Medienbeitrag vom 30. August 2016
Missbraucht Deutschland die Globalisierung zu seinem Vorteil und auf Kosten anderer? Viele Regierungen, Unternehmen und Ökonomen weltweit sind fest davon überzeugt. Christine Lagarde, die heutige Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), beklagte als französische Finanzministerin im Jahr 2010, dass Deutschland im globalen Wettbewerb mit gezinkten Karten spiele und sich durch Lohndumping Wettbewerbsvorteile verschaffe.
Es gibt viele andere Klagen gegen Deutschland. So hat der Volkswagen-Konzern im sogenannten Abgasskandal manipuliert, um Kosten zu sparen und Regeln zu umgehen. Auch die Deutsche Bank musste wiederholt Strafgelder entrichten. Und die EU-Kommission hat in den vergangenen 15 Jahren die Bundesregierung mehrmals für ihre staatlichen Hilfen an deutsche Banken gerügt.
Der Wettbewerbsvorteil Deutschlands kann beziffert werden, denn die deutsche Wirtschaft erzielt jedes Jahr einen Leistungsbilanzüberschuss von mehr als acht Prozent der Wirtschaftsleistung. Das entspricht 250 Milliarden Euro. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Menschen, Unternehmen und Regierungen im Ausland 250 Milliarden Euro an Schulden gegenüber Deutschland aufnehmen müssen - eine enorme Größenordnung, auch aus globaler Perspektive.
Das Fazit vieler Kritiker weltweit ist daher: Wenn Globalisierung schlecht ist, dann ist Deutschland ihr größter Sünder. Und ganz falsch liegen sie nicht. Denn es ist zweifelsohne richtig, dass kaum ein Land so stark von der Globalisierung profitiert wie Deutschland, wo fast jeder zweite Job von den Exporten abhängt. Und es ist richtig, dass einige Jobs und Einkommen in Ländern wie Frankreich verloren gegangen sind, weil deutsche Unternehmen manche Produkte besser oder günstiger produzieren können.
Zu Recht widersprechen viele in Deutschland dieser Kritik. Denn die Globalisierung bedeutet eine Arbeitsteilung und ist per se etwas Gutes. Eine Arbeitsteilung ermöglicht einer Gemeinschaft, ihre produktiven Kräfte so effizient wie möglich einzusetzen. Globalisierung ist kein Nullsummenspiel, sondern sie schafft mehr Wohlstand für die Gemeinschaft. Auch die Stärkung des Wettbewerbs durch die Globalisierung ist prinzipiell etwas Positives, denn sie führt zu Innovation und Effizienz und letztlich zu mehr Wohlstand, auch wenn sie sowohl innerhalb von Ländern als auch zwischen Ländern nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer hervorbringt. Die Frage ist vielmehr, wie dieser Wohlstandsgewinn der Globalisierung verteilt wird, und dies hängt vor allem von der Verteilung der Macht, von Regeln und von Institutionen ab.
Fairer Wettbewerb findet kaum statt
Das größte Problem der Globalisierung ist, dass sie von einer kleinen wirtschaftlichen und politischen Oligarchie von Unternehmern, Investoren und politischen Interessen kontrolliert, manipuliert und missbraucht wird. Dieser Missbrauch der Globalisierung zeigt sich in drei grundlegenden Problemen. Das erste ist eine systematische Umgehung existierender Regeln durch einige wenige, was letztlich einen fairen Wettbewerb zwischen Unternehmen erschwert oder gar verhindert. So können beispielsweise multinationale Unternehmen Steuerschlupflöcher nutzen, kleinere dagegen nicht. Manche ändern gar ihren geografischen Standort, um Regeln zu umgehen. Sie schaffen sich damit einen Wettbewerbsvorteil gegenüber denen, die dies nicht können.
Als zweites lassen sich Regierungen durch die Globalisierung in ein “race to the bottom” drängen, in dem soziale Standards, Steuersätze oder der Wert der eigenen Währung immer weiter abgesenkt werden, um die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu verteidigen oder zulasten anderer zu verbessern. So haben sich nicht nur exotische Karibikinseln, sondern auch immer mehr europäische Länder in Steuerparadiese verwandelt. Das dritte Problem ist, dass die Globalisierung zu einer grundlegenden Verschiebung der Macht zwischen Wirtschaftsakteuren führt. Viele Exportunternehmen können erfolgreich Konzessionen mit der Drohung aushandeln, sie würden ansonsten ihre Produktion ins Ausland verlagern. Viele Regierungen, auch die Deutschlands, zahlen Milliarden an Subventionen an bestimmte Unternehmen, um deren globale Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Die Subventionen für den Kauf von Elektroautomobilen, also letztlich an die ohnehin schon sehr wettbewerbsstarken Automobilhersteller, ist nur eines von vielen Beispielen.
Viele Globalisierungsgegner beklagen, was der amerikanisch-türkische Ökonom Dani Rodrik ein “Globalisierungs-Trilemma” nennt. Es besagt, dass Länder wie Deutschland durch die Globalisierung nationale Souveränität verloren haben und deshalb dieser Missbrauch nicht mehr verhindert werden kann. Der zentrale Punkt ist jedoch, dass nicht die Globalisierung die nationale Souveränität beschneidet. Sondern es sind der Missbrauch und die Instrumentalisierung der Globalisierung, die nationale Souveränität und demokratische Legitimierung schädigen.
Die grundlegende Frage der Globalisierung ist daher: Wie kann der globale Markt besser funktionieren und der Einfluss legitimer nationaler Interessen gestärkt werden? Die Antwort kann sicherlich nicht sein, sich abzuschotten und Mauern hochzuziehen, wie die Beispiele Nordkorea oder Kuba zeigen. Genauso wenig kann es die Lösung sein, wie vergangenen Donnerstag von Hans-Werner Sinn im Handelsblatt vorgeschlagen, die Migration von Arbeitskräften weiter zu beschneiden, denn diese ist genauso essenziell für eine erfolgreiche Globalisierung wie die Mobilität von Gütern und von Kapital.
Die Antwort liegt in der Bekämpfung des Missbrauchs und einer Stärkung globaler als auch europäischer Institutionen und Regeln. Ein ungleicher Wettbewerb zwischen Unternehmen kann nur dann verhindert werden, wenn alle den gleichen Regeln oder zumindest gemeinsam abgestimmten Regeln unterliegen. Nationale Regierungen werden dann wieder Handlungsspielräume gewinnen, wenn nicht zwingendermaßen alle Wirtschafts- und Sozialpolitik gleichgemacht wird, aber wenn diese koordiniert und eine schädliche Abwärtsspirale verhindert wird.
Globale Institutionen sind jedoch meist schwach und in den vergangenen Jahren eher geschwächt worden. Die letzte Verhandlungsrunde der Welthandelsorganisation WTO, die sogenannte Doha-Runde, scheiterte. Es gibt keine globale Finanzaufsicht für Banken und Märkte, nur eine lose Koordinierung auf zwischenstaatlicher Ebene. Es gibt keine globale Koordinierung von Steuern, auch wenn die 20 größten Industrie- und Schwellenländer (G20) Steuerschlupflöcher schließen wollen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) könnte und sollte die makroökonomische Politik und die Währungspolitik enger koordinieren, stößt aber auf den Widerstand nationaler Interessen in seinen Mitgliedsländern.
Diese Institutionen müssen daher neu aufgebaut oder gestärkt werden, um einer globalen Koordinierungsrolle gerechter werden zu können. Das erfordert vor allem auch eine ehrliche Verpflichtung der Europäischen Union und all ihrer Mitgliedsländer, Entscheidungen und Kompetenzen dieser Institutionen zu respektieren und ihre Entscheidungsprozesse zu stärken und inklusiver zu machen, also vor allem auch Schwellenländer wie China und Indien stärker einzubinden und damit in die Verantwortung zu nehmen. Nun kann zu Recht eingewandt werden, dass Deutschland - als kleines Land mit kaum mehr als einem Prozent der Weltbevölkerung - langfristig kaum seine nationalen Interessen wird global behaupten können. Und gerade deshalb ist ein starkes und einheitliches Europa, das in der Welt gemeinschaftlich auftritt und mit einer Stimme spricht, von so enormer Bedeutung für die wirtschaftliche, soziale und politische Zukunft des Kontinents und vor allem Deutschlands.
Nehmen wir ein ganz konkretes Beispiel, das viele deutsche mittelständische Unternehmen immer wieder erfahren müssen. Wenn in einem Land, beispielsweise China, ihre Patentrechte missachtet werden, ist dieses Unternehmen alleine machtlos. Auch die Bundesregierung kann alleine nicht viel ausrichten, denn Deutschland ist im globalen Vergleich eine kleine Volkswirtschaft. Die beste Chance für dieses Unternehmen ist es, ein starkes Europa im Rücken zu haben, mit einer EUKommission, die Sanktionen gegen China oder andere Länder ergreift, um die Interessen der eigenen europäischen Unternehmen zu schützen. Und als bei weitem größte Volkswirtschaft der Welt könnte die Europäische Union sehr wohl global eine viel bedeutendere Rolle spielen, wenn ihre Mitglieder denn wollten.
Europa - Spielball globaler Interessen
Gleichzeitig führt der Wettstreit engstirniger nationaler Interessen in Europa dazu, dass der Einfluss Europas weltweit weit geringer ist, als ihre Wirtschaftsmacht vermuten ließe. So haben alle EU-Länder zusammen ein Stimmengewicht von mehr als 30 Prozent beim Internationalen Währungsfonds (IWF), das jedoch auf viele unterschiedliche Direktoriumsmitglieder verteilt ist. Die Unfähigkeit Europas, mit einer Stimme zu sprechen und gemeinsam zu agieren, bedeutet, dass die USA mit kaum mehr als der Hälfte des Stimmengewichts beim IWF praktisch das Sagen haben. Dies ist nur ein Beispiel von vielen, das zeigt, wie Europa zum Spielball globaler Interessen wird und daran scheitert, die Interessen seiner Menschen im globalen Wettbewerb zu verteidigen.
Die zum Teil berechtigte Kritik der Globalisierungsgegner wird erst dann verstummen, wenn es mehr fairen und weniger ruinösen Wettbewerb zwischen Regierungen und Unternehmen gibt. Eine Renationalisierung der Politik und das Hochziehen nationaler Barrieren sind die falschen Antworten auf die Globalisierung.
Die Globalisierung erfordert neue und stärkere globale Regeln und globale Institutionen wie die WTO, den IWF, die Weltbank und andere. Als kleines Land wird Deutschland seine eigenen Interessen nur als Teil eines starken Europas vertreten können. Ein starkes, geeintes Europa ist gerade für Deutschland die einzig mögliche Antwort auf die Globalisierung, um in einer durch technologischen Wandel, Handel und Migration immer globaleren Welt seinen Wohlstand sichern zu können.
Der Gastbeitrag von Marcel Fratzscher ist am 30. August 2016 im Handelsblatt erschienen.
Themen: Konjunktur