Die Zunahme krankheitsbedingter Fehltage hat eine Debatte über vermehrtes „Blaumachen“ losgetreten. Ein Treiber des Anstiegs der Fehltage ist die Zunahme psychischer Erkrankungen. Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Studie die psychische Gesundheit in Deutschland nach Altersgruppen und geht der Frage nach, ob die Entwicklung der psychischen Gesundheit in der Corona-Pandemie anders war als in vorherigen Krisen. Auf Basis der SOEP-Daten zeigt sich zum einen, dass die psychische Gesundheit der erwachsenen Bevölkerung unter 50 Jahren in den vergangenen Jahren besonders gelitten hat. Während sich die psychische Gesundheit der mindestens 50-Jährigen nach der Pandemie schnell erholt hat, fiel sie bei den Jüngeren unter den Wert von 2002. Die Analyse deutet darauf hin, dass eine fehlerhafte Erfassung oder zunehmendes „Blaumachen“ nicht die Treiber für den Anstieg der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen sind. Die psychische Gesundheit jüngerer Menschen im Erwerbsalter verschlechtert sich in der Tat dramatisch – anders beispielsweise als in der globalen Finanzkrise. Gerade der jüngeren Arbeitnehmerschaft kommt aber angesichts der demografischen Entwicklung und des Fachkräftemangels eine große Bedeutung zu, so dass insbesondere Unternehmen Prävention und Therapie von psychischen Erkrankungen mehr Priorität einräumen sollten.
Psychische Erkrankungen sind auf dem Vormarsch. Einem Bericht der DAK-Krankenkasse zu Folge lag die Anzahl der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen im Jahr 2023 je 100 Arbeitnehmer*innen bei 323. Gegenüber dem Jahr 2013 entspricht dies einem Anstieg um 52 Prozent.DAK (2024): Psychreport 2024. Entwicklung der psychischen Erkrankungen im Job 2013–2023 (online verfügbar, abgerufen am 12. November 2024. Dies gilt für alle Onlinequellen in diesem Bericht). Neben dem individuellen Leid, das mit psychischen Erkrankungen verbunden ist, verursachen sie immense Kosten für die betroffenen Volkswirtschaften. Beispielsweise entfallen auf jede*n Bewohner*in der Bundesrepublik Deutschland rund 680 Euro pro Jahr auf die Behandlung psychischer Erkrankungen. Damit sind psychische Erkrankungen gleichauf mit kardiovaskulären Erkrankungen.Vgl. das Informationssystem der Gesundheitsberichterstattung des Bundes (online verfügbar, abgerufen am 4. Dezember.2024). Das erfasst aber noch nicht die Kosten, die mit den Arbeitsausfällen, beispielsweise durch Fehltage, eine gesunkene Produktivität am Arbeitsplatz (Präsentismus) oder Frühverrentungen verknüpft sind. Somit bergen psychische Erkrankungen das Potenzial, den bereits ohnehin hohen Bedarf an Fachkräften zu verschärfen.
Im aktuellen politischen Diskurs haben die Fehltage durch Krankheit zuletzt große Aufmerksamkeit erhalten. Angesichts der großen Zunahme krankheitsbedingter Fehltage werden von Krankenkassen, Politiker*innen und Wissenschaftler*innen hierfür zahlreiche Erklärungen angeführt: Zum einen wurde im Jahr 2022 die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU) eingeführt, wodurch eine mögliche Untererfassung von Fehltagen korrigiert wird. Vor der Einführung der elektronischen AU haben viele kranke Arbeitnehmer*innen die Krankschreibung nicht bei der Krankenkasse eingereicht, sodass diese nicht in den Daten abgebildet werden.
Zum anderen wird öffentlich darüber spekuliert, dass immer mehr sogenannte „Blaumacher“ sich eine AU verschaffen, obwohl sie eigentlich gesund seien. Dieses Verhalten soll durch die Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung begünstigt worden sein. Wie ein Bericht vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung darlegt, wurde die telefonische Krankschreibung allerdings bereits im März 2020 eingeführt, während der Anstieg der Fehltage statistisch erst seit 2022 zu beobachten ist. Demnach liege ein Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Fehltage und der Einführung der elektronischen AU also deutlich näher, als dass ein Anstieg der Anzahl der „Blaumacher“ wegen der telefonischen Krankschreibung dafür verantwortlich wäre.Nicolas R. Ziebarth und Stefan Pichler (2024): Einordnung des deutlichen Anstiegs der krankheitsbedingten Fehlzeiten seit 2022. ZEW Policy Brief 24–18 (online verfügbar).
In der vorliegenden Studie soll ein Perspektivwechsel vorgenommen werden und die psychische Gesundheit der Menschen in Deutschland als ein potenzieller Faktor für den hohen Krankenstand analysiert werden. Aufbauend auf früheren Studien werden die existierenden Zeitreihen aktualisiert und der Zeittrend der psychischen Gesundheit untersucht – zum einen von Menschen von 17 bis 49 Jahren, zum anderen von Menschen, die 50 Jahre und älter sind.Um die Lebenssituation geflüchteter Menschen in Deutschland besser bewerten zu können, sind diese durch neue Zusatzstichproben seit 2015 im SOEP überrepräsentiert. Aufgrund von Flucht und Verfolgung ist zu erwarten, dass die psychische Gesundheit Geflüchteter niedriger als diejenige der Nicht-Geflüchteten. In der Folge würde die Berücksichtigung der Menschen, die seit 2015 nach Deutschland geflüchtet sind, den Trend möglicherweise überzeichnen und so die Vergleichbarkeit über die Zeit mindern. Daher wurden die Zusatzstichproben von Geflüchteten M3, M4, M5, und M6 von den Analysen ausgeschlossen. Psychische Gesundheit wird hierbei unabhängig von der Erfassung der Diagnosen und den damit verknüpften Problemen gemessen. Hierfür bieten sich Instrumente zur Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität an. Eines dieser Instrumente, ist der SOEP Short Form-12(SOEP-SF12)-Fragebogen, der seit 2002 jedes zweite Jahr im Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) enthalten ist.
Dieser Fragebogen beinhaltet zwölf gesundheitsbezogene Fragen zur psychischen und physischen Gesundheit. Mit Hilfe statistischer Methoden wird auf Basis der Antworten bezüglich der psychischen Gesundheit ein Index berechnet.Im Gegensatz zu anderen Analysen, die den Mental Component Summary (MCS) Score nutzen, wird in dieser Studie ein Index berechnet, der ausschließlich auf Skalen basiert, die die psychische Gesundheit widerspiegeln. Für das etablierte Verfahren zur Berechnung des MCS Score vgl. Matthias Nübling, Hanfried H. Andersen und Axel Mühlbacher (2006): Entwicklung eines Verfahrens zur Berechnung der körperlichen und psychischen Summenskalen auf Basis der SOEP-Version des SF 12 (Algorithmus). DIW Data Documentation 16 (online verfügbar). Der Index wird zunächst für den Querschnitt des Jahres 2002 berechnet und anschließend so normiert, dass er einen Mittelwert von null und Standardabweichung eins in der Population der mindestens 50-Jährigen hat. In der Folge können Veränderungen und Differenzen in Standardabweichungen interpretiert werden. Der Vorteil des SOEP-SF12-Fragebogens ist, dass keine der Fragen auf Diagnosen abstellt. Somit werden Probleme, wie die fehlerhafte Erfassung von Diagnosen oder Falschantworten aus Furcht vor Stigmatisierung reduziert. Im Gegensatz zu Diagnosezahlen kann psychische Gesundheit mit dem SOEP-SF12-Fragebogen außerdem unabhängig von verändertem Verhalten hinsichtlich der Inanspruchnahme von ärztlicher Konsultation bewertet werden. Das SOEP ist eine repräsentative, wiederholte und multidisziplinäre Haushaltsbefragung. Seit 1984 werden jährlich rund 15.000 Haushalte und deren Mitglieder in Deutschland zu ihrer allgemeinen Lebenssituation befragt.Jan Goebel et al. (2019): The German Socio-Economic Panel (SOEP). Journal of Economics and Statistics, 239(2), 345–360. Für die vorliegende Analyse wird das SOEP v39 mit den Daten der Jahre 1984–2022 (SOEP-Core v39, EU-Edition) genutzt. DOI: 10.5684/soep.core.v39eu.
Von 2002 bis 2016 ist die Entwicklung der psychischen Gesundheit für beide Altersgruppen insgesamt positiv (Abbildung 1).Für einen Überblick über die psychische Gesundheit einzelner Subgruppen in Deutschland bis 2020 siehe Mattis Beckmannshagen, Daniel Graeber und Barbara Stacherl (2023): Psychische Gesundheit: Abstand zwischen Ost- und Westdeutschland wird kleiner. DIW Wochenbericht Nr. 40, 546–552 (online verfügbar). Mit Ausnahme des Jahres 2010, dem Befragungsjahr nach der weltweiten Finanzkrise, steigt die psychische Gesundheit für beide Altersgruppen bis 2016 um rund 0,15 Standardabweichungen. Das Jahr 2016 stellt für beide Altersgruppen den Höhepunkt im Beobachtungszeitraum dar. In den Folgejahren – noch vor Beginn der Corona-Pandemie – verschlechterte sich die psychische Gesundheit beider Gruppen. Während sie in beiden Altersgruppen bis 2016 beinahe parallel verlief (mit einem deutlich höheren Niveau in der jüngeren Gruppe), divergieren die Trends seit 2016 zum Teil erheblich. Während sich die mindestens 50-Jährigen nach der Pandemie wieder zu erholen scheint, fällt die psychische Gesundheit der unter 50-Jährigen seit 2016 kontinuierlich und ist im Jahr 2022 niedriger als im Ausgangsjahr 2002.
Das Ausmaß dieser Entwicklung zeigt sich noch stärker, wenn man die durchschnittlichen Differenzen zwischen den beiden Gruppen über die Jahre analysiert (Abbildung 2). Bis 2014 liegt die psychische Gesundheit der jüngeren Altersgruppe rund 0,18 Standardabweichungen über derjenigen der älteren Altersgruppe. Ab 2016 sinkt diese Differenz, was hauptsächlich der Verschlechterung der psychischen Gesundheit der jüngeren Menschen geschuldet ist. Dieser Trend setzt sich bis 2022 fort. Als Konsequenz haben jüngere Menschen im Jahr 2022 erstmalig eine niedrigere psychische Gesundheit als ältere Menschen.Diese Differenz ist sowohl konzeptionell als auch statistisch signifikant (P-Wert = 0.020)
Um zu untersuchen, ob die Corona-Pandemie stärkere Auswirkungen auf die psychische Gesundheit hatte als vorangegangene Krisen, wird im Folgenden ein Vergleich mit der globalen Finanzkrise zwischen 2008 und 2010 gezogen. Dazu werden als Erhebungsjahre 2006 und 2010 für die Finanzkrise sowie 2018 und 2022 für die Corona-Pandemie gewählt, um die Krisenjahre zu „umklammern“, also einen Vorher-Nachher-Vergleich ziehen zu können.Einschränkend ist zu erwähnen, dass im Jahr 2022 die Corona-Pandemie noch nicht vollständig vorüber war. Beispielsweise waren im Jahr 2022 noch erhebliche Einschränkungen in Kraft. Für eine komplette Chronik, vgl. die Angaben auf der Website des Bundesgesundheitsministeriums (online verfügbar). Die Analyse zur Finanzkrise in Abbildung 4 konzentriert sich auf die Jahre 2006 und 2010, weil im Jahr 2010 die Verschlechterung der psychischen Gesundheit gemessen wird, die womöglich der Finanzkrise zuzuschreiben ist. Die Analyse ist vergleichbar, wenn man die Jahre 2004 und 2008 zugrunde legt. Für diese Jahre wird die psychische Gesundheit für alle Altersgruppen ab 17 in Vier-Jahres-Schritten untersucht.
Es wird deutlich, dass die Verschlechterung der psychischen Gesundheit insbesondere jüngere Menschen bis einschließlich 46 Jahren betrifft – je jünger, desto stärker (Abbildung 3). In den Altersgruppen ab 47 Jahren liegt die psychische Gesundheit in etwa auf dem Niveau von 2018.
Analog hierzu wurde auch die Veränderung der psychischen Gesundheit 2006 und 2010, also dem Jahr vor und nach der weltweiten Finanzkrise, betrachtet (Abbildung 4). Deutlich wird, dass im Zuge dieser Krise keine Spreizung zwischen den Altersgruppen zu erkennen ist. Im Zuge der Finanzkrise waren alle Altersgruppen scheinbar ähnlich betroffen und haben sich ähnlich schnell davon erholt.
Die psychische Gesundheit von Menschen bis 50 Jahren in Deutschland hat sich seit 2016 rapide verschlechtert. Während die psychische Gesundheit der mindestens 50-Jährigen im Jahr 2022 bereits wieder beinahe auf dem Niveau vor der Pandemie lag, nimmt sie bei den Jüngeren stetig ab. Die Analyse zeigt, dass deren psychische Gesundheit im Jahr 2022 sogar unterhalb des Niveaus von 2002 liegt. Somit sind zwei Jahrzehnte des gesundheitlichen Fortschritts verloren.
Neben den negativen Folgen für die betroffenen Menschen, hat dies auch Konsequenzen für die Wirtschaft in Deutschland. Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um den hohen Krankenstand in Deutschland ist wichtig festzuhalten: Die Analyse deutet darauf hin, dass eine fehlerhafte Erfassung oder zunehmendes „Blaumachen“ nicht die Treiber für den Anstieg der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen sind. Die psychische Gesundheit jüngerer Menschen im Erwerbsalter verschlechtert sich in der Tat dramatisch.
Die Ursachen für diese Entwicklung können vielfältig sein. Die Krisen, wie zum Beispiel die Corona-Pandemie oder der Krieg in der Ukraine, und die damit einhergehenden wirtschaftlichen Konsequenzen und Unsicherheiten können dazu führen, dass Menschen im Erwerbsalter vermehrt vielfältigen Sorgen ausgesetzt sind. Studien haben gezeigt das anhaltende Sorgen zu psychischen Erkrankungen führen können.Daniel Avdic, Sonja C. de New und Daniel A. Kamhöfer (2021): Economic Downturns and Mental Health in Germany. European Economic Review 140 (online verfügbar). Gleichzeitig zeigen die vorliegenden Analysen, dass die psychische Gesundheit jüngerer Menschen momentan mehr darunter leidet als beispielsweise nach der globalen Finanzkrise 2008 bis 2010.
Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung in Deutschland wird der Bedarf nach Arbeitskräften in den kommenden Jahren voraussichtlich steigen. Gerade der jüngeren Arbeitnehmerschaft kommt eine große Bedeutung zu, wenn die Generation der sogenannten „Baby Boomer“, das heißt der Menschen, die zwischen 1946 und 1964 geboren sind, im Ruhestand ist. Daher ist es wichtig, das Thema psychische Gesundheit ernst zu nehmen.
Der Prävention und Therapie psychischer Erkrankungen sollte gesamtgesellschaftlich und im Arbeitskontext höhere Priorität eingeräumt werden. Eine wichtige Rolle kommt dabei beispielsweise Workshops oder Coachings im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements zu. Weiterhin sollte es für Personen in Krisensituationen niedrigschwellige Angebote geben, die ihnen Unterstützung bieten, ohne den teilweise langwierigen Prozess hin zu einem Therapieplatz zu absolvieren. Zentral wird es vor allem sein, psychische Erkrankungen zu entstigmatisieren und den Betroffenen nicht zu unterstellen, sie würden nicht arbeiten wollen. Nur dann kann sichergestellt werden, dass in der Breite psychische Erkrankungen rechtzeitig erkannt und therapiert werden.
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