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Deutsche Wirtschaft erholt sich nur langsam von Corona-Schock – Zeit für mehr Zukunftsinvestitionen ist jetzt

Pressemitteilung vom 11. Juni 2020

Konjunkturprognose des DIW Berlin: Wahrscheinlichstes Szenario ist eine nur allmähliche Erholung – Wirtschaftsleistung in Deutschland bricht in diesem Jahr drastisch um mehr als neun Prozent ein – Einkommensverluste und Verunsicherung lasten schwer auf Unternehmen und privaten Haushalten – Konjunkturprogramm der Bundesregierung gibt kurzfristige Impulse – DIW Berlin schlägt Investitionspaket vor, um Wachstumspotential der Wirtschaft mittelfristig zu erhöhen

Die Corona-Krise hat der deutschen Wirtschaft tiefe Wunden zugefügt, die trotz einer beherzten Wirtschaftspolitik nur langsam heilen dürften – dies halten die KonjunkturforscherInnen des DIW Berlin für das wahrscheinlichste Szenario der wirtschaftlichen Entwicklung. Im laufenden zweiten Quartal wird die hiesige Wirtschaftsleistung noch erheblich stärker einbrechen als im ersten Vierteljahr. Damit steckt Deutschland in der tiefsten Rezession der Nachkriegsgeschichte. Gegenüber dem vergangenen Jahr dürfte das Bruttoinlandsprodukt um voraussichtlich 9,4 Prozent sinken, wie aus der neuesten Konjunkturprognose des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) hervorgeht.

In dieser Prognose wird unterstellt, dass die Ausbreitung des Corona-Virus nachhaltig eingedämmt werden kann. Gelingt dies, wird die Wirtschaftsleistung im Zuge der Lockerungen zwar schon ab dem dritten Quartal wieder ausgeweitet, allerdings nur sehr schleppend. Trotz der Maßnahmen der Soforthilfe für Unternehmen sind eine rasche Erholung und ein Anknüpfen an die wirtschaftliche Entwicklung der vergangenen zehn Jahre ohne weiteres Zutun nicht zu erwarten. Die Verluste werden im kommenden Jahr bei weitem noch nicht wettgemacht – die deutsche Wirtschaft dürfte aus heutiger Sicht um dann 3,0 Prozent wachsen. Das jüngst beschlossene Konjunkturpaket der Bundesregierung stützt die Konjunktur spürbar. Wird es so umgesetzt, dürfte der wirtschaftliche Einbruch mit -8,1 Prozent in diesem Jahr geringer und die Erholung mit 4,3 Prozent im nächsten Jahr kräftiger ausfallen.

© DIW Berlin

Ein U ist derzeit das wahrscheinlichste Szenario

Konjunkturprognosen sind derzeit mit erheblichen Unsicherheiten verbunden – unterschiedliche Szenarien erscheinen möglich. Das wahrscheinlichste Szenario für die Entwicklung der deutschen Wirtschaft ist nach Einschätzung des DIW Berlin derzeit ein U: Dem scharfen Einbruch folgt eine Durststrecke, bevor es allmählich bergauf geht. Einkommenseinbußen und Unsicherheit drücken auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Kommt eine zweite Infektionswelle mit erneuten Einschränkungen, ließen sich deutlich steigende Insolvenzen und Einkommenseinbußen kaum vermeiden. Ein solches L-Szenario könnte sich zu einer Banken- und Staatsschuldenkrise ausweiten. Auf eine zügigere Erholung ließe sich nur hoffen, wenn bald ein Impfstoff in ausreichender Menge zur Verfügung steht. Dann könnte es wie in einem V auch schneller bergauf gehen.

Die Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung sorgt dafür, dass sich Unternehmen und private Haushalte mit der Anschaffung von Investitions- und größeren Konsumgütern zurückhalten. Kurzarbeit und Entlassungen belasten die Kaufkraft der Menschen in Deutschland und senken deren Nachfrage. Massive Umsatzausfälle und steigende Schulden schränken wiederum die Spielräume vieler Unternehmen ein, die im Zuge dessen weniger oder gar nicht in ihre Produktionskapazitäten investieren und teilweise Beschäftigte entlassen müssen. So dürfte die Arbeitslosigkeit in Deutschland um rund 500.000 Personen auf im Jahresdurchschnitt gut 2,7 Millionen steigen. Das entspricht einer Arbeitslosenquote von 6,0 Prozent.

„Die Einschnitte sind schmerzlich und der Neustart der deutschen Wirtschaft wird nur sehr langsam vonstattengehen.“ Marcel Fratzscher, DIW-Präsident

Für die Unternehmen kommt erschwerend hinzu, dass die Krise nicht auf den deutschen Absatzmarkt beschränkt ist, sondern nahezu alle Länder betroffen sind – viele davon noch weitaus stärker, beispielsweise die USA und das Vereinigte Königreich, aber auch wichtige Handelspartner innerhalb des Euroraums wie Spanien und Italien. Vielerorts sind die Arbeitslosenzahlen in die Höhe geschnellt, Lieferketten unterbrochen und Unternehmen insolvent gegangen. Das trifft die auf Investitionsgüter wie Maschinen, Anlagen und Fahrzeuge spezialisierte deutsche Exportindustrie besonders.

Insgesamt dürfte die Weltwirtschaft in diesem Jahr um rund fünf Prozent einbrechen. Hinzu kommt die Gefahr, dass Handelskonflikte weiter eskalieren und sich die Europäische Union und das Vereinigten Königreich nicht auf ein Brexit-Abkommen einigen können.

Stärkerer Fokus auf Investitionen würde Wachstumspotential erhöhen

Umso wichtiger ist es, der Konjunktur in Deutschland wieder auf die Beine zu helfen. Die Bundesregierung hat nach Ansicht der DIW-KonjunkturforscherInnen beherzt und umsichtig reagiert. Zunächst, indem mit Krediten, Garantien und Bürgschaften Unternehmen zur Seite gesprungen wurde. Auch die Einkommen der privaten Haushalte wurden mit Instrumenten wie dem Kurzarbeitergeld, Einmalzahlungen und Zuschüssen stabilisiert. Jüngst wurde ein umfangreiches Konjunkturprogramm mit einem Volumen von etwa 130 Milliarden Euro beschlossen, das unter anderem die Mehrwertsteuer vorübergehend senkt und Familien einen Kinderbonus von 300 Euro pro Kind gewährt.

Viele der insgesamt rund 50 Maßnahmen dürften kurzfristig die Konsumnachfrage stabilisieren, es wurden aber auch erste Schritte unternommen, um Investitionen in den Bereichen Klimaschutz, Digitalisierung und Bildung anzuschieben. Unter dem Strich dürfte das Konjunkturpaket DIW-Berechnungen zufolge die Wirtschaftsleistung in diesem und im nächsten Jahr um 1,3 Prozentpunkte erhöhen und damit wesentlich dazu beitragen, dass die Wirtschaft wieder in die Spur kommt.

„Das von der Bundesregierung beschlossene Konjunkturprogramm geht in die richtige Richtung, stabilisiert die gesamtwirtschaftliche Nachfrage vor allem aber kurzfristig. Zusätzliche Investitionen zahlen sich hingegen langfristig aus und steigern die Einkommen dauerhaft.“ Claus Michelsen, DIW-Konjunkturchef

Wünschenswert ist eine weitere Stärkung der Investitionstätigkeit, mit der das zukünftige Wachstumspotential erhöht werden kann und damit auch die Rückzahlung der jetzt aufgenommenen Schulden in Zukunft erleichtert wird. Eine konsequente Neuausrichtung der deutschen Wirtschaft auf Nachhaltigkeit und Digitalisierung ist bisher ausgeblieben.

Ergänzend zu und teilweise anstelle des unterbreiteten Konjunkturprogramms schlägt das DIW Berlin Maßnahmen vor, die sich an zusätzlichen Investitionsbedarfen in Richtung eines digitalen, ressourcen- und klimaschonenden Umbaus der Industrienation Deutschland orientieren. Ein besonderer Fokus liegt auf Investitionen in Schlüsseltechnologien, innovativen Gründungen, effizienten Bildungssystemen, umweltschonenden Infrastrukturen und kommunaler Daseinsvorsorge. Dies würde das Wachstum der deutschen Wirtschaft sogar dauerhaft anheben.

Ein entsprechendes Programm, das unter anderem einen Investitionsfonds für Unternehmen, eine Entschuldung der Kommunen, Impulse für die Digitalisierung sowie Forschung und Entwicklung, aber auch die Bildung und das Gründungsgeschehen in den Blick nimmt, würde spürbare Wachstumsimpulse entfalten. Bei einem Volumen von rund 192 Milliarden Euro würde das jährliche Wachstum in den kommenden zehn Jahren um durchschnittlich 0,5 Prozent pro Jahr erhöht und die Beschäftigung um mehr als 800 000 Arbeitsplätze aufgebaut.

Kurz gesagt

Marcel Fratzscher, DIW-Präsident: „Der Einbruch der deutschen Wirtschaft wird in diesem Jahr deutlich drastischer sein als während der Finanzkrise vor gut zehn Jahren. Wir müssen realisieren, dass die Einschnitte schmerzlich sind und der Neustart nur sehr langsam vonstattengehen wird. Wir werden uns auf Rückschläge einstellen müssen. Vieles kann schiefgehen und eine erneute Abschwächung herbeiführen. Dass viele Unternehmen vom Exportgeschäft abhängig sind, macht die deutsche Wirtschaft in Krisenzeiten wie diesen sehr verletzlich. Einerseits ist es wichtig, dass die Inlandsnachfrage wieder auf die Beine kommt und das Wachstumspotential gestärkt wird, andererseits aber auch, dass wir unseren Partnern vor allem in Europa helfen. Hier ist Solidarität gefragt. Deutschland sollte einen überzeugenden europäischen Wiederaufbaufonds unterstützen. Ohne ein starkes Europa werden wir nicht aus der Krise kommen.“

Claus Michelsen, DIW-Konjunkturchef: „Es wird lange dauern, bis die deutsche Wirtschaft die Verluste durch die Corona-Krise ausgeglichen haben wird. Wir können nur hoffen, dass sich die Absatzmärkte für Produkte „Made in Germany“ schnell erholen. Danach sieht es aber augenblicklich nicht aus. Deutschland muss sich auf eine längere Durststrecke einstellen. Gerade deshalb ist es wichtig, ein Konjunkturpaket zu schnüren und jetzt in die Zukunft zu investieren. Wir reden schon seit geraumer Zeit über Dekarbonisierung, Digitalisierung, Infrastruktur oder bessere Bildung. Hier hat Deutschland viel nachzuholen. Das von der Bundesregierung beschlossene Konjunkturprogramm geht in die richtige Richtung, stabilisiert die gesamtwirtschaftliche Nachfrage vor allem aber kurzfristig. Zusätzliche Investitionen zahlen sich hingegen langfristig aus und steigern die Einkommen dauerhaft. Damit hinterlassen wir zukünftigen Generationen nicht nur eine wettbewerbsfähigere und nachhaltigere Wirtschaftsstruktur – wir erleichtern mit höherem Wachstum auch den Schuldenabbau.“

Geraldine Dany-Knedlik, Expertin für die Weltwirtschaft: „Weltweit erleiden Haushalte und Unternehmen enorme Einkommens- und Umsatzausfälle und sind gleichzeitig erheblich verunsichert über den weiteren Pandemieverlauf und die wirtschaftliche Entwicklung. Dies dürfte Investitionen und Konsum noch bis in das kommende Jahr hinein deutlich bremsen. Daher wird sich die Weltwirtschaft nur langsam erholen. Voraussichtlich können die derzeitigen erheblichen Produktionsausfälle und der massive Einbruch im Dienstleistungssektor im Jahr 2021 nicht kompensiert werden.“

Themen: Konjunktur

Geraldine Dany-Knedlik

Co-Leitung Konjunkturpolitik in der Abteilung Makroökonomie

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