Medienbeitrag vom 22. Oktober 2018
Neue Ideen könnten dafür sorgen, dass der Mindestlohn endlich eingehalten wird.
Seit 2015 gibt es den gesetzlichen Mindestlohn – zumindest theoretisch. Denn in der Praxis erhalten ihn nach wie vor viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht. Das Ausmaß der Verstöße gegen das Mindestlohngesetz ist immens. Wie eine Studie des DIW Berlin gezeigt hat, lag im Jahr 2016 der Lohn von etwa 1,8 Millionen Personen unter der damals gültigen Untergrenze von 8,50 Euro. Vor einigen Wochen hat der Zoll erstmalig eine bundesweite Kontrolle zur Aufklärung von Mindestlohnverstößen durchgeführt. Doch lässt sich der Betrug auf diese Weise verhindern oder zumindest eindämmen? Nur die Anzahl der Kontrollen zu erhöhen, scheint jedenfalls nicht auszureichen. Denn die dafür zuständige Behörde, die Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls, ist für die Kontrolle von mehr als zwei Millionen Betrieben mit über 30 Millionen Beschäftigten zuständig. Dafür stehen derzeit nur 6800 Beamtinnen und Beamte zur Verfügung, die parallel noch ganz andere Delikte aufklären müssen. Das kann kaum funktionieren.
Nötig sind also weitergehende Maßnahmen - und da wären durchaus auch innovative Ansätze denkbar. Da ist zunächst die Arbeitszeiterfassung, das Einfallstor für Umgehungsstrategien. In der Praxis gibt es mit Blick auf die aufzuzeichnende Arbeitszeit eine Reihe von Problemen, beispielsweise wenn für Taxifahrer Wartezeiten als Pausen statt als Arbeitszeit abgerechnet werden - entgegen der aktuellen Rechtsprechung. Nicht selten sind Angestellte zudem nachsichtig, wenn der Arbeitgeber sagt, er könne sie sonst nicht bezahlen. Oder sie akzeptieren einen niedrigeren Lohn beziehungsweise arbeiten für den gleichen Lohn mehr, um einer Kürzung anderer Bezüge zu entgehen.
Eine lückenlose Dokumentation der Arbeitszeiten ist die Voraussetzung für einfache und effiziente Kontrollen. Zwar gibt es immer wieder Stimmen, denen zufolge dies die Wirtschaft in unzumutbarem Ausmaß belasten würde. Aber ist es nicht plausibel anzunehmen, dass Arbeitszeiten sowieso festgehalten werden, ob aus Versicherungsgründen oder zur internen Kostenkalkulation? Und wie stichhaltig ist dieses Argument im digitalen Zeitalter?
So bietet etwa die Smartphone-App des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die Möglichkeit, die eigenen Arbeitszeiten selbständig festzuhalten und diese direkt per Mail an den Arbeitgeber zu schicken. Die Arbeitszeitkonten, die man beispielsweise durch Kollegen oder den Vorgesetzten gegenzeichnen lassen kann, können im Fall der Fälle vor Gericht sogar als Beweis herangezogen werden. Daher wird das selbständige Führen solcher Stundenaufzeichnungen auch von Gewerkschaften empfohlen. Nun muss es darum gehen, diese Möglichkeiten bekannter und zum obligatorischen Vorgehen zu machen.
Ein zweites mögliches Handlungsfeld sind Anreize für Unternehmen, sich aus eigenem Antrieb korrekt zu verhalten. In Großbritannien werden beispielsweise schwarze Listen mit Unternehmen veröffentlicht, die den Mindestlohn umgehen. Dieser potenzielle Ansehensverlust soll Arbeitgeber davon abhalten, die Lohnuntergrenze zu unterlaufen. Die Frage ist aber, ob tatsächlich so viele Firmen überhaupt gegen den Mindestlohn verstoßen wollen. Vermutlich nicht, denn weil der Mindestlohn in Deutschland eine sehr hohe gesellschaftliche Unterstützung genießt (85 bis 90 Prozent der Bevölkerung finden den Mindestlohn gut), wird es auch viele Unternehmerinnen und Unternehmer geben, die den Mindestlohn gerne zahlen würden. Das Problem ist nur: Wenn die Konkurrenz anderer Meinung ist und den Mindestlohn umgeht, um Lohnkosten zu sparen, entsteht ein Wettbewerbsnachteil für die gesetzeskonform handelnden Firmen.
Um das gesetzeskonforme Verhalten zu unterstützen, könnte man daher eine weiße Liste mit Firmen einführen, die sich freiwillig und vollständig dazu bereit erklären, einem Kontrollorgan ihre Buchhaltung und ihre Arbeitszeiten vorzulegen sowie bestätigende Gespräche mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zuzulassen. Für ein Unternehmen, das sich regelmäßig kontrollieren lässt, sollen dadurch klare Wettbewerbsvorteile entstehen. Zum Beispiel sollten nur diese Unternehmen an der öffentlichen Auftragsvergabe teilnehmen können. Gleichzeitig muss für alle Beteiligten klar erkennbar sein, dass Unternehmen diese Mindeststandards einhalten. Denkbar wäre eine Plakette, die beispielsweise ein Restaurant an der Tür platzieren kann, oder mit der es auf der Homepage werben kann, um zu signalisieren, dass es faire Löhne an seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zahlt. Idealerweise würde sogar bei Online- Vergleichsportalen angezeigt werden, welche Restaurants diese Plakette besitzen. Mit entsprechender Werbung erhielte die Plakette Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und gesellschaftliches Ansehen. Neben dem schon bekannten “Fair Trade”-Siegel gäbe es dann eben auch eine “Fair Pay”-Plakette.
Vor dem Hintergrund der breiten gesellschaftlichen Unterstützung für den Mindestlohn wird es vielen nicht egal sein, ob ihre Kellnerin oder ihr Kellner fair bezahlt wird oder nicht. Und gerade in der Gastronomiebranche sind Mindestlohnverstöße weit verbreitet. Studien haben zudem gezeigt, dass Kunden bereit sind, höhere Preise für Produkte mit vergleichbaren “Bio”- oder “Fair Trade”-Siegeln zu zahlen. Bei gleichem Effekt für die “Fair Pay”-Plakette könnten die höheren Lohnkosten auf diesem Wege ausgeglichen werden. Das Ganze hätte natürlich auch seine Kosten, weil eine freiwillige Zertifizierung ebenfalls Ressourcen benötigt. Nur wird sie per Definition weniger Aufwand für die Kontrollorgane als die jetzigen Zollkontrollen bereiten, denn Unternehmen werden freiwillig und eigenhändig ein Unterlagenpaket für die Zertifizierung vorbereiten müssen.
Möchte man alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor unangemessen niedrigen Löhnen schützen, wie vom Mindestlohngesetz ursprünglich vorgesehen, sollten solche Maßnahmen diskutiert und in Erwägung gezogen werden. Es liegt im gemeinsamen Interesse von Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmern und Unternehmen, dass das Mindestlohngesetz nicht der zahnlose Tiger bleibt, das es derzeit noch ist. Eine “Fair Pay”-Plakette könnte die entsprechenden Anreize schaffen, dass am Ende alle Gruppen profitieren.
Der Gastbeitrag von Alexandra Fedorets und Mattis Beckmannshagen ist am 21. Oktober 2018 bei der Süddeutschen Zeitung erschienen.
Themen: Arbeit und Beschäftigung