DIW Wochenbericht 7 / 2020, S. 91-97
Alexandra Fedorets, Markus M. Grabka, Carsten Schröder, Johannes Seebauer
get_appDownload (PDF 297 KB)
get_appGesamtausgabe/ Whole Issue (PDF 3.05 MB)
„Es ist erfreulich, dass sich das Wirtschaftswachstum in Deutschland seit 2013 auch in steigenden Reallöhnen bei den Beschäftigten niederschlägt.“ Markus M. Grabka
In den vergangenen zehn Jahren erlebte Deutschland einen Beschäftigungsrekord nach dem anderen. Nach einer langen Phase rückläufiger oder stagnierender Reallöhne stiegen die vereinbarten Bruttostundenlöhne in den Jahren 2013 bis 2018 den Daten des Sozio-oekonomischen Panels zufolge um mehr als acht Prozent. Darüber hinaus geht seit 2006 die Lohnungleichheit zurück, was sich mit der Einführung des Mindestlohns und dessen Anhebung fortsetzt. Die Spreizung zwischen dem oberen und den unteren Rand der Bruttostundenlohnverteilung liegt im Jahr 2018 wieder auf dem Niveau von Beginn der 2000er Jahre. Zudem gibt es Anzeichen dafür, dass der Anteil der Beschäftigten im Niedriglohnsektor zurückgeht. Er ist von 23,7 Prozent im Jahr 2015 auf 21,7 Prozent im Jahr 2018 gefallen. Zieht man den vereinbarten Stundenlohn heran, erhalten im Jahr 2018 weiterhin etwa 2,4 Millionen Anspruchsberechtigte in Haupttätigkeit keinen Mindestlohn. Auch um unbezahlten Überstunden vorzubeugen, bereitet das Bundesministerium für Arbeit und Soziales einen Gesetzentwurf zur Arbeitszeiterfassung vor. Dieses Gesetz sollte zügig umgesetzt werden, damit Arbeitszeitkontrollen zur Einhaltung des Mindestlohns effektiver vorgenommen werden können.
Insgesamt war die Entwicklung der realen Bruttostundenlöhne in Deutschland zwischen 2000 und 2012 rückläufig. Dies gilt insbesondere für das untere Segment der Lohnverteilung. Danach ist eine Trendumkehr zu beobachten, wovon insbesondere die Menschen mit niedrigen Löhnen profitieren.Vgl. Markus M. Grabka und Carsten Schröder (2019): Der Niedriglohnsektor in Deutschland ist größer als bislang angenommen. DIW Wochenbericht Nr. 14, 249–257 (online verfügbar, abgerufen am 28. Januar 2020. Dies gilt auch für alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht, sofern nicht anders vermerkt).
Die vorliegende Studie aktualisiert bisherige Untersuchungen am DIW Berlin zur Entwicklung realer vereinbarter Bruttostundenlöhne von 1995 bis einschließlich 2018, den derzeit aktuellsten verfügbaren Lohninformationen, die vom im DIW Berlin angesiedelten Sozio-oekonomischen Panel (SOEP)Das SOEP ist eine repräsentative jährliche Wiederholungsbefragung privater Haushalte, die seit 1984 in Westdeutschland und seit 1990 auch in Ostdeutschland durchgeführt wird; vgl. Jan Goebel et al. (2018): The German Socio-Economic Panel (SOEP). Journal of Economics and Statistics, 239(29), 345–360, DOI: https://doi.org/10.1515/jbnst-2018-0022. in Zusammenarbeit mit Kantar erhoben werden (Kasten). Der Fokus liegt auf der Entwicklung am unteren Rand der Lohnverteilung – ein Thema, das nicht zuletzt mit der Einführung des Mindestlohns in Deutschland im Jahre 2015 für Aufmerksamkeit sorgt.
Der vorliegende Bericht verwendet primär als Konzept den vereinbarten Bruttostundenlohn. Dieser basiert auf den Angaben zum Bruttomonatsverdienst in einer Hauptbeschäftigung des vorangegangenen Monats ohne Sonderzahlungen aber inklusive eventueller Überstundenvergütungen. Dividiert wird der Wert durch die vereinbarte wöchentliche Arbeitszeit, die mit dem Faktor 4,33 multipliziert die monatliche Arbeitszeit ergibt. Ist keine Arbeitszeit vereinbart oder wird keine Antwort auf die vereinbarte Arbeitszeit gegeben, wird die geleistete Arbeitszeit verwendet.
Im SOEP besteht alternativ die Möglichkeit, Stundenlöhne auf Basis der geleisteten durchschnittlichen Arbeitszeit zu berechnen. Vor dem Hintergrund, dass für viele Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen Gleitzeitregelungen und/oder Arbeitszeitkonten existieren, ist es nicht überraschend, dass die durchschnittliche tatsächliche Arbeitszeit deutlich höher als die vereinbarte ist. Differenzen können aber auch aus Fehlzeiten zum Beispiel aufgrund von Krankheit oder Weiterbildung resultieren.
Mit der SOEP-Erhebungswelle 2017 wurde eine Direktabfrage des Stundenlohns eingeführt. Im Jahr 2018 bezieht sich die Direktabfrage auf den tatsächlichen Stundenlohn. Zudem wurde mit der Erhebungswelle 2017 die Erfassung von Nebentätigkeiten im SOEP verbessert. Dadurch ist es nun möglich, auch die Non-Compliance bei Nebentätigkeiten zu berechnen.
Der Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro wurde zum 1. Januar 2015 flächendeckend in Deutschland eingeführt und zum 1. Januar 2017 auf 8,84 Euro erhöht. Das Gesetz sieht jedoch eine Reihe von Ausnahmen vor. Diese betreffen insbesondere Langzeitarbeitslose, ungelernte Jugendliche unter 18 Jahren sowie bestimmte Gruppen von PraktikantInnen und Auszubildenden. Bis zum Jahr 2017 gab es zudem Übergangsregelungen für Beschäftigte in Sektoren, in denen bereits zuvor ein branchenspezifischer Mindestlohn galt. Diese waren von der Entlohnung in Höhe des Mindestlohns ausgenommen.
Da das SOEP detaillierte Monatsdaten des Vorjahres enthält, können Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten der Beschäftigung identifiziert werden. Sie wurden in den Analysen aus dem Kreis der Anspruchsberechtigten ausgeschlossen. Zudem wurden Jugendliche unter 18 Jahren ausgenommen sowie Auszubildende und PraktikantInnen, da die Art und Dauer des Praktikums im SOEP nicht eindeutig bestimmt werden kann.
Die anspruchsberechtigte Gruppe, auf die sich die Analysen zur Non-Compliance beziehen, besteht damit aus allen Erwerbstätigen, die weder zu den Gruppen mit Ausnahmeregelungen gehören, noch selbstständig sind. Auch die Gruppe, die angibt, dass sie in Privathaushalten beschäftigt ist, wurde im Gegensatz zur Verdienststrukturerhebung und zur Verdiensterhebung des Statistischen Bundesamts in den Berechnungen berücksichtigt. Gleiches gilt potentiell für Personen, die einer informellen Beschäftigung nachgehen, da diese im SOEP nicht von formell beschäftigten Personen unterschieden werden können.
Ungleichheiten werden unter Verwendung verschiedener ökonomischer Größen bestimmt. Hierzu zählen verschiedene Vermögens-, Einkommens- und Konsumkonzepte. Die Verteilungen dieser Größen entwickeln sich nicht notwendigerweise parallel. Dies liegt nicht nur an Unterschieden der Größen selbst, sondern auch in der zugrundeliegenden Population: So ist die Verteilung des verfügbaren äquivalenten Haushaltseinkommens basierend auf allen Personen in Privathaushalten in Deutschland definiert. Die Verteilung der Erwerbseinkommen basiert dagegen auf allen Erwerbstätigen (abhängig Beschäftigte und Selbstständige).
Auch die Berichterstattung des DIW Berlin zum Thema Ungleichheit verwendet daher verschiedene Konzepte. In dem hier vorliegenden Bericht wird das Konzept des vereinbarten Bruttostundenlohns in Haupttätigkeiten verwendet. Die betrachtete Population umfasst abhängig Beschäftigte ohne Auszubildende, PraktikantInnen oder Wehr- und Zivildienstleistende.
Betrachtet werden – soweit nicht anders erwähnt – vereinbarte Bruttostundenlöhne abhängig Beschäftigter in Haupttätigkeit. Nicht berücksichtigt werden Selbstständige, Auszubildende, Praktikantinnen und Praktikanten sowie Wehr- und Zivildienstleistende.
Der durchschnittliche realeIn Preisen von 2015, berechnet unter Verwendung des Verbraucherpreisindex des Statistischen Bundesamts. vereinbarte Bruttostundenlohn hat sich für abhängig Beschäftigte in Haupttätigkeit über den Beobachtungszeitraum von 1995 bis 2018 schwach entwickelt. Von etwa 17,60 Euro im Jahr 1995 stieg er auf 18,20 Euro im Jahr 2003, ging bis 2013 wieder auf rund 16,90 Euro zurück und stieg bis 2018 wieder an auf 18,30 Euro (Abbildung 1).Nominal lag der durchschnittliche vereinbarte Bruttostundenlohn im Jahr 2018 bei 19,00 Euro. Dies entspricht einem Anstieg von acht Prozent gegenüber 2013. Gemessen am MedianDer Medianlohn ist der Lohn, bei dem es genauso viele Menschen mit höheren wie mit niedrigeren Löhnen gibt. Würde man die Bevölkerung nach der Höhe ihrer Löhne sortieren und dann zwei gleich große Gruppen bilden, würde die Person, die genau in der Mitte dieser Verteilung steht, den Medianlohn beziehen. verlief die Entwicklung ähnlich. Zuletzt hat sich der Medianlohn aber etwas dynamischer entwickelt als der Durchschnitt und lag mit rund 16,50 Euro im Jahr 2018Nominal lag der Median des vereinbarten Bruttostundenlohns im Jahr 2018 bei 17,10 Euro. neun Prozent höher als 2013.
Die Entwicklung der realen vereinbarten Bruttostundenlöhne variiert dabei über die Dezile der Lohnverteilung. Diese erhält man, indem man die abhängig Beschäftigten nach der Höhe des vereinbarten Bruttostundenlohns sortiert und sie dann in zehn gleich große Gruppen (Dezile) aufteilt. Der Durchschnittslohn je Dezil ist auf das Jahr 1995 (= 100) normiert, so dass sich daran die prozentuale Veränderung ablesen lässt.
Bei den nachfolgenden Analysen ist zu beachten, dass die Betrachtung von dezilspezifischen Mittelwerten keine Rückschlüsse auf individuelle Lohnverläufe über die Zeit zulässt, da sich aufgrund von Eintritten in den und Austritte aus dem Arbeitsmarkt die einem Dezil zugeordnete Population verändert. Zudem sorgt Lohnmobilität dafür, dass Beschäftigte über die Zeit hinweg unterschiedlichen Dezilen zugeordnet werden. Das heißt, die Personen in einem Dezil sind im Verlauf der Zeit nicht unbedingt identisch.
Seit dem Jahr 1995 haben sich die Stundenlöhne nach Dezilen insbesondere bis 2008 deutlich auseinanderentwickelt (Abbildung 2). Dazu beigetragen haben vor allem Reallohneinbußen in der unteren Hälfte der Lohnverteilung, die unter anderem daraus resultieren, dass der Arbeitsmarkt im Zuge der Hartz-Reformen flexibilisiert wurde. Seit 2013 entwickeln sich über alle Dezile hinweg die Reallöhne positiv.Verwendet man alternativ die geleistete Arbeitszeit, so setzt der Reallohnanstieg schon 2010 ein, vgl. Karl Brenke und Alexander Kritikos (2017): Niedrige Stundenverdienste hinken bei der Lohnentwicklung nicht mehr hinterher. DIW Wochenbericht Nr. 21, 407–416 (online verfügbar). Mit der Einführung des allgemeinen Mindestlohns im Jahr 2015 (8,50 Euro pro Stunde) steigen die Stundenlöhne im ersten Dezil von 2014 bis 2016 überdurchschnittlich an.Vgl. hierzu Patrick Burauel et al. (2017): Mindestlohn noch längst nicht für alle – Zur Entlohnung anspruchsberechtigter Erwerbstätiger vor und nach der Mindestlohnreform aus der Perspektive Beschäftigter. DIW Wochenbericht Nr. 49, 1109–1123 (online verfügbar). Allerdings führt die erstmalige Anhebung des Mindestlohns im Jahr 2017 auf 8,84 Euro pro Stunde nicht zu einem weiteren Lohnanstieg im ersten Dezil. Eine mögliche Erklärung könnte methodisch bedingt sein. In den SOEP-Daten von 2017 wurden erstmals auch Personen mit einem Fluchthintergrund berücksichtigt, um die Migrationsbewegung nach Deutschland in der jüngeren Vergangenheit abzubilden. Diese Gruppe dürfte unterdurchschnittliche Stundenlöhne aufweisen. Von 2017 auf 2018 steigen die Stundenlöhne im untersten Lohndezil dann wieder an.
Insgesamt zeigt sich, dass seit dem Jahr 2013 alle Lohnsegmente von der positiven gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in Form steigender Reallöhne profitieren. Allerdings liegen 2018 gerade in den unteren Dezilen die Reallöhne immer noch unter dem Niveau der 1990er Jahre. Lediglich in der oberen Hälfte der Lohnverteilung steigen die realen Löhne von 1995 bis 2018 zwischen fünf (fünftes Dezil) und elf Prozent (achtes Dezil) über den Zeitraum 1995 bis 2018.
Die Verteilung der vereinbarten Bruttostundenlöhne kann mittels verschiedener Maßzahlen beschrieben werden. Hier werden drei Perzentilverhältnisse (90:10, 50:10 und 90:50) verwendet. Diese beschreiben das Lohnverhältnis der Person mit dem geringsten Verdienst aus dem jeweils höheren PerzentilBei Perzentilen werden die Beschäftigten nach der Höhe der Löhne sortiert und in 100 gleichgroße Gruppen eingeteilt. und der Person mit dem höchsten Verdienst aus dem jeweils unteren Perzentil. Das 90:10-Perzentilverhältnis gibt damit an, um wieviel mehr der obere Rand der Lohnverteilung im Vergleich zum unteren Rand verdient. Das 50:10-Perzentilverhältnis beschreibt die Lohnspreizung in der unteren Hälfte der Verteilung, also zwischen dem untersten Rand und der Mitte (Median), das 90:50-Perzentilverhältnis das des oberen Rands zur Mitte.
Die Ungleichheit des vereinbarten Bruttostundenlohns ist gemessen am 90:10-Perzentilverhältnis seit Mitte der 1990er Jahre von etwa 3,3Das heißt, der Bruttostundenlohn der Person auf der Untergrenze des zehnten Dezils war 3,3-Mal höher als bei der Person auf der Obergrenze des ersten Dezils. auf vier im Jahr 2006 gestiegen (Abbildung 3). Dies ist, wie der deutliche Anstieg des 50:10-Perzentilverhältnisses belegt, einer steigenden Lohnungleichheit in der unteren Hälfte der Verteilung geschuldet. Zwischen 2006 und 2014 stagniert das 90:10-Perzentilverhältnis und ist danach rückläufig.Auf Grundlage der Daten des IAB ist für Westdeutschland bei Vollzeitbeschäftigten seit 2011 eine Stagnation und in Ostdeutschland ein Rückgang der Lohnungleichheit zu verzeichnen. Vgl. Joachim Möller (2016): Lohnungleichheit – Gibt es eine Trendwende? IAB Discussion paper Nr. 9 sowie Bernd Fitzenberger und Arnim Seidlitz (2019): The 2011 Break in the Part-Time Indicator and the Evolution of Wage Inequality in Germany. ZEW discussion paper, No. 19-029. Damit liegt das Verhältnis 2018 mit 3,55 wieder auf dem Niveau wie zu Beginn der 2000er Jahre.
Die Entwicklung des 50:10-Perzentilverhältnisses zeigt, dass die Lohnspreizung in der unteren Hälfte der Verteilung im Jahre 2006 ihren Höhepunkt erreicht hat und seitdem klar rückläufig ist. So geht das Verhältnis von 2,18 im Jahr 2006 um rund zwölf Prozent auf 1,91 im Jahr 2018 zurück. Besonders ausgeprägt ist der Rückgang von 2014 auf 2015 – also parallel zur Einführung des gesetzlichen Mindestlohns.Vgl. Mindestlohnkommission (2018): Zweiter Bericht zu den Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns. Bericht der Mindestlohnkommission an die Bundesregierung nach § 9 Abs. 4 Mindestlohngesetz, Berlin; Marco Caliendo et al. (2017): The Short-Term Distributional Effects of the German Minimum Wage Reform. SOEPpapers on Multidisciplinary Panel Data Research 948, DIW Berlin (online verfügbar).
In der oberen Hälfte der Verteilung (90:50) steigt die Lohnungleichheit auch nach 2006 und sinkt erst 2013.
Über den NiedriglohnsektorWir danken der Bertelsmann Stiftung für die finanzielle Unterstützung für die Analysen zum Niedriglohnsektor im Rahmen des Forschungsvorhabens „Niedriglohnsektor in Deutschland – Umfang, Struktur und Mobilität“. Eine weiterführende Analyse im Hinblick auf mögliche Verharrungstendenzen und Mobilitätsdynamiken im Niedriglohnsektor im Auftrag der Bertelsmann Stiftung erscheint in der ersten Jahreshälfte 2020. wird in Deutschland intensiv und kontrovers diskutiert. Einerseits wird argumentiert, der über die Arbeitsmarktflexibilisierungen vergrößerte Niedriglohnsektor helfe, mehr Arbeits- und Erwerbslose in Beschäftigung zu bringen. Andererseits wird kritisiert, dass viele Beschäftigte im Niedriglohnbereich keine auskömmlichen Erwerbseinkommen erzielen, auf Lohnersatzleistungen angewiesen sind und perspektivisch ein hohes Alters- armutsrisiko haben.
Beschäftigte werden dem Niedriglohnsektor zugeordnet, wenn sie weniger als zwei Drittel des Medians des vereinbarten Stundenlohns erhalten. Die Niedriglohnschwelle lag auf Basis der SOEP-Daten im Jahr 2018 für Hauptbeschäftigungen bei nominal rund 11,40 Euro brutto pro Stunde.
Mitte der 1990er Jahre liegt der Anteil abhängig Beschäftigter in Haupttätigkeit mit einem Niedriglohn bei rund 17 Prozent (Abbildung 4). Seit 1997 weitet sich dieser Anteil stark aus und erreicht einen Höchstwert von 23,8 Prozent im Jahr 2007. Seit 2015 schrumpft der Niedriglohnsektor: So ist der Anteil der abhängig Beschäftigten in Haupttätigkeit von 23,7 im Jahr 2015 auf 21,7 Prozent im Jahr 2018 zurückgegangen.Hier wird der Niedriglohnsektor entsprechend der gängigen Praxis auf Basis der Bruttostundenlöhne abgegrenzt. Vereinzelt wird der Niedriglohnsektor auch auf Grundlage von Bruttomonatslöhnen berechnet. Das hat zur Folge, dass für das Jahr 2018 keine relevante Veränderung beobachtet werden kann. Dies bedeutet, dass es Änderungen der Beschäftigten im Hinblick auf deren Arbeitszeit gegeben hat.
Die Frage ist nun, inwiefern die Stundenlöhne der abhängig Beschäftigten dem 2015 eingeführten Mindestlohn entsprechen. Die internationale Literatur spricht von Non-ComplianceVgl. Low Wage Commission (2019): Non-compliance and enforcement of the National Minimum Wage. April (online verfügbar)., wenn anspruchsberechtigte Beschäftigte Löhne erhalten, die unter dem Mindestlohn liegen, also 2018 unter 8,84 Euro. Im Januar 2019 wurde der Mindestlohn weiter auf 9,19 Euro pro Stunde angehoben. Die Nichteinhaltung des Mindestlohns lässt sich mit den SOEP-Daten für drei Lohnkonzepte bestimmen.
Zum einen lassen sich die Stundenlöhne unter Verwendung der von den Befragten angegebenen Monatsentgelte und Arbeitszeiten berechnen. Hierbei können wiederum vereinbarte und tatsächliche Arbeitszeiten, die auch Überstunden umfassen, verwendet werden. Je nach Stundenkonzept ergibt sich so ein berechneter vereinbarter beziehungsweise tatsächlicher Stundenlohn. Bei beiden berechneten Lohnkonzepten ergibt sich eine Unschärfe daraus, dass Entgelte und Arbeitszeiten für verschiedene Perioden gemessen werden: Während die Entgelte auf den letzten Monatslohn bezogen sind, bezieht sich die Abfrage der Arbeitszeit auf eine Woche. Hier wird angenommen, dass die Wochenarbeitszeit multipliziert mit 4,33 der Monatsarbeitszeit entspricht. Bei den tatsächlichen Stundenlöhnen ist ferner zu beachten, dass sich nicht abschließend klären lässt, inwiefern geleistete Überstunden heute oder zu einem späteren Zeitpunkt entgolten werden. Damit sind die Angaben zur Non-Compliance mit Unsicherheiten behaftet und ihr Wert auf Grundlage des tatsächlichen Stundenlohns ist als eine obere Grenze zu interpretieren.
Zum anderen lassen sich die Direktangaben der Befragten zu ihren Stundenlöhnen zu Grunde legen. Im Jahr 2018 wurde dabei nach dem tatsächlichen Stundenlohn gefragt. Die Direktabfrage hat den Vorteil, dass keine Annahme über den Zusammenhang zwischen Wochen- und Monatsarbeitszeit getroffen werden muss. Allerdings hat auch die Direkt- angabe Schwächen, insbesondere da die Befragten selbst den Stundenlohn in der Befragungssituation nur annähernd abschätzen können, zum Beispiel wenn keine Stundenlohnvereinbarung mit dem Arbeitgeber vorliegt.
Je nach Lohnkonzept schwankt die gemessene Non-Compliance mit dem Mindestlohn in Hauptbeschäftigungen. Im Jahr 2018 liegt sie bei der Direktabfrage bei 750 000, beim vereinbarten berechneten Stundenlohn bei mehr als 2,4 Millionen und beim tatsächlichen berechneten Stundenlohns bei knapp 3,8 Millionen anspruchsberechtigten Beschäftigten (Tabelle). Der Anteil der Anspruchsberechtigten, die unterhalb des Mindestlohns entlohnt werden, variiert damit zwischen 2,1 Prozent über 6,8 Prozent bis hin zu 10,6 Prozent auf Grundlage des tatsächlichen berechneten Stundenlohns.Laut der Erhebung des Panels für Arbeitsmarkt und Soziale Sicherung (PASS) der Bundesagentur für Arbeit lagen die Quoten der anspruchsberechtigten Beschäftigten, deren tatsächlicher Stundenlohn unterhalb des Mindestlohns lag, im Jahr 2014 bei 19,6 Prozent und im Jahr 2015 bei 14,4 Prozent. Vgl. Toralf Pusch und Miriam Rehm (2017): Mindestlohn, Arbeitsqualität und Arbeitszufriedenheit. WSI-Mitteilungen, Ausgabe 7, 491–498. Diese hohe Bandbreite ist der Problematik geschuldet, dass keine der in Deutschland zur Messung von Non-Compliance verwendeten Datensätze originär hierfür konzipiert wurde.
In Millionen und in Prozent aller abhängig Beschäftigten nach verschiedenen Lohnkonzepten
2,5-Prozent-Konfidenzintervall | Punktschätzer | 97,5-Prozent-Konfidenzintervall | |
---|---|---|---|
Haupttätigkeit | |||
in Millionen nach berechnetem vereinbartem Stundenlohn | 2,197 | 2,416 | 2,65 |
in Prozent | 6,2 | 6,8 | 7,5 |
in Millionen nach berechnetem tatsächlichem Stundenlohn | 3,467 | 3,76 | 4,064 |
in Prozent | 9,9 | 10,6 | 11,4 |
in Millionen nach Stundenlohn (direkte Angabe) | 0,624 | 0,745 | 0,896 |
in Prozent | 1,8 | 2,1 | 2,5 |
Nebentätigkeiten | |||
in Millionen nach berechnetem tatsächlichem Stundenlohn | 0,543 | 0,665 | 0,795 |
in Prozent | 28,0 | 32,7 | 38,0 |
Anspruchsberechtigte Beschäftigte in Privathaushalten.
Quellen: SOEPv35; eigene Berechnungen.
Letztlich kann auch die Nichteinhaltung des Mindestlohns in Nebentätigkeiten untersucht werden: Dies geschieht auf Grundlage des berechneten tatsächlichen Stundenlohns.Bei Nebentätigkeiten im SOEP wird die Arbeitszeit folgendermaßen erfragt: „Wie viele Stunden arbeiten Sie für diese Tätigkeit pro Woche?". Im Jahr 2018 wurden demnach 670 000 anspruchsberechtigte Beschäftigte in ihrer Nebentätigkeit unterhalb des Mindestlohns entlohnt.Diese Personen können, müssen aber nicht identisch sein mit den Personen, die auch in ihrer Haupttätigkeit nicht den Mindestlohn erhalten.
Die Beschäftigungsrekorde der vergangenen Jahre spiegeln sich seit dem Jahr 2013 auch in steigenden vereinbarten realen Bruttostundenlöhnen wider. Seit 2006 geht zudem die Lohnungleichheit in der unteren Hälfte der Lohnverteilung zurück und seit 2015 gibt es auch Anzeichen für einen Rückgang der abhängig Beschäftigten im Niedriglohnsektor, die sich vor allem in den beiden unteren Lohndezilen befinden.
Dass sich im untersten Segment der Lohnverteilung die Stundenlöhne seit 2015 deutlich dynamischer entwickelt haben als in den Jahren zuvor, ist vor allem der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 2015 geschuldet.Patrick Burauel et al. (2020): The Impact of the Minimum Wage on Working Hours. Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 240(2-3), 233–267, https://doi.org/10.1515/jbnst-2018-0081; Patrick Burauel (2020): The Impact of the German Minimum Wage on Individual Wages and Monthly Earnings. Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 240(2-3), 201–231, https://doi.org/10.1515/jbnst-2018-0077. Dennoch erhalten laut SOEP im Jahr 2018 zumindest nach dem berechneten vereinbarten Bruttostundenlohn rund 2,4 Millionen anspruchsberechtige Beschäftigte in ihrer Haupttätigkeit einen Lohn, der unterhalb der Mindestlohnschwelle von 8,84 Euro liegt.
Da die meisten Beschäftigten mit ihrem Arbeitgeber Monats- und keine Stundenlöhne vereinbart haben, ist es für eine effektive Kontrolle der Einhaltung des Mindestlohns zentral, die Arbeitszeiten präzise zu erfassen. Bemühungen in diese Richtung unternimmt derzeit das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) mit einem Gesetzentwurf, der ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Arbeitszeiterfassung aufgreift. Demnach sind alle Arbeitgeber verpflichtet, die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten systematisch zu erfassen. Der Gesetzentwurf sollte nicht nur die genaue Erfassung der bezahlten Arbeitszeit regeln, sondern auch die unbezahlten Überstunden in den Blick nehmen, die nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) ungefähr die Hälfte der Überstunden ausmachen.Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (2019): Ergebnisse der IAB-Arbeitszeitrechnung für das dritte Quartal 2019: Mehr Kurzarbeit, weniger Überstunden. Presseinformation vom 3. Dezember 2019 (online verfügbar). Würde die Umsetzung eines solchen Gesetzentwurfs dazu beitragen, unbezahlte in bezahlte Überstunden zu überführen, dürfte damit auch die Nichteinhaltung des Mindestlohns zurückgehen. Das BMAS sollte daher zügig an der Umsetzung eines Gesetzentwurfs arbeiten, der klare Regelungen zur Vermeidung unbezahlter Mehrarbeit enthält.
Themen: Ungleichheit, Arbeit und Beschäftigung
JEL-Classification: D31;I31;I32
Keywords: Wages, inequality, working-poor, minimum wages, non-compliance, SOEP
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2020-7-1
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/219337