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Die globalisierte deutsche Wirtschaft: Im Wahlkampf vernachlässigt!

DIW aktuell ; 68 : Sonderausgaben zur Bundestagswahl 2021, 6 S.

Lukas Boer, Lukas Menkhoff

2021

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Die deutsche Wirtschaft ist stark globalisiert. Insofern hat Deutschland ein besonders großes Interesse an einer florierenden internationalen Wirtschaft, deren Zukunft jedoch aufgrund sich wandelnder Akteure und ihrer Rollen in Frage steht. In einem deutlichen Kontrast zur Bedeutung für den deutschen Wohlstand steht die Bedeutung des Themas in den Programmen der größeren Parteien zur Bundestagswahl 2021: Die Weltwirtschaft nimmt nicht viel Platz ein, angesprochen werden vorwiegend binnenwirtschaftliche Themen und Aussagen zu internationalen Abkommen bleiben unvollständig. Dabei wäre es für die WählerInnen wichtig zu wissen, welche langfristige Strategie Deutschland in der Weltwirtschaft verfolgen möchte.

Die Corona-Krise hat noch einmal verdeutlicht, wie stark viele Länder der Welt, und so auch Deutschland, in die globale Arbeitsteilung eingebunden sind. Als Nachteil dieser Einbindung fehlte es 2020 zum Beispiel an einfachen medizinischen Masken aus Asien und 2021 gibt es Auseinandersetzungen um die internationale Verteilung von Impfstoffen. Beides motiviert dazu, wieder mehr auf nationale beziehungsweise regionale europäische Autonomie zu achten und damit die Globalisierung ein wenig zurückzudrehen.

Ein Vorteil der globalisierten Wirtschaft war allerdings im vergangenen Jahr der Risikoausgleich, da die beiden größten Volkswirtschaften der Welt, China und die USA, schneller als Europa aus der Krise gekommen sind. Ihre wirtschaftliche Erholung stimulierte die deutschen Exporte und sorgte dafür, dass Deutschland in der Krise geringer schrumpft als andere europäische Volkswirtschaften, die weniger international eingebunden sind.infoClaus Michelsen et al. (2021), Deutsche Wirtschaft zwischen Lockdown und Normalität: Grundlinien der Wirtschaftsentwicklung im Frühjahr 2021, DIW Wochenbericht 11, S. 190-208 [online verfügbar]  D Diese starke Einbindung ist eine Besonderheit der deutschen Volkswirtschaft.Zur Größe der Vorstände in den von der Geschlechterquote für den Aufsichtsrat unterliegenden Unternehmen siehe Kirsch und Wrohlich (2021), a.a.O.

Deutschland ist besonders exportstark

Deutschland zählt zu den exportstarken Volkswirtschaften, war in den 2000er Jahren sogar Exportweltmeister, und liegt seitdem weltweit auf Platz 3 (hinter China und den USA). Hohe Exporte ins Ausland bedeuten, dass deutsche Güter und Dienstleistungen dort nachgefragt werden. Dies sichert Produktion im Inland und schafft Arbeitsplätze. Gleichzeitig werden fast genauso viele Güter und Dienstleistungen aus dem Ausland importiert, also eingekauft. Die Summe der Exporte und Importe bezogen auf die Wertschöpfung in Deutschland (BIP), die Außenhandelsquote, beträgt knapp 85 Prozent. Vergleicht man diesen Wert mit den OECD-Ländern, und berücksichtigt, dass die Außenhandelsquote mit der Größe einer Volkswirtschaft sinkt, dann weist Deutschland einen sehr hohen Wert auf. (Abbildung 1).

Abbildung 1: Hohe deutsche Außenhandelsquote im internationalen Vergleich

Angaben in Prozent

Quelle: OECD (2021), Trade in goods and services (indicator). Bevölkerung (2019) aus Penn World Table: Robert Feenstra et al. (2015), The Next Generation of the Penn World Table, American Economic Review, Vol. 105, Nr. 10, S.3150-3182 [https://www.rug.nl/ggdc/productivity/pwt/]. Anmerkungen: 37 OECD-Mitgliedsstaaten (ohne Luxemburg). Länder mit Bevölkerungen unterhalb 6 Millionen ohne Namenskürzel (Ausnahme Irland (IRL). BIP (Bruttoinlandsprodukt). Außenhandelsvolumen beinhaltet Güter und Dienstleistungen. Bei der angezeigten Linie wird ein logarithmischer Trend angenommen. Quelle: SOEPv35 und SOEP-CoV. Alle Werte gewichtet mit individuellen Hochrechnungsfaktoren
© DIW Berlin

Kaum ein großes Land ist so stark in internationale Verflechtungen eingebunden, also wirtschaftlich so globalisiert, wie Deutschland. Folglich ist der Zugang zur Weltwirtschaft für Deutschland auch wichtiger als für andere Länder, wie zum Beispiel für die großen europäischen Nachbarländer.

Weltwirtschaft ist kein Wahlkampfthema

Die Bedeutung einer funktionierenden Weltwirtschaft für den deutschen Wohlstand spiegelt sich in den dominierenden Wahlkampfthemen allerdings nicht wider. Man könnte erwarten, dass in den Medien oder Wahlprogrammen mit Hochdruck Ideen entwickelt werden oder Präferenzen begründet werden, wie die Weltwirtschaft in Zukunft zu gestalten ist, um den deutschen Wohlstand zu sichern. Dies umso mehr als nicht nur Deutschland stark mit der Weltwirtschaft verflochten ist, sondern die Offenheit dieser Weltwirtschaft und damit die Lebensfähigkeit des deutschen Wirtschaftsmodells gefährdet scheint. Längst ist die Phase zunehmender Globalisierung zu Ende.infoHarold James (2018), Deglobalization: The Rise of Disembedded Unilateralism, Annual Review of Financial Economics, Vol.10, S. 219-237. Seit der großen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 stagniert die Globalisierung und die jüngsten Spannungen mit China und den USA verdeutlichen die Verwundbarkeit einer offenen Weltwirtschaft. Manches spricht dafür, dass die Welt in eine Phase der rückläufigen Globalisierung übergehen könnte. Wie kann und soll Deutschland auf diese Entwicklungen reagieren? Diese zentrale Frage wird kaum angesprochen, wie ein Blick in die aktuellen Wahlprogramme der sechs im Bundestag vertretenen Parteien zeigt.

Das Themenfeld Wirtschaft spielt in allen Programmen eine erhebliche Rolle. Allerdings liegt der Fokus eher auf Arbeitnehmerthemen, wie der sozialen Sicherung. Die internationale Wirtschaft dagegen taucht nur am Rande auf. Ihr Anteil an den jeweiligen Texten liegt in der Größenordnung von zwei bis drei Prozent (mit einiger Streuung, je nach Partei, vgl. Abbildung 2).infoDie Abgrenzung hier ist insofern eng, als es primär um Wirtschaft gehen soll. Zum Beispiel beziehen sich fast die Hälfte aller Erwähnungen von „Export“ auf Rüstungsexporte, die aus politischen und kaum aus ökonomischen Gründen große Aufmerksamkeit erhalten. Ferner umfasst „international“ hier nicht Europa, womit meist die EU gemeint ist, weil die EU ein Binnenmarkt ist. Ähnlich ist das Ergebnis, wenn man die Programme nach Stichwörtern zur Wirtschaft durchsucht: Steuern und Rente werden häufig thematisiert (Tabelle 1). Das Wort „international“ dagegen spielt im Zusammenhang mit Wirtschaft fast keine Rolle. Nimmt man den Wert der Häufigkeit der beiden internationalen Begriffe relativ zu der Häufigkeit von Steuer und Rente als Indikator für die relative Bedeutung von internationaler Wirtschaft, so liegt dieser Wert in einer Spanne von etwa 2 bis 7 Prozent. Offensichtlich hat – im Kontrast zu der enormen Bedeutung für Deutschland – die internationale Wirtschaft in den Programmen keine große Bedeutung.

Tabelle 1: Themenfeld „Wirtschaft“ in den Parteiprogrammen

Quelle: Wahlprogramme der Parteien [online verfügbar]. Anmerkungen: 1Stichworte“ Welthandel“ bzw. “Außenhandel“, 2 Entwürfe, 3 Kapitel Welthan-del wird erwähnt, ist aber noch nicht Teil des Entwurfs.
© DIW Berlin

Die Offenheit der Weltwirtschaft steht in Frage

Dabei ist die Liste wichtiger weltwirtschaftlicher Themen lang. Aus einer deutschen Perspektive steht die Offenheit der Weltwirtschaft, die Voraussetzung für die starke Einbindung Deutschlands ist, ganz oben. Handel schafft Wachstum und würde diese Offenheit reduziert, zum Beispiel durch erhöhte Zölle, würden zwar alle Länder tendenziell verlieren, aber Deutschland würde eben deutlich mehr verlieren als andere Länder.

Tatsächlich ist die Offenheit der Weltwirtschaft bedroht.infoEine aktuelle Analyse der ökonomischen Konsequenzen findet sich in Pablo Fajgelbaum et al. (2020), The Return to Protectionism, Quarterly Journal of Economics, Vol. 135, Nr. 1, S. 1-55 [online verfügbar]. Das übergeordnete Problem dabei ist die Zukunft der multilateralen Ordnung. So wie jede nationale Volkswirtschaft einen Ordnungsrahmen braucht, so gilt dies auch für die Weltwirtschaft. Nur gibt es auf Weltebene keine gemeinsame Gesetzgebung, sondern eine Ordnung muss ausgehandelt werden. Diesen Prozess hatten die USA nach dem Zweiten Weltkrieg gestaltet, als sie die mit Abstand führende ökonomische und militärische Macht waren. Entsprechend hatte dies den Charakter einer Pax Americana, also einer von den USA dominierten friedlichen Ordnung. Nachdem diese Ordnung und ihre Institutionen, wie der Internationale Währungsfonds (IWF), nach 1990 fast die gesamte Welt umspannten, stellt der Aufstieg der Schwellenländer, und vor allem der Chinas, diese Ordnung grundsätzlich in Frage. Zugespitzt gesagt, baut China seine eigene Ordnung neben der bestehenden auf, wie es im internationalen Investitionsprogramm der sogenannten „neuen Seidenstraße“ zum Ausdruck kommt. Bloß wie stehen die Parteien zu dieser Herausforderung?

Vgl. dazu zum Beispiel Lori Beaman et al. (2009): Powerful Women: Does Exposure reduce bias? Quarterly Journal of Economics 124/ 4, 1497–1540; und Maria de Paola, Vincenzo Scoppa und Rosetta Lombardo (2010): Can gender quotas break down negative stereotypes? Evidence from changes in electoral rules. Journal of Public Economics 94, 344–353.

Große Schwellenländer planen strategische Autonomie

Vielleicht noch herausfordernder ist die Vorstellung mancher Länder, insbesondere Chinas oder auch Indiens, sich mittelfristig wirtschaftlich unabhängiger vom Ausland zu machen. China spricht in diesem Zusammenhang von zwei wirtschaftlichen Kreisläufen, wovon nur noch einer in die Weltwirtschaft eingebunden ist. Tatsächlich hat jede Volkswirtschaft – vereinfacht gesagt – rein nationale und gleichzeitig international eingebundene Teile seiner Wirtschaft; doch China plant in etlichen international eingebundenen Schlüsselbereichen autonom zu werden. Zu diesem Zweck wird mit großer staatlicher Unterstützung gezielt investiert. Dies beeinflusst den internationalen Wettbewerb und kann mittelfristig zum Verlust großer Märkte für die deutsche Wirtschaft führen. Zum einen indem vormals offene lokale Märkte abgeschottet werden, zum anderen, weil lokale Wettbewerber herausgebildet werden, die dann auf den noch offenen internationalen Märkten zu subventionierten Konditionen in den Wettbewerb treten. Wie möchte die deutsche Politik mit diesen Risiken umgehen?

Wohin entwickelt sich die Welthandelsordnung?

Schließlich ist auch der internationale Handel mit Gütern und Dienstleistungen, das heißt der Kern der Globalisierung, umstritten. Idealtypisch sollte eine internationale Handelsordnung generell gelten, selbst wenn diese wiederum Unterschiede zulässt. Dafür ist die Welthandelsorganisation (WTO) zuständig. Faktisch jedoch sind die Vereinbarungsprozesse auf dieser Ebene weitgehend zum Stillstand gekommen.infoVgl. Richard Baldwin (2016), The World Trade Organization and the Future of Multilateralism, Journal of Economic Perspectives, Vol. 30, Nr. 1, S. 95-116. Es scheint als würde sich die Welthandelsordnung in vielen regionalen Ordnungen weiterentwickeln. Das größte Abkommen dieser Art wurde im Pazifikraum geschlossen, unter Beteiligung unter anderem von China, Japan, Südkorea, den ASEAN-Staaten, aber durch ihren Rückzug unter dem damaligen Präsidenten Trump ohne die USA.infoVgl. z.B. Hanns Günther Hilpert (2021), Neue Handelsabkommen in Asien, SWP-Aktuell, Nr.23. März [online verfügbar].

Deutschland schließt keine Handelsabkommen ab, da diese Kompetenz an die Europäische Union (EU) abgetreten ist. Das hat den großen Vorteil, dass die EU-Länder nicht einfach gegeneinander ausgespielt werden können und in weltweiten Verhandlungen einen relevanten Wirtschaftsblock bilden, den dritten großen neben China und den USA. Aufgrund der Stagnation auf Weltebene stellt sich die Frage, welche regionalen Abkommen die EU verfolgen möchte, und gegebenenfalls zu welchen Bedingungen. Wie steht Deutschland dazu?

 

Antworten der Parteien bleiben bruchstückhaft

Die Parteien gehen in ihren Wahlprogrammen auf einzelne internationale Wirtschaftsabkommen ein (Tabelle 2). Die meisten äußern sich zu den Bedingungen für faire Arbeit, die die internationale Arbeitsorganisation (ILO) aufgestellt hat und unterstützen diese. Viele nehmen Stellung zu den Verträgen mit der südamerikanischen Wirtschaftsvereinigung Mercosur und zum Freihandelsabkommen mit Kanada (CETA). Kaum eine Partei äußert sich zum Investitionsabkommen mit China. Strategische Pläne, die mehr als Wunschlisten sind, werden nicht klar formuliert. Die Aussagen bleiben damit eklektisch.

Tabelle 2: Thematisierung von internationalen Abkommen

Quelle: Wahlprogramme der Parteien [www.bundestagswahl-2021.de/wahlprogramme]. Anmerkungen: Häkchen: wird behandelt, ILO – Internationale Arbeitsorganisation, Mercosur – Wirtschaftsverbund südamerikanischer Staaten, EU – China Investitionsabkommen (CAI Comprehensive Agreement on Investment), CETA – Wirtschafts- und Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada.
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Wirtschaftspolitisch stehen zwei Optionen zur Wahl

Die Antworten auf die hier aufgeworfenen Fragen sind vielfältig. Insofern ist es eine sehr grobe Vereinfachung, nur zwei grundlegende Optionen zu unterscheiden Beide lassen Raum für Zwischenpositionen.

  • Erstens kann Deutschland so weitermachen wie bisher: Man versucht sich mit allen gut zu stellen, eine multilaterale Ordnung möglichst aufrecht zu erhalten und, konkret am Beispiel China, schwierige Themen eher leise anzusprechen, um den wirtschaftlichen Austausch nicht zu gefährden.
  • Zweitens kann man im Unterschied dazu, und eher auf der Linie der gegenwärtigen US-Regierung, den systemischen Konflikt mit Nicht-Demokratien betonen. Dies läuft in der Konsequenz auf eine zunehmende wirtschaftliche Entkoppelung hinaus, da man nicht an eine verlässliche wirtschaftliche Kooperation glaubt.

In jedem Fall kann Deutschland nicht alles bekommen: folgt man Strategie 1, dann geht man das Risiko der gegenseitigen Abhängigkeit und eventuellen Erpressung ein. Folgt man Strategie 2, dann verursacht dies erhebliche volkswirtschaftliche Kosten. Für alle Positionen „dazwischen“ gilt eine entsprechende Mischung aus Chancen und Risiken. Sie sind es wert, ausgelotet zu werden.infoVgl. z.B. Reinhard Bütikofer und Olaf in der Beek (2021), Neun Thesen von Grünen und FDP zum Umgang mit China, Tagesspiegel, 13.6.21 [online verfügbar]; Lisandra Flach (2021), Die EU braucht eine klare USA-China-Strategie, Wirtschaftsdienst, Vol. 101, Nr. 4, S. 4-5 [online  verfügbar].

Fazit: Die Parteien sollten die WählerInnen mehr über ihre Weltwirtschaftspositionen informie-ren

Vermutlich sind weltwirtschaftliche Themen nicht leicht zu verkaufen. Es wäre aber wichtig für die Zukunft Deutschlands, dass die Parteien dem Thema globalisierte deutsche Wirtschaft mehr Aufmerksamkeit widmen oder gegebenenfalls ihre Vorstellungen klarer formulieren. Die WählerInnen sollten erfahren können, welchen Kurs die Parteien hinsichtlich internationaler Wirtschaftsbeziehungen einschlagen werden.

Lukas Menkhoff

Senior Research Associate in der Abteilung Makroökonomie


Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/235921

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