Blog Marcel Fratzscher vom 22. März 2019
Der Nobelpreisgewinner Angus Deaton und seine Kollegin Anne Case haben vor einiger Zeit mit ihrer Studie über ein Phänomen viel Aufsehen erregt, das sie death of despair tauften: Tod aus Verzweiflung, also durch Suizid, Alkohol und Drogen. Die beiden zeigten, dass sich die Anzahl der weißen US-Bürger, vor allem mittleren Alters und mit mittlerer und geringer Bildung, die einen death of despair starben, seit 1990 mehr als verdoppelt hatte.
Das war ungewöhnlich, denn zuvor war die Sterberate in den USA über Jahrzehnte hinweg gesunken, so wie in anderen wohlhabenden Ländern auch. Nirgendwo sonst hatte es eine derartige Trendumkehr gegeben. Und es erwies sich als politisch relevant. Denn genau die gleiche Gruppe, die vom death of despair so stark betroffen ist, fühlt sich besonders unzufrieden und abgehängt. Ihre Angehörigen zählen zu den stärksten Unterstützern von US-Präsident Donald Trump.
Aber ist der Tod aus Verzweiflung wirklich nur ein Problem der USA? Wie sieht es in Deutschland aus? Forscher des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung DIW sind der Frage nachgegangen. Die Ergebnisse sind gerade erschienen. Tatsächlich fanden meine Kolleginnen und Kollegen Peter Haan, Anna Hammerschmid, Robert Lindner und Julia Schmieder in ihrer Studie zum Tod aus Verzweiflung für Deutschland starke Unterschiede zu der Situation in den USA: In Deutschland ist die Zahl der deaths of despair unter Menschen mittleren Alters seit 1991 stark gesunken.
Es gibt aber eine Bevölkerungsgruppe unter den 50- bis 54-Jährigen, in der die Rate der Toten aus Verzweiflung enorm hoch ist: die ostdeutschen Männer. Anfang der 1990er-Jahre lag sie an der Spitze bei fast 200 Todesfällen pro 100.000 Personen – unter westdeutschen Männern hingegen betrug sie nur ein wenig mehr als 80.
Zum Teil hängt die hohe Differenz mit dem geringeren Lebensstandard und der schlechteren Gesundheitsvorsorge zu DDR-Zeiten zusammen. Aber auch die Jahre nach der Wiedervereinigung waren für viele Menschen in Ostdeutschland eine starke Belastung. Viele wurden entwurzelt. Drei von vier Ostdeutschen mussten bis 1996 ihren Arbeitsplatz wechseln, fast jeder und jede Zweite war selbst arbeitslos. Viele sind migriert oder haben Familie und Freunde verloren, die ihre Heimat aus wirtschaftlichen Gründen verlassen haben. Viele Ehen wurden geschieden. Kurzum, die sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen und Unsicherheiten in Ostdeutschland waren enorm. Viele tragen diese Erfahrung bis heute mit sich.
Die gute Botschaft ist, dass die Anzahl der Tode aus Verzweiflung gerade bei ostdeutschen Männern in den vergangenen Jahren deutlich abgenommen hat. Das passt zum wirtschaftlichen Aufholprozess Ostdeutschlands seit der Wiedervereinigung. Die Arbeitslosigkeit ist vor allem im Osten stark gesunken, Einkommen und Löhne sind gestiegen. Auch die Lebenszufriedenheit in Ostdeutschland hat zugenommen und sich derjenigen in Westdeutschland angenähert, wenngleich sie noch deutlich niedriger liegt.
Die schlechte Botschaft aber ist: Die Sterberate für deaths of despair ist unter ostdeutschen Männern noch immer fast doppelt so hoch wie unter westdeutschen Männern und mehr als dreimal so hoch wie unter ostdeutschen Frauen. In der Altersgruppe der 50- bis 54-jährigen Männer beträgt sie 89 pro 100.000 – das ist sogar ähnlich hoch wie für weiße US-Amerikanerinnen und US-Amerikanern gleichen Alters.
Besonders hoch ist die Rate unter ostdeutschen Männern, die geschieden, verwitwet oder ledig sind. Und sie ist unter deutschen Staatsangehörigen noch einmal höher als unter Männern ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Dies zeigt, dass allein wirtschaftliche Gründe – also Einkommen, Löhne, Beschäftigung und Sozialleistungen – nicht ausreichen, um das Phänomen zu erklären.
Die Zahlen sollten ein Weckruf sein für Politik und Gesellschaft. Sie zeigen: Die Unzufriedenheit und der Protest in Ostdeutschland – aber auch in anderen Teilen Deutschlands – lassen sich nicht abtun als Klagen auf hohem Niveau. Sie spiegeln vielmehr gelebte Realität.
Das zeigt sich auch im Wahlverhalten (obwohl eine Kausalität hier natürlich nicht belegt ist, aber sie liegt nahe). 26 Prozent der ostdeutschen Männer, mehr als doppelt so viele wie im Bundesdurchschnitt, haben in den Bundestagswahlen 2017 die AfD gewählt. In den kommenden drei Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen könnten es noch deutlich mehr werden. Mögen sich die Todesraten aus Verzweiflung in den USA auch anders entwickeln als in Deutschland, die politischen Implikationen sind die gleichen: Verzweiflung und Abgehängtsein gibt den populistischen Parteien Auftrieb.
Die Integrationsministerin Sachsens, Petra Köpping, hat immer wieder gewarnt, dass eine der größten Herausforderungen der Politik die Integration des ostdeutschen Mannes ist, die wohl vergleichbar ist mit der Integration von Geflüchteten. Schaut man sich die Studie über die Tode aus Verzweiflung an, muss man ihr recht geben. Zu wenig wird bisher unternommen, um die Lebensbedingungen in Deutschland anzugleichen und damit allen Menschen wirkliche Teilhabe zu ermöglichen.
Dieser Beitrag ist am 22. März in der ZEIT ONLINE–Kolumne „Fratzschers Verteilungsfragen“ erschienen.
Themen: Gender , Ungleichheit