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Das AfD-Paradox bei der Europawahl: Ein Rechtsruck schadet vor allem den AfD-Wähler*innen und der jungen Generation

DIW aktuell ; 93, 10 S.

Marcel Fratzscher

2024

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22. Mai 2024 – Selten waren die Positionen der politischen Parteien zu Europa so polarisiert wie bei der Europawahl 2024. Nie zuvor waren rechtsextreme Parteien so stark in den Umfragen und könnten so großen Einfluss auf die künftige Politik in Europa ausüben. Vor allem die Alternative für Deutschland (AfD) könnte – trotz ihrer jüngsten Skandale – ein Rekordergebnis erzielen. Diese Kurzstudie analysiert auf Grundlage des Wahl-O-Mats der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) die Positionen, für die die AfD steht, wie sich diese über die Zeit verändert haben und wie sie sich mit denen anderer Parteien vergleichen. Die Analyse zeigt, dass das AfD-Paradox auch in der Europäischen Union (EU) gilt: AfD-Wähler*innen wären die Hauptleidtragenden einer rechtspopulistischen Politik auf EU-Ebene, und zwar in fast jedem Politikbereich – von der Wirtschaftspolitik, über die Klima- und Umweltpolitik, bis zur Außenpolitik und Gesellschaftspolitik.

Vor der Europawahl wächst die Sorge vor einem weiteren Rechtsruck. Die Fraktion Identität und Demokratie könnte laut Prognosen 20 bis 30 Sitze im EU-Parlament dazugewinnen, die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) etwa zehn Sitze.infoWeitere zwölf Sitze dürfte de EKR erhalten, wenn sich wie angekündigt nach der Wahl die ungarische Partei Fidesz der Fraktion anschließt. Matthias Rüb (2024): Orbán folgt Melonis Ruf. FAZ online vom 2. Februar (online verfügbar); Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (2024): Europawahl 2024: Wahlprognosen – Umfragen (online verfügbar). In Deutschland erreicht die AfD, die 2014 erstmals mit 7,1 Prozent ins EU-Parlament einzog und 2019 ihr Ergebnis auf 11,0 Prozent verbesserte, in Umfragen aktuell zwischen 15 und 22 Prozent.infoWahlrecht.de (2024): Sonntagsfrage ­– Europawahl (online verfügbar). Sie hat damit die Chance, zweitstärkste Kraft bei der Europawahl in Deutschland zu werden. Dies könnte auch Signalwirkung für die anstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg entwickeln.

Angetreten war die AfD bei der Europawahl bereits vor zehn Jahren mit EU-skeptischen Positionen. Seitdem entwickelte sie sich jedoch immer weiter nach rechts und wird heute vom Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft; die Landesverbände in Sachsen, Sachsen-Anhalten und Thüringen gelten als gesichert rechtsextrem.infoZEIT Online (2024): Verfassungsschutz darf AfD als rechtsextremen Verdachtsfall führen. Ausgabe vom 13. Mai (online verfügbar). Wie haben sich die Positionen der Partei konkret zu EU-Themen über die letzten drei Wahlen entwickelt? Und was könnte ein Erstarken des Rechtspopulismus in Europa nach sich ziehen?

Verorten der politischen Positionen mithilfe des Wahl-O-Mats

Die Bürger*innen haben bei der Europawahl die Wahl zwischen Parteien mit sehr unterschiedlichen Positionen zu allen relevanten Politikbereichen. Um die Positionierung der Parteien zu bestimmen und vergleichen zu können, wird der Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) herangezogen.infoBundeszentrale für politische Bildung (2024): Wahl-O-Mat. Europawahl 2024 (online verfügbar). Der Wahl-O-Mat enthält 38 Fragen zu den wichtigsten Politikbereichen, zu denen die Parteien, ihre Antworten – also ob sie zustimmen, dagegen oder neutral sind – und ihre Begründungen geben können. Diese 38 Fragen werden von Expert*innen und Wissenschaftler*innen ausgewählt. Die bpb ist eine öffentlich geförderte Institution, die den Auftrag der Förderung von Demokratie und Transparenz hat. Sie hat vergleichbare Wahl-O-Mate für alle Europawahlen, Bundestagswahlen und Landtagswahlen seit 2002 bereitgestellt. Der Wahl-O-Mat ist somit das neutralste und objektivste Instrument, um relevante politische Positionen zu identifizieren und Bürger*innen zu informieren, auch wenn er manche Einschränkungen hat. So verändern sich viele Fragen über die Zeit hinweg, wodurch die Wahl-O-Mate nur begrenzt über die Zeit vergleichbar sind. Der Wahl-O-Mat hat eine große Reichweite und Sichtbarkeit: Für die Europawahlen 2019 haben ihn fast zehn Millionen Menschen in Deutschland genutzt.

Die 38 Fragen werden in dieser Kurzstudie nicht nur in ihrer Gesamtheit analysiert und verglichen, sondern auch in einzelne Politikbereiche untergliedert und normiert. So deutet beispielsweise eine positive Antwort bei der Wirtschaftspolitik die Präferenz einer politischen Partei für eine Stärkung europäischer Institutionen an, wogegen eine negative Antwort für eine Stärkung des Marktes steht. Eine positive Antwort bei der Klima- und Umweltpolitik bedeutet die Befürwortung von staatlichen Regeln und Interventionen, eine negative Antwort eine schwächere Rolle der Institutionen. Ein positiver Wert in der Gesellschafts- und Sozialpolitik bedeutet, dass eine politische Partei sich für Maßnahmen zur Stärkung von Vielfalt und des Schutzes von Minderheiten einsetzt. In der Kategorie Demokratie bedeutet ein positiver Wert, dass politische Parteien sich für einen Abbau von Restriktionen einsetzen und sich offen für mehr Vielfalt zeigen, ein negativer Wert befürwortet eine Verstärkung der inneren Sicherheit und staatlicher Kontrolle.

In der Außenpolitik steht ein positiver Wert für eine aktive Rolle Europas in globalen Angelegenheiten und eine Verlagerung außenpolitischer Kompetenzen von nationaler auf europäische Ebene, ein negativer Wert dagegen für weniger Kompetenzen für europäische Institutionen und mehr Kompetenzen für die Nationalstaaten. Zudem gibt es eine Kategorie Europa, die all diese Politikbereiche umfasst und über alle Bereiche hinweg misst, ob politische Parteien sich für ein stärkeres Europa mit größeren Kompetenzen für europäische Institutionen einsetzen oder für einen Abbau und eine Verlagerung europäischer Kompetenzen auf die Nationalstaaten.

Verglichen werden im Folgenden die Positionen aller politischen Parteien im deutschen Bundestag, plus das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) für 2024, da in den letzten Umfragen zwischen vier und sieben Prozent der Befragten angaben, diese Partei wählen zu wollen (Abbildung 3).infoWahlrecht.de (2024): Sonntagsfrage ­– Europawahl (online verfügbar).

Für welche Positionen steht die AfD in Europa?

Die AfD steht für extreme Positionen in praktisch allen Politikbereichen, die sich in vielen – wenn auch nicht allen – Politikbereichen deutlich von denen der demokratischen Parteien unterscheiden (Tabelle 1). Zudem hat sich die AfD seit ihrer ersten Teilnahme an den Europawahlen 2014 radikalisiert und sich zu einer Partei mit fast durchgehend europafeindlichen Positionen entwickelt.

In der Wirtschafts- und Finanzpolitik steht die AfD für eine Politik des Neoliberalismus, bei dem der Staat als ein Grundübel und die Lösung der Probleme in einer Stärkung des Marktes und einem Abbau des Sozialstaats gesehen wird. Die AfD möchte, dass Deutschland aus dem Euro austritt und die D-Mark wieder eingeführt wird. Die EU soll keine eigenen Steuern erheben dürfen, die Einwanderung von Fachkräften von außerhalb der EU soll nicht vereinfacht werden (Abbildung 1).

In der Klima- und Umweltpolitik will die AfD große Teile der Maßnahmen zum Schutz von Klima und Umwelt abschwächen oder aufheben. Sie will, dass Verbrennungsmotoren auch nach 2035 zugelassen werden, Klimaschutzziele sollen abgeschwächt werden. Dagegen will sie Subventionen auf fossile Energieträger, wie Kerosin, beibehalten und die ökologische Landwirtschaft nicht vorrangig fördern. Sie will auch die Flächen für Naturschutzgebiete nicht ausweiten.

In der Gesellschaftspolitik steht die AfD für weniger Vielfalt und weniger Toleranz. Sie will nicht, dass die EU sich für die Straffreiheit von Schwangerschaftsabbrüchen in ihren Mitgliedstaaten einsetzt. Sie lehnt es ab, dass Gewalt gegen Frauen als Asylgrund in Europa anerkannt wird. Sie will nicht, dass die EU auf ein Mindestmaß an sozialen Standards in ihren Mitgliedsländern drängt und ist dagegen, dass Menschen in ganz Europa sich eine diverse Geschlechtsidentität in ihren Pass eintragen dürfen.

Bei Demokratie und innerer Sicherheit will die AfD eine kleinere Rolle für europäische Institutionen und weniger gemeinsame Regeln. Sie will die europäische Polizeibehörde Europol nicht stärken, möchte nicht, dass EU-Fördermittel an die Einhaltung von gemeinsamen Regeln und Werten gebunden sind. Sie will keine länderübergreifenden, mehrsprachigen Angebote des öffentlich-rechtlichen Rundfunks finanziell fördern und soziale Netzwerke sollen frei entscheiden können, wie sie mit Desinformationen umgehen. Die AfD steht für eine Asylpolitik, bei der Schutzsuchende ihren Antrag vor Überschreiten der EU-Außengrenze stellen müssen. Sie fordert die Wiedereinführung von Grenzkontrollen. Und sie will die Kompetenzen des EU-Parlaments deutlich beschneiden.

Bei der Außenpolitik steht die AfD für eine Politik, die viele Kompetenzen wieder auf den Nationalstaat überträgt. Sie verfolgt eine prorussische Politik. Mit dem BSW ist sie die einzige Partei, die gegen weitere Waffenlieferungen für die Ukraine, für den Abbau von Sanktionen gegen Russland und gegen gemeinsame europäische Rüstungsprojekte ist. Und sie will die Handlungsfähigkeit der EU schwächen, indem sie sich gegen das Mehrheitsprinzip und für nationale Vetos ausspricht.

Tabelle 1

Die Positionen der Parteien im Wahl-O-Mat zur Europawahl 2024

„-1“ bedeutet Ablehnung, „0“ bedeutet eine neutrale Haltung und „1“ bedeutet Zustimmung

Union

Grüne

SPD

AfD

FDP

Linke

BSW

Wirtschaftspolitik

 

 

 

 

 

 

 

Die EU soll eigene Steuern erheben dürfen.

-1

1

-1

-1

-1

1

-1

Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren sollen auch nach 2035 in der EU neu zugelassen werden können.

1

-1

-1

1

1

-1

1

In Deutschland soll der Euro durch eine nationale Währung ersetzt werden.

-1

-1

-1

1

-1

-1

-1

Die Einfuhrzölle der EU auf chinesische Elektroautos sollen erhöht werden.

1

-1

1

-1

-1

-1

0

Die Einwanderung von Fachkräften in die EU soll vereinfacht werden.

1

1

1

-1

1

1

0

Die Beteiligung außereuropäischer Investoren an Unternehmen im Bereich kritischer Infrastruktur soll in der EU stärker beschränkt werden.

1

1

1

1

1

1

1

Klima- und Umweltpolitik

 

 

 

 

 

 

 

Die EU soll vorrangig ökologische Landwirtschaft fördern.

-1

1

-1

-1

-1

1

-1

Die Jagd von Wölfen soll in Regionen erlaubt sein, in denen der Bestand dadurch nicht gefährdet ist.

1

-1

0

1

1

-1

1

Beim Bau neuer Wohngebäude in der EU soll die Errichtung von Photovoltaikanlagen verpflichtend sein.

-1

1

-1

-1

-1

1

-1

Der Flugzeugtreibstoff Kerosin soll für Flüge in der EU steuerfrei sein.

1

-1

-1

1

1

-1

-1

Die EU soll das Ziel verwerfen, klimaneutral zu werden.

-1

-1

-1

1

-1

-1

-1

In der EU sollen mehr Flächen als Naturschutzgebiete ausgewiesen werden.

0

1

1

-1

-1

1

0

Die zulässige Menge an Fischen, die in EU-Gewässern gefangen werden dürfen, soll gesenkt werden.

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1

1

-1

-1

1

0

Die EU soll den Anbau von weiteren gentechnisch veränderten
Pflanzensorten erlauben.

0

-1

1

-1

1

-1

-1

Die EU soll Atomkraft weiterhin als nachhaltige Energiequelle einstufen.

1

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-1

1

1

-1

0

In der EU sollen Unternehmen mehr für den Ausstoß von CO₂ zahlen müssen.

1

1

1

-1

0

1

-1

Gesellschafts- und Sozialpolitik

 

 

 

 

 

 

 

Die EU soll den Mitgliedstaaten empfehlen, außer „weiblich“ und „männlich“ auch die Eintragung einer anderen Geschlechtsidentität im Pass zu ermöglichen.

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1

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1

1

-1

Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament sollen die Parteien weiterhin frei entscheiden können, wie groß der Anteil der Geschlechter auf ihren Listen ist.

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1

1

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1

Die EU soll Vorgaben für die Höhe der sozialen Grundsicherung in den Mitgliedstaaten machen.

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1

1

-1

-1

1

1

Die EU soll sich dafür einsetzen, dass Schwangerschaftsabbrüche in allen Mitgliedstaaten straffrei möglich sind.

-1

1

1

-1

1

1

1

Geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen soll europaweit als Asylgrund anerkannt werden.

1

1

1

-1

1

1

1

Das Erasmus+ Stipendium für Auslandsaufenthalte soll für Studierende, die über weniger finanzielle Mittel verfügen, höher sein.

1

1

1

0

1

1

1

Demokratie und innere Sicherheit

 

 

 

 

 

 

 

Die EU soll eine eigene Seenotrettung im Mittelmeer aufbauen.

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1

1

-1

1

1

-1

Die gemeinsame europäische Polizeibehörde Europol soll weitere

Befugnisse erhalten.

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1

1

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1

-1

0

Die EU soll länderübergreifende, mehrsprachige Angebote des öffentlich-rechtlichen Rundfunks stärker finanziell fördern.

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1

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-1

1

1

Betreiber sozialer Netzwerke sollen frei entscheiden dürfen, wie sie mit Desinformation auf ihren Plattformen umgehen.

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-1

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-1

1

EU-Fördermittel für Mitgliedstaaten, die Regeln und Werte der EU verletzen, sollen weiterhin zurückgehalten werden.

1

1

1

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1

1

1

Es sollen wieder dauerhafte Grenzkontrollen zwischen den Mitgliedstaaten der EU stattfinden.

1

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-1

1

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-1

-1

Die Aufnahme neuer Staaten in die EU soll in allen Mitgliedstaaten durch Volksabstimmungen bestätigt werden müssen.

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-1

-1

1

-1

1

1

Urheberrechtlich geschützte Werke (z.B. Fotos, Musik, Literatur) sollen in der EU für nicht-kommerzielle Zwecke kostenlos verwendet werden dürfen.

-1

0

1

0

0

1

0

Der Präsident bzw. die Präsidentin der Europäischen Kommission soll von den Bürgerinnen und Bürgern direkt gewählt werden.

-1

-1

-1

1

-1

1

0

Asylbewerberinnen und -bewerber sollen ihren Antrag vor Überschreiten der EU-Außengrenze stellen müssen und dort auf das Ergebnis warten.

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-1

1

1

1

-1

1

Das Europäische Parlament soll weiterhin eine zentrale Rolle in der EU spielen.

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1

1

-1

1

1

1

Außenpolitik

 

 

 

 

 

 

 

Die Ukraine soll Mitglied der EU werden.

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1

1

-1

1

-1

-1

Mehr außenpolitische Entscheidungen der EU sollen mit Mehrheit statt einstimmig getroffen werden.

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1

1

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1

-1

-1

Die EU soll mehr Waffen für die Ukraine finanzieren.

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1

1

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1

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Die Sanktionen der EU gegen Russland sollen abgebaut werden.

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-1

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1

-1

-1

1

Die EU soll weiterhin in gemeinsame europäische Rüstungsprojekte investieren.

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1

1

-1

1

-1

-1

Die Radikalität und die Diskrepanz zu demokratischen Parteien nehmen zu

Sowohl die Radikalisierung der AfD-Positionen hat seit 2014 zugenommen als auch der Abstand zu den Positionen der demokratischen Parteien in vielen, wenn auch nicht allen Politikbereichen (Abbildung 1).

Die AfD ist heute eine komplett andere Partei, als sie es 2014 war. Sie wurde damals vor allem als eine Anti-Euro-Partei gegründet, die insbesondere die Währungspolitik auf nationale Ebene verlagern wollte, in anderen Bereichen – wie Demokratie oder Gesellschaftspolitik – war sie eine lediglich nationalkonservative und nicht-europäische Partei. Die große Radikalisierung der AfD fand zwischen 2014 und 2019 statt, aber auch in den letzten fünf Jahren haben sich die europafeindlichen Positionen der AfD nochmals verstärkt. In jedem Politikbereich und in fast jeder der 38 Fragen geht es der AfD darum, Europa zu schwächen und europäische Institutionen auszuhöhlen.

© DIW Berlin

Ein interessanter Befund ist, wie stark sich die Positionen von AfD und der Partei Liberal-Konservative Reformer (LKR), die vom Gründer der AfD und damaligen Vorsitzenden Bernd Lucke 2015 initiiert wurde, bei den Europawahlen 2019 unterscheiden. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass sich Bernd Lucke und die LKR 2019 für die Beibehaltung des Euros aussprachen, obwohl die Forderung von Deutschlands Austritt aus dem Euro die Gründungsmotivation der AfD war.

Der Abstand der Positionen zwischen der AfD und den demokratischen Parteien hat auch in Bezug auf Europa in den vergangenen zehn Jahren stark zugenommen. Gab es beispielsweise 2014 noch die größten Überschneidungen der Positionen zwischen CDU und AfD (mehr als die Überschneidungen der CDU mit anderen Parteien, außer der CSU), so bestehen heute relativ wenige Überschneidungen der AfD mit anderen Parteien (Abbildung 2).

© DIW Berlin

Der größte Konsens besteht zwischen AfD und dem BSW, die bei 53 Prozent aller Fragen übereinstimmen. Die Linke ist nach den Grünen und der SPD mit die am stärksten proeuropäische Partei. Die Ausnahme ist die Außenpolitik, bei der es eine sehr große Übereinstimmung zwischen AfD, Die Linke und BSW gibt. Alle drei Parteien sprechen sich für eine prorussische Politik aus, wollen Hilfen für die Ukraine kürzen und generell die Kompetenzen der EU in der Außenpolitik beschneiden.

Auch die anderen Parteien zeigen einige vielsagende Veränderungen in ihren Positionen zu Europa. Grüne und SPD haben ihre proeuropäischen Positionen generell nochmals verstärkt, vor allem in der Außenpolitik. Dabei mussten manche vorherigen Positionen revidieren. Hatte sich die SPD 2019 beispielsweise noch für einen Abbau von Sanktionen gegen Russland eingesetzt, so befürwortet sie heute die Sanktionen.

Die CDU/CSU vertritt unter allen demokratischen Parteien zwar generell eine proeuropäische Politik, jedoch mit einigen Einschränkungen. Die Resultate der Analyse deuten an, dass die CDU und Kanzlerin Angela Merkel sich zwischen 2014 und 2019 generell für europäische Positionen geöffnet und diese stärker unterstützt hatten. In ihrem Europaprogramm ist die Union heute jedoch etwas weniger proeuropäisch als noch 2019. Dies gilt insbesondere für die Klima- und Umweltpolitik, bei der die Union heute kritischer gegenüber einer starken Rolle der EU geworden ist. Sie will keine Beschränkungen mehr für die zulässige Menge beim Fischfang und will auch nicht mehr vorrangig die ökologische Landwirtschaft fördern. Interessanterweise spricht sich die Union heute für dauerhafte Grenzkontrollen zwischen den Mitgliedstaaten der EU aus, war jedoch gegen solche Kontrollen bei den Europawahlen 2014 und 2019.

Die FDP vertritt generell eine EU-unterstützende Politik, die in etwa zwischen denen von SPD und Grünen auf der einen Seiten und der CDU auf der anderen Seite liegt. Bei der Rolle der Wirtschaftspolitik und in der Klima- und Umweltpolitik war die FDP seit jeher kritisch und will weiterhin viele der Kompetenzen nicht auf der europäischen, sondern auf nationaler Ebene verankern. Bei der Gesellschaftspolitik und bei der Außenpolitik ordnet die FDP jedoch der EU eine sehr starke Rolle zu und vertritt generell einen liberalen Kurs für eine offene Gesellschaft.

Alles in allem hat die Diskrepanz zwischen der AfD auf der einen Seite und den demokratischen Parteien im Bundestag auf der anderen Seite in den letzten zehn und den letzten fünf Jahren deutlich zugenommen. Aus wahltaktischer Perspektive könnte dies der AfD einen größeren Stimmanteil einbringen, da sie nun in weniger Politikbereichen Konkurrenz durch die etablierten Parteien hat. Dies ist vermutlich die Lücke, die das BSW zu nutzen versucht, indem es einerseits sehr radikale und AfD-ähnliche Positionen in der Außenpolitik und anderen spezifischen Themen vertritt, bei anderen Themen jedoch moderatere Positionen verfolgt.

Das AfD-Paradox besteht auch in Europa

Ähnlich wie für die Bundestagswahl 2021infoMarcel Fratzscher (2023): Das AfD-Paradox: Die Hauptleidtragenden der AfD-Politik wären ihre eigenen Wähler*innen. DIW aktuell Nr. 88 (online verfügbar, abgerufen am 15. Mai 2024. Dis gilt auch für alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht). und für die Landtagswahlen in Thüringen, Bayern und HesseninfoMarcel Fratzscher (2023): Das AfD-Paradox und die politische Nähe zu anderen Parteien: Die meisten Überschneidungen gibt es mit der Union. DIW aktuell Nr. 89 (online verfügbar). zeigt sich ein AfD-Paradox auch für die Europawahlen 2024: Die vermeintliche AfD-Wählerschaft würde einen erheblichen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Preis für die AfD-Politik auf EU-Ebene zahlen. Denn das, was die AfD mit ihrer Politik fordert und verfolgt, würde gerade die eigenen Wähler*innen im erheblichen Maß schädigen.

Wer sind die AfD-Wähler*innen? Verschiedene Analysen zeigen:infoNTV (2023):  Männlich, ländlich, mittelalt. Umfrage zeigt Eigenschaften der AfD-Wähler (online verfügbar); Frank Decker (2022): Wahlergebnisse und Wählerschaft der AfD. Bundeszentrale für politische Bildung (online verfügbar); Oskar Niedermayer and Jürgen Hofrichter (2016): Die Wählerschaft der AfD: Wer ist sie, woher kommt sie und wie weit rechts steht sie? Zeitschrift für Parlamentsfragen Nr. 2 (online verfügbar); Nils Markwardt (2023): Wenn sie nur wüssten. Zeit Online vom 4. August 2023 (online verfügbar). AfD-Wähler*innen sind überproportional im mittleren Alter, meist männlich und leben häufiger in strukturschwächeren Regionen. Die Zustimmung zur AfD ist in Ostdeutschland höher als im Westen. Zudem haben AfD-Wähler*innen durchschnittlich einen geringeren Bildungs- und Berufsabschluss und verdienen unterdurchschnittlich. In anderen Worten, sie gehören viel häufiger zu den vulnerablen Gruppen in unserer Gesellschaft und sind somit viel stärker von einem starken Sozialstaat, guten staatlichen Institutionen und einer starken Daseinsvorsorge abhängig. Das sind genau die Dinge, die die AfD in fast allen Bereichen schwächen oder komplett abschaffen möchte.

Die Politik der Ausgrenzung gegen Minderheiten, wie Geflüchtete und Bezieher*innen sozialer Leistungen, würde für viele AfD-Wähler*innen als Bumerang zurückkommen. Denn durch eine Kürzung sozialer Leistungen würde kein Erwerbstätiger auch nur einen Euro mehr an Arbeitseinkommen erzielen, größere Chancen haben oder eine verbesserte Daseinsvorsorge erhalten. In anderen Worten, das Ausgrenzen anderer Minderheiten könnte in Zukunft sehr schnell viele AfD-Wähler*innen selbst hart betreffen und ihre soziale und politische Teilhabe reduzieren.

Auch erhält die AfD immer mehr Unterstützung bei der jungen Generation. Vielen ist offensichtlich nicht bewusst, dass ein geschwächtes Europa ihre eigenen Zukunftschancen verschlechtert und im Wettbewerb mit China und den USA Deutschland und Europa viel Wohlstand kosten wird. Dass die Partei weiterhin die Klimakrise leugnet und alle Maßnahmen zu dessen Bekämpfung ablehnt, würde vor allem die Jüngeren hart treffen.

Auch die AfD-Forderungen, Europa abzuschotten, nationale Grenzen zu stärken, Zuwanderung zu begrenzen und Protektionismus statt Freihandel zu stärken, würden in Deutschland viele Millionen Arbeitsplätze zerstören. Wiederum wären die AfD-Wähler*innen die Hauptleidragenden dieser Politik, da Menschen mit geringeren Qualifikationen, weniger Einkommen und einer geringeren Mobilität davon besonders stark betroffen wären.

Auch ein Austritt aus dem Euro wäre für die deutsche Wirtschaft eine Katastrophe, weil er viele der wichtigen Lieferketten und Absatzmärkte für deutsche Unternehmen zerstören würde. Nicht China oder die USA sind Deutschlands wichtigste Handelspartner, sondern die Europäische Union: Mehr als die Hälfte aller deutschen Exporte geht in die EU. Eine Frage, die im Wahl-O-Mat 2024 nicht gestellt wurde, jedoch von der AfD-Bundessprecherin Alice Weidel gefordert wird, ist eine Abstimmung, ob Deutschland aus der EU austreten soll.infoDietmar Neuerer (2024): AfD-Chefin Weidel bringt Austritt Deutschlands aus der EU ins Spiel. Handelsblatt vom 22. Januar (online verfügbar). Ein Austritt aus der EU, der sogenannte Dexit, würde Deutschland noch stärker schwächen als der Austritt aus dem Euro. Das Beispiel Großbritannien zeigt, wie katastrophal sich ein EU-Austritt nicht nur auf die Wirtschaft, sondern auch auf die Sozialsysteme und die Verfügbarkeit von Fachkräften auswirken würde. Es wäre vor allem die junge Generation in Deutschland, die für eine solche Entscheidung einen hohen Preis zahlen und einen dauerhaften Schaden ertragen müsste.

Die falschen Versprechen der AfD offenlegen

Was erklärt das AfD-Paradox? Es gibt unterschiedliche, teils ergänzende Erklärungen für diesen vermeintlichen Widerspruch. Ein wichtiger Teil der Erklärung ist sicherlich die hohe Unzufriedenheit und die großen Ängste, die bei AfD-Wähler*innen deutlich stärker vertreten sind. Verschiedene Studien und Analysen haben immer wieder gezeigt, dass die Mehrheit selbst nicht rechtsextreme Positionen vertritt, sondern ihre Stimme als Protest verstanden wissen möchte.

Ein weiterer Teil der Erklärung mag mit einer falschen Selbsteinschätzung zu tun haben. Verschiedene wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass die überwältigende Mehrheit der Deutschen sich zur Mittelschicht zählt, obwohl viele faktisch entweder mehr oder – wie bei vielen AfD-Wähler*innen – deutlich weniger verdienen. Es scheint, dass viele AfD-Wähler*innen nicht realisieren, dass die Ausgrenzung von Minderheiten und die Kürzung sozialer Leistungen letztlich sie selbst stark negativ treffen würde.

Der Populismus der AfD hat es geschafft, vielen Menschen fälschlicherweise zu suggerieren, eine stärkere Unterstützung von Geflüchteten, Kindern, Arbeitslosen oder kranken Menschen und mehr Toleranz und eine offene Gesellschaft bedeuteten eine Kürzung der Leistungen und eine schlechtere Ausgangssituation für sie selbst. Ein solches Nullsummen-Denken, bei dem der Gewinn für andere zwingend als Verlust für sich selbst wahrgenommen wird, beruht auf einem Irrglauben und führt zu einem Verteilungskampf, der letztlich nur Verlierer*innen kennt.infoMarcel Fratzscher (2024): Das Nullsummen-Denken verhindert Lösungen. ZEIT Online (online verfügbar).

Daher ist es so wichtig, dass die falschen Versprechen der AfD und die Konsequenzen der AfD-Politik offengelegt werden. Die Perversität der anstehenden Europawahl besteht darin, dass sie eine rechtsextreme Partei deutlich stärken könnte, die Europa und Deutschland spaltet und letztlich gerade den eigenen Wähler*innen besonders stark schaden würde.

© DIW Berlin

Themen: Europa

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