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Der deutsche Sparer gehört zu den Gewinnern

Blog Marcel Fratzscher vom 12. August 2019

Es scheint sich als Volksweisheit in unseren Köpfen festgesetzt zu haben, dass der kleine deutsche Sparer durch die Niedrigzinsen und die böse Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) enteignet wird. Er erhält nichts mehr an Zinsen für sein mühsam Erspartes, muss daher noch mehr sparen. Und trotzdem hat er dann im Alter kein ausreichendes Renteneinkommen. Diese Enteignung führt zu Elend und Altersarmut und bestraft den Deutschen für sein tugendhaftes Verhalten. Schlimmer noch, die Geldpolitik erhöht die Ungleichheit, da es die Schwachen trifft und den Reichen hilft – so die Wahrnehmung.

Aber stimmt der Mythos des Sparers als Opfer der Geldpolitik und niedriger Zinsen?

Kolumne

Dieser Beitrag ist am 9. August in der ZEIT ONLINE–Kolumne Fratzschers Verteilungsfragen erschienen. Hier finden Sie alle Beiträge von Marcel Fratzscher.

Gerne lassen die Kritiker der EZB-Geldpolitik unerwähnt, dass 40 Prozent der erwachsenen Deutschen gar kein nennenswertes Vermögen haben. Fast nirgends in den entwickelten Volkswirtschaften gibt es einen so hohen Anteil an Menschen, die nicht sparen und damit auch keine private Altersvorsorge betreiben. Mag sein, dass viele auch deshalb wenig oder gar nicht sparen, weil wir einen starken Sozialstaat haben. Dieser gewährleistet eine gute Absicherung, zumindest im Vergleich zu den meisten anderen westlichen Ländern.

Die meisten jedoch können nicht sparen, weil sie durch geringe Löhne und die zu leistenden Steuern und Abgaben gezwungen sind, ihr gesamtes verfügbares Einkommen für das tägliche Leben aufzuwenden. Diesen Menschen ist es ziemlich egal, ob die Zinsen bei null Prozent oder zehn Prozent liegen. Denn wer nichts Erspartes hat, kann auch nicht von Zinsen profitieren.

Die Preise sind stabil

Es ist seltsam, dass viele Politiker und Medien die Deutschen reflexartig und in erster Linie als Sparer sehen, wenn es um die Geldpolitik geht. Dabei sind die Deutschen nicht nur Sparer, sondern viel häufiger noch Erwerbstätige und damit auf einen sicheren Arbeitsmarkt angewiesen. Die Geldpolitik hat durch niedrige Zinsen ganz entscheidend dazu beigetragen, dass Unternehmen expandieren und dadurch Menschen einstellen und beschäftigen können. 

Somit wurden in den letzten Jahren viele Millionen Jobs in Europa und in Deutschland auch durch die expansive EZB-Geldpolitik geschaffen. Die gute wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands, die auch der EZB-Geldpolitik zu verdanken ist, hat zu Lohnsteigerungen in fast allen Einkommensschichten in Deutschland geführt. Viele Deutsche sind zudem Eltern oder Großeltern, die den Wunsch haben, dass ihre Kinder und Enkelkinder auch noch in zehn oder 20 Jahren lohnenswerte Arbeit finden.

Jeder Deutsche ist Konsument oder Konsumentin, der oder die sicher sein möchte, dass man auch künftig noch seine Grundbedürfnisse mit dem Einkommen decken kann. Die EZB-Geldpolitik hat entscheidend dazu beigetragen, dass der Euro stabil und damit auch die Preise für die Konsumenten stabil geblieben sind.

Viele Deutsche sind Steuerzahlende. Diejenigen, die über niedrige Zinsen schimpfen, lassen gerne außer Acht, dass dies dem deutschen Staat jedes Jahr 45 Milliarden Euro durch geringere Zinsausgaben erspart. Dies entlastet den deutschen Steuerzahler und hat es dem Staat in den letzten zehn Jahren erlaubt, die Sozialausgaben deutlich zu erhöhen. Die Abschaffung des Solis, welche knapp zehn Milliarden Euro jährlich kostet, wäre ohne die niedrigen Zinsen nicht möglich.

Es wird viel gespart – der Preis des Geldes sinkt

Und jeder Deutsche ist auch Europäerin oder Europäer. Es ist richtig, dass die Krisenländer wie Italien oder Spanien noch mehr von der expansiven Geldpolitik profitiert haben als Deutschland. Aber ist es schlimm, wenn anderen, die sich in einer Krise befinden, etwas zugutekommt? Geht es nicht auch um Solidarität, nicht nur innerhalb Deutschlands, sondern auch innerhalb Europas? Zumal nicht genug betont werden kann, dass auch Deutschland zu den Gewinnern der niedrigen Zinsen zählt.

Wer bisher nicht davon überzeugt ist, dass die Geldpolitik im Interesse aller Deutschen ist, den überzeugt vielleicht dieses Argument: Die niedrigen Zinsen sind nicht primär das Resultat der EZB-Geldpolitik, sondern die Folge des exzessiven Sparens vor allem von uns Deutschen. Denn wie bei allen Gütern gilt: Der Preis des Geldes ist das Resultat von Angebot und Nachfrage.

Mehr Geld ausgeben, weniger sparen

Schauen wir uns nur den hohen deutschen Leistungsbilanzüberschuss an: Die deutsche Volkswirtschaft hat eine Nettoersparnis von mehr als sieben Prozent der Wirtschaftsleistung. Dies sind bei rund 240 Milliarden Euro jedes Jahr im Durchschnitt 3.000 Euro pro Kopf oder 12.000 Euro für eine vierköpfige Familie. Wenn wir Bürger und unsere Unternehmen das Geld nicht ausgeben, das Angebot an Ersparnissen also steigt, dann muss zwingendermaßen der Preis des Geldes, also die Zinsen sinken.

Die EZB versucht, mit ihrer Geldpolitik die Preisfindung zwischen Angebot und Nachfrage zu unterstützen und eine Fehlfunktion im Markt zu beheben. Dies heißt im Umkehrschluss auch, dass die Zinsen nur dann wieder steigen werden, wenn die Menschen und Unternehmen in Deutschland mehr investieren und Geld ausgeben und weniger sparen.

Die Deutschen sind also nicht nur Sparer, sondern Vater oder Mutter, Erwerbstätige, Konsumentinnen und Konsumenten, Steuerzahlende und Teil einer solidarischen Gemeinschaft. Deutschland ist nicht Verlierer der Niedrigzinspolitik der EZB, sondern unser Land ist einer der Gewinner. Und nicht nur unser Land, sondern jeder einzelne von uns hat in der einen oder anderen Form von der Geldpolitik und dem Euro profitiert.

Themen: Geldpolitik

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