nicht selbst ihren Lebensunterhalt sichert (§ 2 Abs. 3 AufenthG), hat sie für die weitere Verfahrensdauer ihren Wohnsitz an dem Ort der Verteilentscheidung zu nehmen (Wohnsitzauflage nach § 60 Abs. 1 AsylG).
Wohnsitzauflage für geduldete Personen: Geflüchtete, deren Abschiebung nach Ablehnung des Asylantrags ausgesetzt ist, unterliegen einer Wohnsitzauflage (nach § 61 Abs. 1d AufenthG). Diese Personengruppe wird in diesem Bericht nicht betrachtet.
Wohnsitzverpflichtung gemäß Wohnsitzregelung (nach § 12a AufenthG): Seit dem 6. August 2016 werden Geflüchtete auch nach Anerkennung des Schutzstatus verpflichtet, für drei Jahre den Wohnsitz am Ort des Asylverfahrens (prinzipiell Bundesland, kann aber auch auf kommunaler Ebene gelten) zu nehmen. Die Integrationswirkung dieser Regelung wird hier in diesem Wochenbericht betrachtet.
Gegenüber anderen rechtlichen Einschränkungen bei der Wohnortwahl (Kasten 1) gibt es einen zentralen Unterschied: Der Gesetzgeber legt explizit fest (§ 12a AufenthG), dass die Wohnsitzregelung in den Integrationsbereichen Arbeit, Wohnen, Sprache und Soziales integrationsfördernd sein soll. Dies ist das erklärte Ziel der Wohnsitzregelung.
Diverse Forschungsarbeiten haben die Integrationswirkungen von Wohnortbeschränkungen allgemein untersucht. Viele dieser Untersuchungen unterscheiden dabei aber nicht die Wohnsitzregelung (nach § 12a AufenthG) von den anderen Wohnortbeschränkungen wie Wohnortauflagen oder der Residenzpflicht. Dieser Wochenbericht behandelt ausschließlich die Wohnsitzregelung (nach § 12a AufenthG).Siehe zum Beispiel Herbert Brücker et al. (2024): Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten: Verbesserte institutionelle Rahmenbedingungen fördern die Erwerbstätigkeit. IAB-Kurzbericht 10/2024 (online verfügbar); Adriana R. Cardozo Silva, Yuliya Kosyakova und Aslıhan Yurdakul (2023): Gendered implications of restricted residence obligation policies on refugees' employment in Germany. SOEPpapers 1203 (online verfügbar). Eine Ausnahme ist diesbezüglich Herbert Brücker, Andreas Hauptmann und Philipp Jaschke (2020): Wohnsitzauflagen reduzieren die Chancen auf Arbeitsmarktintegration. IAB-Kurzbericht 3/2020 (online verfügbar), deren Analyse sich ebenfalls ausschließlich auf die Wohnsitzregelung nach § 12a AufenthG fokussiert. Das methodische Vorgehen weicht jedoch von dem hier verwendeten ab. Siehe für eine umfassende Diskussion der Unterschiede und Begründung der verwendeten Methodik Kapitel 10 in Baba et al. (2024), a.a.O.
Die zentrale Neuerung der Wohnsitzregelung war de facto, dass die Wohnsitzverpflichtung aus dem Asylverfahren für drei weitere Jahre fortgeschrieben wird. Zwar ist die Regelung grundsätzlich weniger streng als während des Asylverfahrens, weil anstelle einzelner Kommunen eigentlich nur das Bundesland vorgegeben wird. Allerdings haben sieben der 13 Flächenländer in eigenen weitergehenden Regelungen die Wohnsitznahme auf Ebene einzelner Kreise oder gar Gemeinden festgeschrieben.
Die Wohnsitzregelung wurde seit Einführung im Jahr 2016 immer wieder geringfügig verändert. Insbesondere wurde sie im Jahr 2022 so angepasst, dass sie auch Geflüchtete aus der Ukraine umfasst.Ursprünglich galt die Wohnsitzregelung nur für Asylberechtigte nach § 25 Abs. 1 AufenthG, Geflüchtete nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alternative 1 AufenthG, subsidiär Schutzberechtigte nach § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes und Personen mit § 22, § 23 oder § 25 Absatz 3 des AufenthG. Seit 1. Juni 2022 gilt die Wohnsitzregelung auch für Ausländer*innen, die sich gemäß § 24 Abs. 1 AufenthG in Deutschland aufhalten. Dies umfasst die Ukrainer*innen. Zudem wurden die Hürden für Ausnahme- und Aufhebungstatbestände im Zeitverlauf immer wieder leicht gesenkt. Grundsätzlich geändert hat sich die Wohnsitzregelung dadurch allerdings nicht. Für die langfristige Integration der nach Deutschland Geflüchteten sind die ursprünglichen Regelungen aus dem Jahr 2016 daher weiterhin relevant.
Zielgruppe der Wohnsitzregelung sind prinzipiell alle Geflüchteten, denen ab 1. Januar 2016 ein Schutzstatus zuerkannt wurde und die einen entsprechenden Aufenthaltstitel erhalten haben. Die Regelung gilt somit auf dem Papier auch rückwirkend. Wenn eine Person nach dem 1. Januar 2016 einen Schutzstatus erhalten hat und vor dem 6. August 2016 umgezogen ist, haben die Behörden diesen Umzug in der Realität allerdings nicht rückabgewickelt. Letztlich war es also zwischen 1. Januar und 6. August 2016 weiterhin uneingeschränkt möglich, den Wohnort zu wechseln und zwischen Bundesländern umzuziehen. Erst für Schutzberechtigte mit einem späteren Anerkennungsdatum galt und gilt die Wohnsitzregelung unmittelbar mit dem zuerkannten Schutzstatus.Siehe die Ausführungen in Kapitel 7 und 8 in Baba et al. (2024), a.a.O.
Aus der sukzessiven Einführung der Wohnsitzregelung ergeben sich drei Gruppen, die von dieser in unterschiedlichem Ausmaß betroffen sind: Bis Januar 2016 konnte niemand (auch nicht rückwirkend) von der Wohnsitzregelung betroffen sein. Diese Personen in der sogenannten Kontrollgruppe konnten also ab dem Tag, an dem ihnen der Schutzstatus zuerkannt wurde, völlig frei umziehen. Durch die sukzessive Einführung der Wohnsitzregelung entstand eine Zwischengruppe von Personen, die ihren Schutzstatus zwischen Januar 2016 und Anfang August 2016 erhielten. Sie wären von der Neuregelung eigentlich betroffen gewesen, diese wurde aber noch nicht durchgesetzt. In diesem Zeitraum erfolgte Umzüge wurden nicht nachträglich rückgängig gemacht. Personen mit anerkanntem Schutzstatus ab August 2016 waren hingegen voll von der neuen Wohnsitzregelung betroffen. Dies ist die sogenannte Treatmentgruppe.
Die exakte Abgrenzung der verschiedenen Gruppen ist wichtig um herauszufinden, wie sich die geänderte Rechtslage (also die Einführung der Wohnsitzregelung nach § 12a AufenthG) auf die Mobilität und Integration der Geflüchteten auswirkt. Neue Auswertungen des Forschungsdatensatzes des Ausländerzentralregisters (Kasten 2) zeigen, dass die Wohnsitzregelung zu einem deutlichen Rückgang der Umzugswahrscheinlichkeit geführt hat (Abbildung 1). Die Wohnsitzregelung wirkt also. Vor ihrer Einführung fand ein Großteil der Umzüge über Bundeslandgrenzen hinweg innerhalb der ersten sechs Monate nach der Anerkennung eines Schutzstatus statt. Diese Umzüge sind nun nicht mehr möglich und finden auch tatsächlich nicht mehr statt. Auf die Umzugsquoten zwischen Kreisen innerhalb von Bundesländern hat die Wohnsitzregelung hingegen kaum eine Wirkung.Vgl. insbesondere Kapitel 8.4 in Baba et al. (2024), a.a.O.
Forschungsdatensatz des Ausländerzentralregisters (BAMF-Forschungsdatenzentrum, 2021)BAMF-Forschungsdatenzentrum (2021): AZR-Forschungsdatensatz 2021 (online verfügbar).: Um die Wirkung der Wohnsitzregelung quantitativ abzuschätzen, wird auf einen neuen Datensatz zurückgegriffen: den Forschungsdatensatz des Ausländerzentralregisters (AZR-Forschungsdatensatz 2021, Version 1.0)Die Untersuchungseinheit des AZR sind Ausländer*innen, die keine Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaates besitzen (Drittstaatsangehörige), mindestens 18 Jahre alt sind und sich mehr als drei Monate in Deutschland aufhalten oder aufgehalten haben. In Ausnahmen sind auch Daten zu Drittstaatsangehörigen enthalten, die sich zum Zeitpunkt der Erstellung des Datensatzes (noch) weniger als drei Monate im Bundesgebiet aufgehalten haben, vgl. Laura Janik und Alina Hammerl (2022): Codebuch zum AZR-Forschungsdatensatz 2021. Veröffentlichungen des BAMF-FDZ 01/2022 (online verfügbar). . Der Datensatz umfasst jede fünfte Person der Zielgruppe der Wohnsitzregelung. Zudem werden Umzüge über Kreis- und Bundeslandgrenzen hinweg erfasst, sofern sie den Behörden (Ausländerbehörde, Einwohnermeldeamt) angezeigt werden.
IAB-BAMF-SOEP-Befragung von GeflüchtetenFür ausführliche Informationen zu den Teilstichproben M3 und M4 siehe Martin Kroh et al. (2017): Sampling, Nonresponse, and Integrated Weighting of the 2016 IAB-BAMF-SOEP Survey of Refugees (M3/M4) – revised version. SOEP Survey Papers 477 (online verfügbar). Für ausführliche Informationen zur Stichprobe M5 siehe Jannes Jacobsen et al. (2019): Supplementary of the IAB-BAMF-SOEP Survey of Refugees in Germany (M5) 2017. SOEP Survey Papers 605 (online verfügbar).: Mit den Ergebnissen der IAB-BAMF-SOEP-Befragung liegt ein Datensatz vor, der sehr detailliert Aufschluss über die Lebensbedingungen von Geflüchteten in Deutschland gibt. Die Befragung ist Teil des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). Für die hier vorliegenden Analysen wird ein Datensatz basierend auf den Stichproben M3, M4 und M5 verwendet, der Personenbeobachtungen bis zum Jahr 2020 umfasst. Personen müssen dabei in die Zielgruppe der Wohnsitzregelung fallen, also einen der relevanten Aufenthaltstitel zuerkannt bekommen haben. Berücksichtigt werden lediglich Befragungsinterviews nach Anerkennung des Schutzstatus. Es müssen zudem Daten zu den relevanten Kontrollvariablen vorliegen – dabei handelt es sich um Angaben zum Anerkennungszeitpunkt, der zwischen 2013 und 2018 liegen muss, zum Alter (zwischen 18 und 64 Jahre), Angaben zu Nationalität, Familienstand, Bildungsstand, Kindern im Haushalt sowie Angaben zum Bundesland der Anerkennung. Die in der ökonometrischen Analyse verwendeten Gruppen umfassen 440 Personen (Kontrollgruppe), 601 Personen (Zwischengruppe) und 648 Personen (Treatmentgruppe).
Für die Untersuchung der Integrationswirkung der Wohnsitzregelung dient die IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten als Datengrundlage (Kasten 2). Diese ist unverzichtbar, da im Ausländerzentralregister nicht genügend Variablen enthalten sind, um die Integration von Geflüchteten in Deutschland erfassen zu können. Die (möglichst) kausale Wirkung der Wohnsitzregelung auf den Integrationserfolg wird durch einen Vergleich von Treatment- und Kontrollgruppe geschätzt. Die Gruppen unterscheiden sich demografisch, im Hinblick auf erteilte Rechtstitel und die Dauer des Asylverfahrens. Diese Unterschiede lassen sich beobachten und daher in multivariaten Regressionsanalysen berücksichtigen. Sie können also ausgeklammert werden. Dennoch könnte es unbeobachtete Unterschiede zwischen den Gruppen geben, die die Ergebnisse potenziell verzerren – dieses Risiko ist durch das empirische Design der Untersuchung jedoch minimiert worden.Für eine ausführliche Diskussion der ökonometrischen Annahmen siehe Kapitel 10 in Baba et al. (2024), a.a.O. Eine wichtige Einschränkung ist, dass die beiden Gruppen potenziell unterschiedliche Integrationsbedingungen nach ihrer Anerkennung vorgefunden haben, die sich aus einer veränderten Auslastung beziehungsweise Erfahrung mit Blick auf die Integrationsinfrastrukturen in Deutschland ergeben. Diese möglichen Unterschiede können jedoch nicht gemessen und daher auch nicht berücksichtigt werden, ihre Wirkrichtung ist zudem nicht klar. Eine größere Erfahrung mit Fluchtzuwanderung könnte zu besseren Integrationsbedingungen für später Anerkannte geführt haben, eine größere Auslastung oder gar Überlastung zu schlechteren.
Der Vergleich von Kontroll- und Treatmentgruppe in einer multivariaten Regressionsanalyse ergibt eindeutige quantitative Ergebnisse:In der Regressionsanalyse werden dabei jeweils ein Integrationsoutcome über die Zugehörigkeit zu einer Gruppe (Kategoriale Variable für Treatment- oder Zwischengruppe) sowie die in Kasten 2 genannten Kontrollvariablen modelliert. Für eine ausführliche Darstellung siehe Kapitel 10 in Baba et al. (2024), a.a.O. In keinem Integrationsbereich (Arbeiten, Wohnen, Sprache, soziale Integration) können integrationsfördernde Effekte der Wohnsitzregelung gemessen werden (Abbildung 2).Für eine deutlich ausführlichere Darstellung der Methodik und Ergebnisse siehe Kapitel 10 bis 15 in Baba et al. (2024), a.a.O. Im Gegenteil: Gerade bei der Integration in den Wohnungsmarkt – in Form des Bezugs einer eigenen Wohnung – und bei der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit scheint die Wohnsitzregelung den Geflüchteten vor allem mittelfristig stattdessen eher zu schaden. Allerdings sind die Effekte im statistischen Sinne nicht signifikant – vermutlich auch deshalb, weil die Fallzahl in der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten nach einigen Jahren nur noch sehr gering ist. Um belastbarere Aussagen zu erhalten, wäre eine Verknüpfung bestehender administrativer Datensätze wie dem Ausländerzentralregister mit den Registerdaten der Bundesagentur für Arbeit sinnvoll – bisher ist das aber nicht möglich.
Die eher hemmende Wirkung der Wohnsitzregelung bei der Integration in den Wohnungsmarkt leuchtet vor dem Hintergrund ebenfalls beobachtbarer Wanderungsmuster von Schutzberechtigten unmittelbar ein: Im Saldo ziehen Geflüchtete in beträchtlichem Maße in Gebiete, in denen Wohnraum gut verfügbar ist.Vgl. Jonas Wiedner und Merlin Schaeffer (2023): The Refugee Mobility Puzzle: Why Do Refugees Move to Cities with High Unemployment Rates Once Residence Restrictions Are Lifted?. Center for Open Science (online verfügbar). Seit Einführung der Wohnsitzregelung sind solche Umzüge aber nicht mehr möglich, zumal eine verfügbare Wohnung in einem anderen Bundesland kein Aufhebungstatbestand der Wohnsitzregelung ist. Geringere Chancen, eine eigene Wohnung zu finden, sind die logische Konsequenz.
Zwar kann die Wohnsitzregelung aufgehoben werden, wenn Personen mit einem Schutzstatus andernorts einen Job finden. Dass die Wohnsitzregelung aber auch bei der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit eher hemmend wirkt, deutet darauf hin, dass mit Aufhebung der Wohnsitzregelung hohe Transaktionskosten in Form von Bürokratie verbunden sind.Dies zeigen auch Befragungsergebnisse der Ausländerbehörden und andere qualitative Evidenz, vgl. Kapitel 13.3.2 in Baba et al. (2024), a.a.O. Diese verhindern in der Realität oft eine Beschäftigungsaufnahme. Gleiches gilt für den Umstand, dass es Geflüchteten nicht mehr möglich ist, an Orte mit vorhandenen Netzwerken von Geflüchteten zu ziehen, in denen gleichzeitig Arbeitsstätten gut erreichbar sind.
Mit Blick auf die (räumliche) Wirkung der Wohnsitzregelung ist vor allem entscheidend, wie viele Menschen ohne die Regelung nach einem Umzug in Orten wohnen würden, deren Integrationsinfrastruktur stark ausgelastet ist. Eine quantitative Abschätzung ist wiederum durch eine deskriptive Auswertung des Forschungsdatensatzes des Ausländerzentralregisters möglich.
Demnach zieht mit 58 Prozent ein Großteil der Schutzberechtigten der Kontrollgruppe auch ohne Wohnsitzregelung innerhalb der ersten drei Jahre nach Anerkennung nicht über Kreisgrenzen hinweg um.Für eine ausführliche Darstellung der Analysen vgl. Kapitel 8 in Baba et al. (2024), a.a.O. Ein Großteil verbleibt also freiwillig am für das Asylverfahren zugewiesenen Ort, obwohl die Schutzberechtigten in aller Regel zufällig auf die Landkreise verteilt werden und somit in nahezu allen Fällen keinerlei vorherige Bindung zum Zuweisungsort besteht.
Die 42 Prozent der umziehenden Schutzberechtigten konzentrieren sich auf einzelne Kreise und Regionen, etwa das Ruhrgebiet (Abbildung 3). Ländliche Gebiete, vor allem in Ostdeutschland, verlassen viele Geflüchtete hingegen, wenn sie keiner Wohnsitzregelung (nach § 12a AufenthG) unterliegen. Insgesamt ziehen Geflüchtete eher in Kreise mit höheren Arbeitslosenquoten.Johannes Weber (2023): Bedeutung raumstruktureller und arbeitsmarktrelevanter Faktoren bei innerdeutschen Wanderungen von Geflüchteten. WISTA – Wirtschaft und Statistik 75(1), 43–58. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass in solchen Regionen vergleichsweise viel bezahlbarer Wohnraum verfügbar ist.Wiedner und Schaeffer (2023), a.a.O.
Allerdings gilt auch: Diese Orte verzeichnen ohne Wohnsitzregelung zwar relativ große Wanderungsgewinne durch Umzüge von Schutzberechtigten, gleichzeitig zieht insgesamt aber nur eine Minderheit der Schutzberechtigten überhaupt an diese Orte. Definiert man Kreise, in denen die Zahl der Schutzbedürftigen durch Sekundärwanderungen in den ersten drei Jahren nach Anerkennung des Schutzstatus um mehr als 25 Prozent gestiegen ist, als Orte mit stark ausgelasteter Integrationsinfrastruktur,Dies sind 69 von 394 der Kreise und kreisfreien Städte in Deutschland mit eindeutig zuordbarer Ausländerbehörde. dann zeigt sich: Von den 42 Prozent der umziehenden Schutzberechtigten zieht nur knapp ein Drittel (29 Prozent beziehungsweise zwölf Prozentpunkte) an solche stark ausgelasteten Orte (Abbildung 4). Ein Großteil der Wanderungen von Schutzberechtigten gleicht sich hingegen im Aggregat aus: Manche Geflüchtete ziehen beispielsweise vom Landkreis Paderborn in den Vogelsbergkreis, andere dafür in die entgegengesetzte Richtung.
Die Intention des Gesetzgebers ist, mit der Wohnsitzregelung vor allem die rund 29 Prozent der Umzüge an Orte mit stark beanspruchter Integrationsinfrastruktur zu verhindern. Dies gelingt: Generell geht die Mobilität von Schutzberechtigten zurück, es ziehen nur noch 30 Prozent der Schutzberechtigten überhaupt um. Und vor allem ziehen von diesen Personen nach Einführung der Wohnsitzregelung nur noch knapp 17 Prozent (fünf Prozentpunkte) in Orte mit (vormals) stark ausgelasteter Integrationsinfrastruktur.
Unter dem Strich ergibt sich aus dem Rückgang der Mobilität insgesamt und dem geringeren Anteil umziehender Geflüchteter an Orte mit stark ausgelasteter Integrationsinfrastruktur, dass durch die Wohnsitzregelung 58 Prozent weniger (fünf statt zwölf Prozent aller Schutzberechtigten) an solche Orte ziehen. Für diese Orte ist das durchaus eine wichtige Maßnahme: Vielerorts wurde berichtet, dass es erst nach Einführung der Wohnsitzregelung und folglich mit deutlich weniger neu zu integrierenden Schutzberechtigten wieder möglich war, den Integrationsprozess mit ausreichenden Kapazitäten strukturiert zu organisieren.Vgl. unter anderem Kapitel 13.3.4 in Baba et al. (2024), a.a.O.
Gleichwohl ist die Wohnsitzregelung (nach § 12a AufenthG) ein sehr unpräzises Instrument: Um die Entlastungswirkung zu erreichen, wird allen Schutzberechtigten pauschal ein Umzug über Bundeslandgrenzen hinweg (in vielen Bundesländern auch über Kreis- oder Gemeindegrenzen hinweg) untersagt. Doch mit 71 Prozent ist die überwiegende Mehrheit der umziehenden Schutzberechtigten vor Einführung der Wohnsitzregelung an Orte ohne große Belastung der Integrationsinfrastruktur gezogen.
Dass auch ein solcher belastungsneutraler Umzug untersagt wird, ist aus zwei Gründen schwer zu rechtfertigen: Erstens ist die Regelung wie dargelegt nicht integrationsfördernd und zweitens gibt es mit Zuzugssperren (nach § 12a Abs. 4 AufenthG) eigentlich schon ein deutlich präziseres Instrument, um die gleiche Wirkung zu erreichen, indem spezifische Zuzugssperren für Orte mit stark ausgelasteter Integrationsinfrastruktur eingeführt werden. Diese wurden bisher aber nur in vier kreisfreien Städten in zwei Bundesländern eingeführt.Es handelt sich hierbei um die kreisfreien Städte Salzgitter, Delmenhorst und Wilhelmshaven in Niedersachsen sowie die Stadt Pirmasens in Rheinland-Pfalz.
Zudem bringt die Wohnsitzregelung schwere Kollateralschäden mit sich, weil sie die Ausländerbehörden stark überlastet: Von diesen geben 58 Prozent an, dass die zusätzliche Arbeitsbelastung durch die Wohnsitzregelung hoch oder sehr hoch sei. Dies sorgt auch deshalb für Frust, weil gleichzeitig 62 Prozent der Ausländerbehörden die Wohnsitzregelung für gar nicht oder eher nicht integrationsfördernd halten.Für eine ausführliche Darstellung der Zahlen siehe Kapitel 15.3 in Baba et al. (2024), a.a.O. Derzeit stehen kosmetische Reformen der Wohnsitzregelung durch eine Erweiterung der Aufhebungstatbestände im Raum. Diese würden die Belastung der Ausländerbehörden aber wohl sogar noch weiter erhöhen. In einer Befragung beklagen zudem 92 Prozent der Ausländerbehörden, dass die Arbeitsbelastung in den letzten Jahren stark gestiegen sei. 57 Prozent der Befragten geben an, dass eine hohe Fluktuation in der Belegschaft bestehe.Vgl. Thorsten Schlee, Hannes Schammann und Sybille Münch (2023): An den Grenzen: Ausländerbehörden zwischen Anspruch und Alltag. Bertelsmann-Stiftung (online verfügbar).
Die Überlastung der Ausländerbehörden hat konkrete Folgen: Schicksale wie der Fall eines gebürtigen Syrers, dessen Verbeamtung nach abgeschlossenem Jurastudium beinahe an einer monatelang nicht übersendeten Einbürgerungsurkunde gescheitert wäre,Vgl. Judith Brosel, Eric Beres und Fabian Janssen (2022): Ausländerbehörden beklagen Überlastung. Beitrag auf tagesschau.de vom 25. August 2022 (online verfügbar). sind kein Einzelfall. Ausländerbehörden warnen offen davor, dass Maßnahmen zur Bekämpfung des demografischen Wandels wie das Fachkräfteeinwanderungsgesetz an ihrer Überlastung und dem verbreiteten Personalmangel scheitern werden.Vgl. Magdalena Stefely (2023): Bis zu 15 Stunden Warten für einen Termin. Beitrag auf tagesschau.de vom 8. September 2023 (online verfügbar). Dies drückt sich schon heute auch deutlich in der (Un-)Zufriedenheit von Zugewanderten (also nicht nur Geflüchteten) in Deutschland aus: In einem Ranking, das auf der Befragung von Zugewanderten in 53 verschiedenen Ländern basiert, rangiert Deutschland lediglich auf Platz 49.Vgl. InterNations (2023): Expats in Germany Are among the Unhappiest & Loneliest Worldwide (online verfügbar). Grund dafür ist vor allem der letzte Platz im „Expat Essential Index“, für den unter anderem die Verwaltungserfahrung ausschlaggebend ist. 56 Prozent der Befragten in Deutschland berichten in diesem Punkt von negativen Erfahrungen.
Die Wohnsitzregelung gilt in der öffentlichen Wahrnehmung als wichtiges Instrument, um nach Deutschland Geflüchtete adäquat über das Land zu verteilen, unterzubringen und zu integrieren. Wie die Analysen in diesem Wochenbericht zeigen, werden in Wahrheit aber vergleichsweise kleine Vorteile zum Preis größerer Nachteile erreicht. Zwar gelingt es durch die Wohnsitzregelung, dass weniger Geflüchtete als ohne die Regelung in Orte ziehen, deren Integrationskapazitäten bereits stark ausgelastet sind. Die Steuerungswirkung der Wohnsitzregelung ist aber begrenzt. Der großen Mehrheit der Geflüchteten wird die Möglichkeit eines Umzugs pauschal verwehrt. Die Nachteile sind demgegenüber vielfältig: Die Wohnsitzregelung fördert die Integration nicht und bringt für Geflüchtete etwa auf dem Wohnungsmarkt und auf dem Arbeitsmarkt stattdessen eher Nachteile mit sich. Hinzu kommt der hohe Verwaltungsaufwand in ohnehin bereits überlasteten Ausländerbehörden.
Dementsprechend sollte die Wohnsitzregelung dringend reformiert werden. Der positive Effekte der Entlastung einzelner Kommunen könnte durch spezifische Zuzugssperren – die bereits länger möglich sind, aber bisher kaum genutzt werden – deutlich zielgenauer und mit geringeren Kollateralschäden erreicht werden.
Trotz dieser eindeutigen Ergebnisse zur Wirkung der Wohnsitzregelung ist das politische Momentum für eine Reform derzeit wohl kaum vorhanden. Das mag aufgrund des Erstarkens (rechts-)populistischer Parteien und gleich drei in diesem Jahr anstehender Landtagswahlen in Ostdeutschland politisch zwar nachvollziehbar sein. Es ist aber langfristig grob fahrlässig und gefährdet den Wohlstand und den sozialen Frieden in Deutschland.
Themen: Ungleichheit, Migration
JEL-Classification: F22;K37
Keywords: migration policy, integration of refugees, international migration
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2024-20-1