Blog Marcel Fratzscher vom 6. April 2017
Dieser Beitrag ist am 6. April auf faz.net erschienen.
Nie waren die Deutschen zufriedener mit ihrem eigenen Leben. Gleichzeitig gibt es eine tiefe Unzufriedenheit mit dem Zustand der Gesellschaft. Das ist kein Widerspruch. Ein Gastbeitrag.
Nie seit der Wiedervereinigung waren so viele Deutsche mit ihrem persönlichen Leben so zufrieden wie heute. Gleichzeitig waren mit 70 Prozent der Deutschen selten so viele unzufrieden mit der sozialen Ungleichheit und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt. Ist dies nicht ein Widerspruch? Lassen sich die Menschen diese Unzufriedenheit lediglich von Politikern oder gar Wissenschaftlern einreden, obwohl die Lage im Land eigentlich hervorragend ist?
Aus drei Gründen sind eine hohe Zufriedenheit mit dem persönlichen Leben einerseits und eine tiefe Unzufriedenheit mit dem Zustand der Gesellschaft andererseits nicht nur kein Widerspruch, sondern eine recht gute Beschreibung der Lage in Deutschland heute. Zum einen beschreiben diese Umstände eine zunehmende Polarisierung der deutschen Gesellschaft. Einem signifikanten Teil der Menschen geht es heute besser als noch vor zehn Jahren.
Mehr als 4 Millionen haben seit 2005 eine Arbeit gefunden, viele davon gute Arbeit, und die Einkommen sind für die Mehrheit der Beschäftigten gestiegen. Aber nicht alle haben an diesem Aufschwung teilhaben können, sie sind abgehängt worden. Die 40 Prozent der Haushalte mit den geringsten Einkommen haben heute eine geringere Kaufkraft als noch vor 20 Jahren. Mehr Menschen als damals arbeiten in prekären Verhältnissen.
Bei dieser Unzufriedenheit mit der Zunahme der Ungleichheit geht es nicht um eine Neiddebatte und um ein Klagen auf hohem Niveau, wie mancher Kritiker behauptet. Es geht auch nicht darum, dass Menschen in Deutschland nicht genug zu essen, kein Dach über dem Kopf oder keine Gesundheitsversorgung hätten. Deutschland hat einen starken Sozialstaat.
Polarisierung gefährdet das Funktionieren der Demokratie
Die Polarisierung verursacht vielmehr wirtschaftlichen, sozialen und politischen Schaden. Der Wirtschaft entgeht ein enormes Potential, wenn Menschen sich nicht ausreichend qualifizieren und in den Arbeitsmarkt einbringen können. Diese Polarisierung bedeutet eine ungleiche soziale und politische Teilhabe, was letztlich zu sozialen Konflikten führt und das Funktionieren der Demokratie gefährdet.
Zweitens sagen die Umfragen zur individuellen Zufriedenheit – wie jene, die vom DIW-SOEP seit 1984 durchgeführt wird – etwas über das gegenwärtige Empfinden, aber nichts über die Hoffnungen, Sorgen und Ängste für die Zukunft aus. Auch dies zeigt sich deutlich in vielen Studien: Die Menschen machen sich zunehmend Sorge über ihre Zukunft, darüber, was mit ihrer Arbeit passieren wird, ob es den eigenen Kindern gut gehen wird, ob die Rente sicher ist und ob sie ihren Lebensstandard halten können, ob Gewalt und Kriminalität zunehmen werden. Die nicht unberechtigte Wahrnehmung vieler ist: Wir leben in goldenen Jahren, die nicht ewig anhalten werden.
Der dritte und vielleicht wichtigste Grund ist, dass es vielen Menschen eben nicht nur um ihre ganz persönliche wirtschaftliche und finanzielle Lage geht, sondern dass sie in einer Gesellschaft leben wollen, die einen Ausgleich schafft und allen eine soziale Absicherung bietet. Wenn viele Menschen sagen, dass es ihnen selbst persönlich zwar gut geht, sie sich aber Sorgen um die soziale Ungleichheit und den gesellschaftlichen Zusammenhalt machen, ist dies kein Widerspruch, sondern reflektiert den Wunsch, die eigene Zufriedenheit zu teilen.
Solidarität und gesellschaftlicher Zusammenhalt sind wichtig
Dies ist eine ermutigende Botschaft: Solidarität und gesellschaftlicher Zusammenhalt ist den Menschen in Deutschland wichtig. So schauen viele in Deutschland heute mit Unverständnis auf die Vereinigten Staaten und darauf, wie der Präsident Donald Trump eine universelle Krankenversicherung für viele Millionen Amerikaner abschaffen und die Gesellschaft auch in anderer Hinsicht spalten will. Wenige in Deutschland wünschen sich ein Sozialsystem nach amerikanischem oder britischem Modell. Die große Mehrheit will Chancengleichheit, Solidarität und einen gesellschaftlichen Ausgleich. „Das Volk versteht das meiste falsch, aber es fühlt das meiste richtig“, schrieb Kurt Tucholsky mit Ironie 1931. Persönliche Zufriedenheit bei gleichzeitiger Unzufriedenheit mit der Polarisierung der Gesellschaft sind nicht zwingend ein Widerspruch. Sie könnten vielmehr eine recht akkurate Beschreibung der gegenwärtigen Stimmung in Deutschland sein. Und vielleicht ist es nicht das Volk, das dies falsch versteht, sondern mancher Kommentator.
Themen: Wohlbefinden