DIW Wochenbericht 5 / 2020, S. 63-72
Maria Metzing, Diana Schacht, Antonia Scherz
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„Die psychische Gesundheit der zuletzt angekommenen Geflüchteten liegt immer noch unter der des Bevölkerungsdurchschnitts. Daher sind weitere Maßnahmen zur Unterstützung der psychischen Gesundheit von Geflüchteten, insbesondere für die Altersgruppe über 45 Jahre, notwendig.“ Maria Metzing, Studienautorin
Die individuelle gesundheitliche Situation ist eine wichtige Voraussetzung für Integration und Teilhabe an der Gesellschaft. In diesem Bericht wird untersucht, inwiefern in Deutschland Unterschiede in der gesundheitlichen Situation nach Migrationshintergrund bestehen. Konkret steht dabei die körperliche und psychische Gesundheit von Menschen mit Fluchterfahrung im Vordergrund und wird mit Personen mit und ohne Migrationshintergrund verglichen. Die Ergebnisse zeigen, dass die körperliche Gesundheit von Geflüchteten, die seit 2013 in Deutschland angekommen sind, überdurchschnittlich ist, was teilweise mit der jüngeren Altersstruktur zusammenhängen kann. Außerdem ist die psychische Gesundheit der Geflüchteten, insbesondere bei Personen, die älter als 45 Jahre sind, schlechter als im Bevölkerungsdurchschnitt. Um eine gelingende Integration zu ermöglichen, sind weitere Anstrengungen zur psychischen Unterstützung von Geflüchteten notwendig.
Zum Jahresende 2018 waren knapp 1,8 Millionen Schutzsuchende in Deutschland registriert.Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (Hrsg.) (2020): Migrationsbericht 2018 des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Im Auftrag der Bundesregierung. Die erfolgreiche Integration dieser zum Großteil in den Vorjahren zugewanderten GeflüchtetenIn diesem Bericht werden Personen als Geflüchtete bezeichnet, die nach ihrer Ankunft in Deutschland ein Asylgesuch gestellt haben. Somit kann es sich bei dieser Definition von Geflüchteten auch um Personen handeln, die noch keinen anerkannten Schutzstatus haben und sich noch im Asylverfahren befinden. stellt die Gesellschaft noch immer vor Herausforderungen. Die gesundheitliche Situation von Geflüchteten kann ein wichtiger Einflussfaktor für die Integration sein, da sie bedeutende Auswirkungen auf individuelle BildungskarrierenSarah Baird et al. (2016): Worms at work: Long-run impacts of a child health investment. The Quarterly Journal of Economics 131 (4), 1637–1680., ökonomischen IntegrationPinka Chatterji, Margarita Alegria und David Takeuchi (2011): Psychiatric disorders and labor market outcomes: Evidence from the National Comorbidity Survey-Replication. Journal of Health Economics 30 (5), 858–868. und soziale Teilhabe hat.Andrew Steptoe, Angus Deaton und Arthur A. Stone (2015): Subjective wellbeing, health, and ageing. The Lancet 385 (9968), 640–648.
Zur gesundheitlichen Situation von Geflüchteten in Deutschland liegen bisher nur wenige empirische Erkenntnisse vor, insbesondere im Vergleich zu Bevölkerungsgruppen mit anderem beziehungsweise ohne Migrationshintergrund. Es ist zunächst unklar, ob Geflüchtete einen über- oder unterdurchschnittlichen Gesundheitszustand im Vergleich zur restlichen Bevölkerung im Aufnahmeland aufweisen. Auf der einen Seite sind erwachsene MigrantInnen in europäischen Ländern und den USA trotz niedrigerem sozioökonomischen Status häufig gesünder als der Bevölkerungsdurchschnitt (sogenannter „Healthy-Migrant-Effekt“).In der Fachliteratur wird dieses Phänomen als „Healthy-Migrant-Effekt“ bezeichnet. Dies stellt ein Paradox dar, da allgemein ein niedriger sozioökonomischer Status mit einem schlechteren Gesundheitszustand korreliert. Vgl. Oliver Razum (2006): Migration, Mortalität und der Healthy-Migrant-Effekt. In: Matthias Richter und Klaus Hurrelmann (Hrsg.): Gesundheitliche Ungleichheit. VS Verlag für Sozialwissenschaften, 255–270. Auf der anderen Seite ist es naheliegend, dass speziell die Gesundheit von Geflüchteten durch die Erfahrung von Flucht, Verfolgung und Krieg schlechter ist als die von Personen ohne Fluchterfahrung.Herbert Brücker et al. (2019): Geflüchtete machen Fortschritte bei Sprache und Beschäftigung. DIW Wochenbericht Nr. 4, 55–70 (online verfügbar, abgerufen am 16.01.2020. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt). Die Trennung von Familienmitgliedern und ungewisse Zukunftsaussichten können außerdem zu gesundheitlichen Einschränkungen und Risiken führen.Maria Metzing und Diana Schacht (2018): Lebenssituation von Geflüchteten. In: Statistisches Bundesamt (Destatis), Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Zentrales Datenmanagement (Hrsg.): Datenreport 2018. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn, 280–285; Lea-Maria Löbel (2020): Family Separation and Refugee Mental Health: a Network Perspective. Social Networks, im Erscheinen; Ludovica Gambaro et al. (2018): Lebenszufriedenheit von Geflüchteten in Deutschland ist deutlich geringer, wenn ihre Kinder im Ausland leben. DIW Wochenbericht Nr. 42, 905–916 (online verfügbar). Zudem haben Geflüchtete unmittelbar nach ihrer Ankunft nur eingeschränkt Zugang zum deutschen Gesundheitssystem (Kasten 1).
Für AsylsuchendeAsylsuchende sind Personen, die einen Asylantrag gestellt haben, sich aber noch im Asylverfahren befinden und daher noch keinen anerkannten Schutzstatus besitzen. und GeduldeteGeduldete sind Personen, bei denen der Asylantrag abgelehnt wurde, aber eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung vorliegt. ist ein eingeschränkter Zugang zu medizinischen Leistungen gewährleistet. Behandelt werden Asylsuchende und Geduldete nur, wenn sie akut erkrankt sind, unter Schmerzen leiden oder schwanger sind. Menschen mit Behinderung, Minderjährige und Opfer von Folter und Gewalt werden hierbei als besonders schutzbedürftig eingestuft und haben somit einen direkten Anspruch auf medizinische und psychologische Betreuung.
Asylsuchende erhalten spätestens nach erfolgreichem Abschluss ihres Asylverfahrens, beziehungsweise nach einem 15-monatigen Aufenthalt (vor 2015: nach 48-monatigem Aufenthalt) in Deutschland, gesundheitliche Leistungen entsprechend der Gesundheitsversorgung von gesetzlich Krankenversicherten. Ab diesem Zeitpunkt werden auch die Kosten für psychotherapeutische Behandlungen übernommen. Zuvor ist nur in Ausnahmefällen, beispielsweise bei akuter Suizidgefahr, eine psychotherapeutische Behandlung möglich.Deutscher Bundestag (1993): Asylbewerberleistungsgesetz – AsylbLG, §§ 4, 6; Deutscher Bundestag: Zweite Sozialgesetzbuch – SGB II und Zwölfte Sozialgesetzbuch – SGB XII. Nähere Anmerkungen und Erläuterungen unter Bundesministerium für Gesundheit (2016): Ratgeber Gesundheit für Asylsuchende in Deutschland (online verfügbar, abgerufen am 15. Dezember 2019) und Deutscher Bundestag (2016): Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage zu Verbesserungen der gesundheitlichen und psychosozialen Versorgung von Geflüchteten zur Umsetzung der EU-Aufnahmerichtlinie (online verfügbar, abgerufen am 15. Dezember 2019), Bundestags-Drucksache 18/9009 vom 4. Juli 2016.
Dieser Bericht untersucht anhand einer aktuellen Datenbasis die körperliche und psychische Gesundheit von Menschen mit Fluchterfahrung im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen (Kasten 2).Personen, die 2018 jünger als 17 Jahre alt waren, wurden ausgeschlossen. Der Bericht unterscheidet zwischen Geflüchteten, die vor beziehungsweise seit 2013 nach Deutschland eingewandert sind. Geflüchtete, die seit 2013 nach Deutschland eingereist sind (in der Literatur auch als „neuere Geflüchtete“ bezeichnet), kommen hauptsächlich aus Syrien, Afghanistan, Irak, den ehemaligen Ländern Jugoslawiens, Eritrea, Somalia, Iran sowie Pakistan. Vor 2013 nach Deutschland eingereiste Geflüchtete kamen mehrheitlich in den 1990er Jahren aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens und aus anderen arabischen sowie muslimischen Herkunftsländern.Für weitere Erklärungen siehe Metzing und Schacht (2018), a.a.O. Außerdem werden MigrantInnen ohne Fluchterfahrung, Personen mit mindestens einem zugewanderten Elternteil (indirekter Migrationshintergrund) und Personen ohne Migrationshintergrund im Vergleich gegenübergestellt.
Grundlage für diesen Bericht sind die Daten der Längsschnittstudie des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), insbesondere der IAB-SOEP-Migrationsstichproben und der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten. Das SOEP ist eine repräsentative jährliche Wiederholungsbefragung privater Haushalte, die seit 1984 in Westdeutschland und seit 1990 auch in Ostdeutschland durchgeführt wird.Die in diesem Bericht verwendeten Daten und Gewichte sind vorläufig. Sozio-oekonomisches Panel (SOEP), Version 35, SOEP, 2020. In den Jahren 2013 und 2015 wurden zwei zusätzliche IAB-SOEP-Migrationsstichproben (Stichprobe kurz: M1/M2) gezogen, um repräsentative Aussagen zu neuen Migrationsbewegungen nach Deutschland und zu Personen mit indirektem Migrationshintergrund machen zu können. Die IAB-BAMF-SOEP-Befragungen von Geflüchteten sind mehrere Längsschnittbefragungen, die Schutzsuchende (Stichprobe kurz: M3/M4), die zwischen dem 1. Januar 2013 und 30. Juni 2016 nach Deutschland zugezogen sind, abbilden. Im Jahr 2017 erfolgte eine Aufstockung (Stichprobe kurz: M5), die Schutzsuchende die zwischen dem 1. Januar 2013 und 31. Dezember 2016 zugezogen sind, beinhaltet.
Im SOEP werden Personen nach ihrem Geburtsland und ihrer Staatsangehörigkeit gefragt. AusländerInnen und nicht in Deutschland geborene Personen werden zusätzlich gefragt, wann sie nach Deutschland eingewandert sind, ob beziehungsweise aus welchem Land ihre Eltern eingewandert sind und welchen rechtlichen Status sie bei ihrer Einreise hatten. Für den Vergleich verschiedener Personen nach ihrem Migrations- und Fluchthintergrund werden fünf Vergleichsgruppen definiert: (1) Geflüchtete, die seit 2013 eingewandert sind, (2) Geflüchtete, die vor 2013 eingewandert sind, (3) MigrantInnen ohne Fluchterfahrung, die selbst zugewandert sind (direkter Migrationshintergrund), (4) Personen, die mindestens einen zugewanderten Elternteil haben (indirekten Migrationshintergrund) und (5) Personen ohne Migrationshintergrund.
Die Grundlage der Analyse bilden die Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), insbesondere die IAB-SOEP-Migrationsstichproben und die IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten. Die Analysen beruhen hauptsächlich auf Ergebnissen der aktuellsten, im Jahr 2018 durchgeführten Befragung (Kasten 2) und umfassen indexbasierte und selbsteingeschätzte Maße der körperlichen und psychischen Gesundheit sowie die Zufriedenheit mit der Gesundheit (Kasten 3).Bezüglich der dritten Welle der IAB-BAMF-SOEP-Befragung mit Fokus auf neuere Geflüchtete erscheinen in Kürze: Herbert Brücker, Yuliya Kosyakova und Eric Schuß (2020): Fünf Jahre seit der Fluchtmigration 2015: Integration in Arbeitsmarkt und Bildungssystem macht Fortschritte. IAB Kurzbericht 7/2020; Cristina de Paiva Lareiro, Nina Rother und Manuel Siegert (2020): Dritte Welle der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten. Geflüchtete verbessern ihre Deutschkenntnisse und fühlen sich in Deutschland weiterhin willkommen. Kurzanalysen des Forschungszentrums Migration, Integration und Asyl des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge 1/2020. Neben den gruppenspezifischen Mittelwerten des jeweiligen Gesundheitsmaßes werden auch die zugehörigen 95 %-KonfidenzintervalleEin großes Konfidenzintervall weist auf eine unsichere und ein kleines Konfidenzintervall auf eine verlässlichere Schätzung hin. betrachtet. Zusätzlich wird getestet, ob sich neuere Geflüchtete im Mittelwert jeweils signifikant von den vier anderen Bevölkerungsgruppen unterscheiden (t-Test).Für die Berechnung des 95-Prozent-Konfidenzintervalls und der signifikanten Unterschiede bei anteiligen Gesundheitsmaßen (Abbildung 5) von Geflüchteten zu anderen Bevölkerungsgruppen wurde eine Logit-Modell genutzt. Dieses Modell hat gegenüber einem linearen Modell den Vorteil, dass die Verteilung bei nur zwei Antwortmöglichkeiten („ja“ oder „nein“) korrekt modelliert werden kann.
Dieser Bericht analysiert verschiedene Dimensionen der Gesundheit. Hierzu gehören zwei indexbasierte Maße, die selbsteingeschätzte Gesundheit und die Zufriedenheit mit der Gesundheit.
Bei den indexbasierten Maßen handelt es sich um einen körperlichen („Physical Component Summary Scale“, PCS) und einen psychischen Gesundheitsindikator („Mental Component Summary Scale“, MCS). Beide Indizes basieren auf einer Fragenbatterie (sogenannter Short-Form 12 Version 2 Fragebogen, kurz SF-12v2) mit verschiedenen Indikatoren zum Gesundheitszustand.John E. Ware, Mark Kosinski und James E. Dewey (2000): How to Score Version 2 of the SF-36 Health Survey. Lincoln, RI: QualityMetric.Incorporated 3. Für mehr Informationen siehe Hanfried Andersen et al. (2007): Computation of Standard Values for Physical and Mental Health Scale Scores Using the SOEP Version of SF-12v2. Schmollers Jahrbuch 127 (1), 171–182.,Dieser Fragebogen beinhaltet Fragen zur allgemeinen Gesundheitswahrnehmung, körperlichen und psychischen Gesundheit, körperlichen Schmerzen, Vitalität sowie zu Einschränkungen durch die körperliche oder mentale Gesundheit. Die Skalen sind so normiert, dass 50 dem durchschnittlichen Wert der Bevölkerung in Deutschland entspricht und höhere Werte ein besseres Wohlbefinden indizieren. Zehn Punkte auf dieser Skala entsprechen einer Standardabweichung.
Um die Selbsteinschätzung der körperlichen und psychischen Gesundheit zu erfassen, wird im SOEP abgefragt, ob die Befragten aufgrund ihrer körperlichen oder seelischen Gesundheit weniger geschafft haben, als sie wollten. Die Befragten haben die Möglichkeit auf einer Fünf-Punkte-Skala (immer – oft – manchmal – fast nie – nie) zu antworten. Für die vorliegenden Analysen werden die Kategorien „immer“ und „oft“ zusammengefasst und der Anteil der Personen berechnet, die durch ihre körperliche beziehungsweise psychische Gesundheit immer oder oft in ihrem Alltag eingeschränkt waren.
Bei der Frage nach der Zufriedenheit mit der Gesundheit haben die Befragten die Möglichkeit, auf einer Elf-Punkte-Skala (null bis zehn) zu antworten, wobei null ganz und gar unzufrieden und zehn ganz und gar zufrieden bedeutet.
Die körperliche Gesundheit wird anhand eines Index gemessen, der Einzelaspekte der physischen Gesundheit in einer Kennzahl zusammenfasst (Kasten 3). Die Skala ist so normiert, dass 50 dem durchschnittlichen Wert der Bevölkerung in Deutschland entspricht und höhere Werte ein besseres körperliches Wohlbefinden indizieren. Hierbei entsprechen zehn Punkte auf dieser Skala einer Standardabweichung des Index.Der Vergleich eines Indexniveaus von 45 zu 50 würde somit 50 Prozent einer Standardabweichung entsprechen. Dieser Index beträgt bei den neueren Geflüchteten rund 54 und die körperliche Gesundheit liegt damit über dem Durchschnittswert in der Gesamtbevölkerung (Abbildung 1). Dahingegen ist der Vergleichswert bei Personen, die bereits vor 2013 nach Deutschland geflohen sind, niedriger als im Bevölkerungsdurchschnitt (47).
Auch das körperliche Wohlbefinden von Personen ohne Migrationshintergrund und mit direktem Migrationshintergrund (ohne Fluchterfahrung) ist niedriger als im Bevölkerungsdurchschnitt. Der körperliche Gesundheitszustand von Personen mit indirektem Migrationshintergrund ist hingegen überdurchschnittlich.
Ein direkter Vergleich der neueren Geflüchteten mit den anderen Bevölkerungsgruppen zeigt, dass sich deren körperliches Wohlbefinden signifikant von fast allen anderen Bevölkerungsgruppen unterscheidet.Da sich die fünf Bevölkerungsgruppen in Bezug auf wichtige Merkmale erheblich unterscheiden könnten, lassen diese Ergebnisse keine Rückschlüsse auf die Gründe für die bestehenden Unterschiede zu. Einzige Ausnahme ist die Gruppe mit indirektem Migrationshintergrund. Hier lässt sich kein signifikanter Unterschied zu den Geflüchteten der letzten Jahre feststellen.
Die psychische Gesundheit wird anhand eines separaten Index gemessen, der die mentale Gesundheit in einer Kennzahl zusammenfasst (Kasten 3). Analog zum Index der körperlichen Gesundheit ist die Skala so normiert, dass 50 dem durchschnittlichen Wert der Bevölkerung in Deutschland entspricht und höhere Werte ein besseres psychisches Wohlbefinden bedeuten. Die psychische Gesundheit von Geflüchteten, die seit 2013 angekommen sind, steht in einem starken Kontrast zu ihrem körperlichen Wohlbefinden (Abbildung 1). Sie weisen ein signifikant niedrigeres psychisches Wohlbefinden als der Bevölkerungsdurchschnitt auf. Bei keiner der verglichenen Bevölkerungsgruppen ist die Divergenz zwischen dem körperlichen und psychischen Wohlbefinden derart stark ausgeprägt. Personen ohne Migrationshintergrund und mit direktem sowie indirektem Migrationshintergrund (ohne Fluchterfahrung) berichten über ein signifikant besseres psychisches Wohlbefinden als Geflüchtete der letzten Jahre und als der Bevölkerungsdurchschnitt.
Die schlechtere psychische Gesundheit von Geflüchteten könnte in einem Zusammenhang mit den Erfahrungen von Flucht, Verfolgung und Krieg sowie der Trennung von Familienmitgliedern, ungewissen Zukunftsaussichten und dem eingeschränkten Zugang zum Gesundheitsversorgungssystem stehen. Außerdem unterscheiden sich die Bevölkerungsgruppen in ihrer allgemeinen Struktur und anderen Merkmalen, was ein weiterer Grund für Unterschiede in der mentalen und körperlichen Gesundheit sein könnte.
Im Vergleich zwischen 2016 und 2018 sind lediglich geringe Veränderungen in den Gesundheitsindizes zu erkennen (Abbildung 2).Als zusätzliche Kontrollanalyse wurde dieser Zeitvergleich auch in zwei anders definierten Untersuchungssamples durchgeführt. In der einen Variante wurde die Stichprobe auf Geflüchtete, die in den Jahren 2013 bis 2015 eingereist sind, begrenzt und in der anderen Variante, auf Geflüchtete, die sowohl an der Befragung im Jahr 2016 als auch im Jahr 2018 teilgenommen haben. Beide Kontrollanalysen bestätigen die vorliegenden repräsentativen Querschnittsergebnisse. Die körperliche und psychische Gesundheit von zuletzt angekommenen Geflüchteten hat sich im Zeitverlauf dem Bevölkerungsdurchschnitt angenähert. Ihre körperliche Gesundheit liegt jedoch in beiden Jahren über dem Bevölkerungsdurchschnitt, während ihre physische Gesundheit in beiden Jahren unter dem Bevölkerungsdurchschnitt liegt.
Vergleicht man die körperliche Gesundheit im Jahr 2018 nach Alter innerhalb der Bevölkerungsgruppen, so stellt man zum Teil große Unterschiede fest: Die körperliche Gesundheit nimmt mit zunehmendem Alter in allen Vergleichsgruppen ab (Tabelle).
Geflüchtete der letzten Jahre (ab 2013) | Geflüchtete vor 2013 | Direkter Migrationshintergrund (ohne Fluchterfahrung) | Indirekter Migrationshintergrund | Personen ohne Migrationshintergrund | |
---|---|---|---|---|---|
Durchschnittsalter in Jahren | 32 | 47 | 49 | 34 | 53 |
Körperliches Wohlbefinden (normalisierter Index, 50=Bevölkerungsdurchschnitt) | |||||
17 bis 30 Jahre alt | 56,6 | 52,0 *** | 55,0 ** | 55,3 ** | 55,2 *** |
31 bis 45 Jahre alt | 52,4 | 50,0 ** | 53,1 | 53,3 | 52,6 |
46 und älter | 45,0 | 42,9 | 45,0 | 48,6 *** | 45,3 |
Anzahl der Beobachtungen | 4091 | 574 | 3721 | 1880 | 19089 |
Psychisches Wohlbefinden (normalisierter Index, 50=Bevölkerungsdurchschnitt) | |||||
17 bis 30 Jahre alt | 48,6 | 50,5 | 49,9 | 50,3 ** | 49,4 |
31 bis 45 Jahre alt | 48,5 | 51,7 *** | 50,5 *** | 49,5 | 49,8 ** |
46 und älter | 47,3 | 47,8 | 51,5 *** | 51,9 *** | 51,7 *** |
Anzahl der Beobachtungen | 4091 | 574 | 3721 | 1880 | 19089 |
Anmerkungen: Mittelwertvergleich (t-Test) zwischen neueren Geflüchteten und der jeweils anderen Bevölkerungsgruppe. Signifikanzniveaus: ***p<0,01; **p<0,05; *p<0,1. Die Daten beziehen sich auf das Jahr 2018.
Quelle: SOEP v35, gewichtet.
In der jüngsten Altersgruppe (17- bis 30-Jährige) weisen neuere Geflüchtete eine bessere körperliche Gesundheit im Vergleich zu den anderen Bevölkerungsgruppen auf. In den mittleren (31- bis 45-Jährige) und älteren Altersgruppen (46-Jährige und älter) ergeben sich hingegen nur vereinzelt signifikante Unterschiede in der körperlichen Gesundheit im Vergleich zu den anderen Gruppen. Die im Durchschnitt positivere körperliche Verfassung der neueren Geflüchteten (Abbildung 1) wird demnach zum Teil durch die unterschiedliche Altersstruktur getrieben. Geflüchtete der letzten Jahre sind im Durchschnitt 32 Jahre alt und insofern wesentlich jünger als die anderen Vergleichsgruppen.
Die psychische Gesundheit der neueren Geflüchteten liegt in allen Altersgruppen unter dem Gesamtbevölkerungsdurchschnitt. Signifikante Unterschiede zwischen den neueren Geflüchteten und anderen Gruppen ergeben sich für das psychische Wohlbefinden vorwiegend in der mittleren (31- bis 45-Jährige) und der älteren Altersgruppe (46-Jährige und älter). Neuere Geflüchtete zwischen 31 und 45 Jahren weisen eine signifikant schlechtere psychische Gesundheit auf als Gleichaltrige der anderen Gruppen, mit Ausnahme der Personen mit indirektem Migrationshintergrund. Auch Geflüchtete, die mindestens 46 Jahre alt sind, weisen ein signifikant schlechteres mentales Wohlbefinden auf als Gleichaltrige der anderen Gruppen. In der jüngsten Alterskategorie (17- bis 30-Jährige) unterscheiden sich neuere Geflüchtete mit einer Ausnahme (Personen mit indirektem Migrationshintergrund) nicht signifikant von anderen Bevölkerungsgruppen.
Bei körperlicher und psychischer Gesundheit zeigen sich in der Tendenz Geschlechterunterschiede zu Lasten der Frauen in allen Vergleichsgruppen (Abbildung 3). Dieses Ergebnis bestätigt somit auch für das Jahr 2018 die Ergebnisse bereits vorliegender Studien, die derartige Geschlechterunterschiede für die gesamte BevölkerungHanfried Andersen et al. (2007): Computation of Standard Values for Physical and Mental Health Scale Scores Using the SOEP Version of SF-12v2. Schmollers Jahrbuch 127 (1), 171–182. sowie für GeflüchteteBrücker et al. (2019), a.a.O. und Personen mit Migrationshintergrund zeigten.Maria Metzing und Diana Schacht (2019): Gesundheitliche Situation der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Deutschland – Sonderauswertung für die Migrationsbeauftragte 2019. SOEP Survey Paper 700: Series C – Data Documentation (online verfügbar).
Zuletzt angekommene Geflüchtete und Personen mit indirektem Migrationshintergrund weisen sowohl bei Frauen als auch bei Männern eine signifikant bessere körperliche Gesundheit als die jeweils anderen Bevölkerungsgruppen des gleichen Geschlechts auf.
Neuere männliche Geflüchtete weisen ein unterdurchschnittliches psychisches Wohlbefinden im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt sowie zu männlichen Personen mit direktem, indirektem und keinem Migrationshintergrund auf. Frauen mit Fluchterfahrung oder indirektem Migrationshintergrund haben durchschnittlich ein niedrigeres psychisches Wohlbefinden im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt und weisen ein signifikant niedriges Wohlbefinden als Frauen mit direktem und ohne Migrationshintergrund auf.
Tendenziell ist die körperliche Gesundheit mit höherer Bildung besser (Abbildung 4). Dies lässt sich für die zwei größten Bevölkerungsgruppen – Personen mit direktem und ohne Migrationshintergrund – beobachten. Dieses Ergebnis entspricht den Erkenntnissen bisheriger Studien, die für Personen höherer Bildung einen durchschnittlich besseren Gesundheitszustand als für Personen mit niedriger Bildung finden.Leon Feinstein et al. (2006): Measuring the Effects of Education on Health and Civic Engagement: Proceedings of the Copenhagen Symposium. Organisation for Economic Co-operation and Development; Thomas Lampert et al. (2018): Gesundheitliche Ungleichheit. In: Statistisches Bundesamt (Destatis), Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Zentrales Datenmanagement (Hrsg.): Datenreport 2018. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn, 302–313.
Bei Geflüchteten der letzten Jahre ist dieser Zusammenhang nicht stark ausgeprägt. Hier ist der körperliche Gesundheitszustand in allen drei Bildungskategorien vergleichsweise hoch, liegt über dem Bevölkerungsdurchschnitt und ist innerhalb der jeweiligen Bildungsgruppe signifikant höher als bei fast allen übrigen Bevölkerungsgruppen, mit Ausnahme der Personen mit indirektem Migrationshintergrund.
Bei der psychischen Gesundheit nach Bildungsschichten zeigt sich kein eindeutiger Zusammenhang. Neuere Geflüchtete berichten ein niedrigeres psychisches Wohlbefinden als der Bevölkerungsdurchschnitt, insbesondere wenn diese einen niedrigen Bildungsstand haben. Besonders niedrig ist das psychische Wohlbefinden bei Geflüchteten, die vor 2013 in Deutschland angekommen sind, wenn diese einen höheren Bildungsstand haben.
Neben den Skalen zur körperlichen und psychischen Gesundheit wird im SOEP auch eine Selbsteinschätzung der körperlichen und psychischen Gesundheit erfasst (Kasten 3). Diese Selbsteinschätzung wird mit den Fragen, ob die Befragten in den letzten vier Wochen wegen körperlicher beziehungsweise emotionaler Probleme weniger geschafft haben, gemessen.
Neuere Geflüchtete und Personen mit indirektem Migrationshintergrund berichten die geringsten körperlichen Einschränkungen (Abbildung 5). Dies entspricht den Ergebnissen zur körperlichen Gesundheit (Abbildung 1). Demgegenüber berichten Geflüchtete, die vor 2013 in Deutschland angekommen sind, Personen mit direktem und ohne Migrationshintergrund häufiger von körperlichen Einschränkungen.
Analog zu den Ergebnissen des psychischen Gesundheitsindex (Abbildung 1) sehen sich insbesondere Geflüchtete in ihrer psychischen Gesundheit beeinträchtigt (Abbildung 5). Damit bestätigt die Auswertung zur psychischen Selbsteinschätzung der Geflüchteten im Vergleich zu den anderen Bevölkerungsgruppen weitgehend die vorangegangene Analyse zur psychischen Gesundheit.
Die gesundheitliche Situation steht meist in Zusammenhang mit der subjektiven Zufriedenheit mit der GesundheitAlex Michalos und Bruno Zumbo (2002): Healthy Days, Health Satisfaction and Satisfaction with the Overall Quality of Life. Social Indicators Research 59 (3), 321–338., daher sind auch für dieses Maß ähnliche Muster über die Bevölkerungsgruppen zu erwarten. Neuere Geflüchtete berichten im Vergleich zu den anderen Bevölkerungsgruppen die höchste durchschnittliche Zufriedenheit mit der Gesundheit (Abbildung 6). Dies unterstreicht die Ergebnisse des körperlichen Gesundheitsindex beziehungsweise der Selbsteinschätzung der körperlichen Einschränkungen (Abbildung 1 und Abbildung 5). Das niedrige durchschnittliche psychische Wohlbefinden der Geflüchteten spiegelt sich hingegen kaum im Durchschnitt der individuellen Zufriedenheit mit der Gesundheit wider.
Zur gesundheitlichen Situation von Geflüchteten der letzten Jahre, insbesondere im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen, liegen bisher nur wenige empirische Erkenntnisse vor. Ein direkter Vergleich dieser Geflüchteten mit den anderen Bevölkerungsgruppen zeigt, dass sich deren körperlicher Gesundheitszustand signifikant von fast allen anderen Vergleichsgruppen unterscheidet. Einzige Ausnahme stellt die Gruppe mit indirektem Migrationshintergrund dar. Da die Geflüchteten der letzten Jahre wesentlich jünger sind als die anderen Bevölkerungsgruppen, ist die im Durchschnitt bessere körperliche Verfassung auch durch die unterschiedliche Altersstruktur bedingt.
Die vorliegenden Untersuchungen zeigen ein erhöhtes psychisches Gesundheitsrisiko von Geflüchteten. Möglicherweise ist dies auf traumatische Erfahrungen während der Flucht oder eines Krieges zurückzuführen. Auch können die Trennung von Familienmitgliedern, ungewisse Zukunftsaussichten und der eingeschränkte Zugang zum Gesundheitssystem gesundheitliche Einschränkungen und Risiken beeinflussen.
Der Zeitvergleich von 2016 zu 2018 legt nahe, dass sich die psychische Gesundheit der seit 2013 angekommenen Geflüchteten zwar dem Bevölkerungsdurchschnitt angenähert hat, aber immer noch signifikant darunter liegt. Weitere Maßnahmen zur Unterstützung der psychischen Gesundheit, insbesondere für die Altersgruppe über 45 Jahren, sind notwendig. Wie eine derartige Förderung aussehen kann, wird derzeit in Politik und Wissenschaft diskutiert. Weitere Studien sind nötig, um die genauen Gründe für diese Unterschiede zu ermitteln. Derartige Studien werden gebraucht, um eine Reduktion der gesundheitlichen Ungleichheiten in Deutschland mit gezielten Maßnahmen und spezifischen therapeutischen Angeboten möglichst effizient gestalten zu können.
JEL-Classification: F22;I14
Keywords: Refugees, migrants, natives, health status
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2020-5-1
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/214220