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100 Prozent erneuerbare Energien für Deutschland: Koordinierte Ausbauplanung notwendig

DIW Wochenbericht 29/30 / 2021, S. 507-513

Leonard Göke, Claudia Kemfert, Mario Kendziorski, Christian von Hirschhausen

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  • Vollständig erneuerbare Energieversorgung in Deutschland ist möglich und sinnvoll, um Klimaschutzziele zu erreichen
  • Ausreichende Potenziale in 38 Planungsregionen und damit in allen Bundesländern
  • Koordinierte Ausbauplanung bei Erzeugung, Speichern und Infrastruktur notwendig
  • Einbindung in europäisches Stromnetz ist wichtig für Versorgungssicherheit, die auch bei 100 Prozent erneuerbaren Energien gewährleistet wäre
  • Perspektive einer Vollversorgung mit Erneuerbaren muss in Planung des gesamten Energiesystems und damit sowohl in deutsche als auch europäische Netzplanung eingehen

„Das Ausbautempo muss stark gesteigert werden, sowohl bei der Windenergie als auch bei der Solarenergie. Für eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien müssen wir die Rahmenbedingungen für alle Sektoren schaffen, nicht nur für Strom, sondern auch für Wärme und Mobilität. Dann könnte es sehr schnell gehen.“ Claudia Kemfert

Angesichts ambitionierter Klimaschutzziele und weiterer energie- und industriepolitischer Ziele wie dem Atomausstieg läuft die Energiewende in Deutschland auf eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien hinaus. Dieser Wochenbericht beschreibt erstmals Szenarien für eine zu 100 Prozent durch erneuerbare Energien gedeckte Versorgung in Deutschland im europäischen Kontext und zeigt, dass eine solche möglich und realistisch ist. Auch europaweit würden dann keine fossilen Energieträger oder Kernkraft mehr verwendet werden. Angesichts der verfügbaren Potenziale kann demnach nicht nur die Stromnachfrage, sondern die gesamte Energienachfrage hierzulande mit erneuerbaren Energien gesichert werden. Durch Elektrifizierung und Sektorenkopplung kommt es zu einem Anstieg der Stromnachfrage auf rund 1200 Terawattstunden, dies entspricht einer Verdopplung gegenüber dem Status quo. Gleichzeitig gibt es aber auch erhebliche Effizienzsteigerungen im Verkehrs- und im Wärmesektor. Durch die Berücksichtigung von Netzausbaukosten würden lastnahe Erzeugungsstrukturen im Vergleich zu heute gestärkt werden. Trotz stärker dezentraler Erzeugungs- und Speicherstrukturen bliebe die Einbindung in das europäische Stromnetz ein Garant für die Versorgungssicherheit. Die Perspektive einer Vollversorgung mit Erneuerbaren muss in die Planung des gesamten Energiesystems einbezogen werden, unter anderem durch 100-Prozent-Erneuerbare-Szenarien in der deutschen und europäischen Netzplanung.

Die verschärften Klimaschutzziele in Deutschland führen zu einer rasch ansteigenden Nutzung erneuerbarer Energien. Eine weitgehend erneuerbare Energieversorgung war von Anfang an, genauer gesagt seit den späten 1970er Jahren, ein wesentliches Ziel der Energiewende.infoVgl. Amory B. Lovins (1979): Soft Energy Paths: Towards a Durable Peace; sowie Florentin Krause, Hartmut Bossel und Karl-Friedrich Müller-Reissmann (1980): Energiewende: Wachstum und Wohlstand ohne Erdöl und Uran. Grundsätzlich wurde eine 100-Prozent-Stromversorgung durch erneuerbare Energien bereits vor über einem Jahrzehnt in einem Gutachten des Sachverständigenrats für UmweltfrageninfoSachverständigenrat für Umweltfragen (2011): Wege zur 100 Prozent erneuerbaren Stromversorgung. Sondergutachten, Januar 2011 (online verfügbar, abgerufen am 5. Juli 2021. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt). ausführlich dargestellt. Die Möglichkeit einer zu 100 Prozent erneuerbaren Strom- und Wärmeversorgung wurde durch ein Gutachten der Fraunhofer-GesellschaftinfoHans-Martin Henning und Andreas Palzer (2012): 100 Prozent Erneuerbare Energien für Strom und Wärme in Deutschland. Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE (online verfügbar). bestätigt. Seit diesen Veröffentlichungen hat der Umfang von Studien hierzu stark zugenommen.infoTom W. Brown et al. (2018): Response to ‘Burden of Proof: A Comprehensive Review of the Feasibility of 100 percent Renewable-Electricity Systems. Renewable and Sustainable Energy Reviews 92 (September), 834–847; Hans-Karl Bartholdsen et al. (2019): Pathways for Germany’s Low-Carbon Energy Transformation Towards 2050. Energies 12 (15), 2988; Claudia Kemfert, Christian Breyer, und Pao-Yu Oei (2019): 100 percent Renewable Energy Transition: Pathways and Implementation. Energies, Special Issue Introduction; sowie Pao-Yu Oei et al. (2020): Lessons from Modeling 100 percent Renewable Scenarios Using GENeSYS-MOD. Economics of Energy & Environmental Policy 9 (1). Durch das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Notwendigkeit einer konkreteren Ausgestaltung des KlimaschutzesinfoBundesverfassungsgericht (2021): Bundesverfassungsgericht – Presse – Verfassungsbeschwerden gegen das Klimaschutzgesetz teilweise erfolgreich. Pressemitteilung Nr. 31/2021 vom 29. April. sowie das anschließende Klimaschutzgesetz ist der Druck zum Ausbau erneuerbarer Energien in Deutschland weiter gestiegen. Dieser Wochenbericht fasst den Stand der Diskussion zusammen und beschreibt Szenarien für eine Vollversorgung Deutschlands mit erneuerbaren Energien durch die 38 Planungsregionen („NUTS-2“-Regionen) im europäischen Kontext. Dabei werden modellbasierte Szenarien beschrieben, in denen sowohl in Europa als auch in Deutschland ausschließlich erneuerbare Energien zum Einsatz kommen. Es wird die Bedeutung regionaler Potenziale und der Koordinierung von Erzeugungs- und Infrastrukturplanung hervorgehoben.infoDieser Wochenbericht basiert unter anderem auf der Studie von Mario Kendziorski et al. (2021): 100 Prozent erneuerbare Energie für Deutschland unter besonderer Berücksichtigung von Dezentralität und räumlicher Verbrauchsnähe – Potenziale, Szenarien und Auswirkungen auf Netzinfrastrukturen. DIW Politikberatung kompakt Nr. 167 (online verfügbar).

Szenarien berücksichtigen zu 100 Prozent erneuerbaren Erzeugungsmix in Deutschland und ganz Europa

Das Ziel der Klimaneutralität wurde sowohl in Deutschland als auch von der Europäischen Union (EU) verbindlich festgelegt. Um zudem die Pariser Klimaziele zu erreichen, wird der Anteil erneuerbarer Energien deutlich zunehmen müssen – eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien ist dafür am besten geeignet, da weder fossile Technologien mit derzeit unsicherer CO2-Abscheidung noch Kernkraft ökonomisch und ökologisch tragfähige Lösungen sind.infoVgl. Karlo Hainsch et al. (2020): Make the European Green Deal Real – Combining Climate Neutrality and Economic Recovery. DIW Politikberatung Kompakt Nr. 153 (online verfügbar). Die Szenarien berücksichtigen einen erneuerbaren Erzeugungsmix innerhalb ganz Europas, unter Berücksichtigung aller Sektoren wie Strom, Wärme und Transport (sogenannte Sektorenkopplung).

In einem ersten Schritt wird ein europäischer Dekarbonisierungspfad hin zu einem vollständig auf erneuerbaren Energien basierendem Energiesystem auf Ebene der Nationalstaaten berechnet. Sowohl die Daten für die angenommenen verfügbaren Mengen installierter Kapazität für erneuerbare Energien als auch die zugrunde gelegten Kosten beziehen sich auf das „openENTRANCE“-Projekt der EU.infoVgl. dazu Hans Auer et al. (2020): Quantitative Scenarios for Low Carbon Futures of the Pan-European Energy System. Deliverable 3.1 (online verfügbar, abgerufen am 23. Juni 2021). Die Energieerzeugung ist darin durch erneuerbare Technologien geprägt: Photovoltaik (PV) und Wind an Land sowie länderabhängig Wind auf See. In den mittig und südlich gelegenen Ländern Europas wird die Stromerzeugung hauptsächlich durch PV-Anlagen sichergestellt, während weiter nördlich der Anteil von Wind zunimmt. Überall werden anteilig Batteriespeicher, Elektrolyseure und Wasserstoffturbinen gebaut, um genügend Flexibilität zu gewährleisten.

Im nächsten Schritt werden Investitionsentscheidungen für die europäischen Länder (außer für Deutschland) fixiert und als Eingangsgrößen für den nächsten Modellierungslauf verwendet. Deutschland wird nun nicht mehr als eine große Region betrachtet, sondern durch 38 Regionen repräsentiert, die eine detailliertere dezentrale Abbildung erlauben. Die übrigen europäischen Länder können ihre Speichernutzung optimieren, die Investitionsentscheidung wird aber nicht mehr verändert. So ist die europäische Dimension und die damit verbundene Flexibilität berücksichtigt. Wichtige Parameter wie die Strom- und Wärmenachfrage oder die Einspeisezeitreihen von volatilen Erneuerbaren wie Wind- und Photovoltaikanlagen unterscheiden sich so räumlich auf einer stärker granularen Ebene (Kasten).

Die Berechnungen beruhen auf dem an der Technischen Universität Berlin entwickelten Energiesystemmodell AnyMOD, das sowohl das europäische als auch das deutsche Energiesystem mit einer hohen zeitlichen Auflösung berechnet und Investitionsentscheidungen in Erzeugungs-, Umwandlungs- und Speichertechnologien sowie den Netzausbau optimiert.infoVgl. Leonard Göke (2020): AnyMOD – A graph-based framework for energy system modelling with high levels of renewables and sector integration. Archive (online verfügbar, abgerufen am 21. Juni 2021). Bei einer gegebenen Stromnachfrage sowie der Berücksichtigung exogen vorgegebener Bedarfe der an den Stromsektor angrenzenden Sektoren, beispielsweise die Verkehrsnachfrage oder die stoffliche Nachfrage im Industriesektor, ermittelt das Modell einen kostenoptimalen Erzeugungsmix: Die Investitionen sowie die variablen und fixen Kosten in Erzeugungs-, Speicher- und Netzinfrastruktur werden unter Einhaltung der Nebenbedingungen, etwa Potenzialobergrenzen von Technologien auf Basis verfügbarer Flächen, minimiert. Darüber hinaus erfolgt eine Regionalisierung des Angebots und der Nachfrage auf Ebene der 38 Regionen. Das bereits existierende Netz für Strom und Gas ist auf Ebene der Nationalstaaten beziehungsweise für Deutschland auf Ebene der 38 Regionen als Startnetz hinterlegt. Das Gasnetz kann durch zusätzliche Investitionen für den Transport von Wasserstoff genutzt werden. Die Austauschkapazitäten zwischen den europäischen Ländern entsprechenden den Projekten des TYNDP, die bis 2025 abgeschlossen sein werden.

Die aus der Dekarbonisierung aller Energiesektoren entstehende zusätzliche Nachfrage wird in dem verwendeten Modell berücksichtigt. Dadurch umfasst diese Studie nicht nur den Stromsektor, sondern schließt den Wärme-, Industrie- und Verkehrssektor mit ein. Zusätzlich gibt es eine stoffliche Nachfrage nach Wasserstoff und Methan aus der Industrie oder schwer zu elektrifizierenden Sektoren.

Ein Großteil dieser Nachfrage muss über die Stromerzeugung gedeckt werden, da die Menge von Biomasse limitiert ist und keine Importe von Wasserstoff oder anderen Energieträgern von außerhalb der EU möglich sind. Die Nachfrage nach Strom wird stündlich, die nach Raum- und Industriewärme sowie der Verkehr in Vier-Stunden-Blöcken und die Nachfrage nach Wasserstoff und synthetischem Gas im Modell täglich bilanziert. So besteht die Möglichkeit, die Stromnachfrage aus den an den Stromsektor angrenzenden Bereichen zu verschieben und so die Flexibilität, die durch die Sektorenkopplung besteht, mit abzubilden. Das Modell hat zudem die Option, in diverse Speichertechnologien zu investieren: Zum einem gibt es Batteriespeicher, die Strom effizient für einen kürzeren Zeitraum speichern können, und zum anderen Speicher, die über die Elektrolyse von Strom zu Wasserstoff eine Möglichkeit eröffnen, Energie über einen längeren Zeitraum zu speichern. Weitere Speichertechnologien sind Pumpspeicher, die allerdings auf den heutigen Bestand limitiert sind, und Druckluftspeicher, die in der Regel weniger kosteneffizient sind als eine Kombination aus Batterie- und Wasserstoffspeicherung. Regionale Nachfrage und Einspeisezeitreihen sorgen für eine detaillierte Abbildung des regionalen Erzeugungsprofils.

Für die Ausgestaltung des Energiesystems stehen verschiedene Technologien zur Verfügung. Ein wesentlicher Bestandteil sind dabei Windkraft an Land und auf See sowie Photovoltaik als Freiflächen- und Aufdachanlagen, die Primärenergie in Form von Strom produzieren. Als zu befriedigende Nachfrage gibt es die konventionelle Stromnachfrage, Raumwärme, Prozesswärme (hauptsächlich Industrie), Mobilität und Nachfrage nach Methan und Wasserstoff (beispielsweise für den Flug- und Schiffsverkehr). Ein Austausch von Wasserstoff oder synthetischen Energieträgern innerhalb Europas kann stattfinden, Importe von außerhalb des Kontinents werden aber nicht berücksichtigt. Verwendet wird für diesen Bericht eine Kombination aus jüngeren Potenzialschätzungen: Die Obergrenze für Wind an Land liegt bei 223 Gigawatt (GW) installierter Leistung, das Potenzial für Wind auf See beträgt 80 GW und die Obergrenze für PV-Aufdach- und Freiflächenanlagen liegt bei 900 beziehungsweise 226 GW.infoFür die Wind-an-Land-Potenziale vgl. Thorsten Burandt, Konstantin Löffler und Karlo Hainsch (2018): GENeSYS-MOD v2.0 – Enhancing the Global Energy System Model. DIW Data Documentation Nr. 94 (online verfügbar). Die PV-Potentiale orientieren sich an Harry Wirth (2021): Aktuelle Fakten zur Photovoltaik in Deutschland. Fraunhofer ISE (online verfügbar, abgerufen am 10. März 2021). Diese wurden mithilfe einer GIS-Analyse auf die einzelnen Regionen verteilt und zusätzlich in gute, durchschnittliche und schlechtere Standorte eingeteilt.

Energienachfrage rückläufig, aber Stromnachfrage steigt durch Sektorenkopplung

Die Entwicklung der zukünftigen Energienachfrage unterliegt einer Vielzahl von Unsicherheiten, zum Beispiel dem Grad der Sektorenkopplung, der Entwicklung von Umwandlungswirkungsgraden und weiteren Energienutzungen sowie Verhaltensanpassungen (Suffizienz). Insgesamt ist abzusehen, dass es durch einen Trend zur Elektrifizierung zu Effizienzgewinnen kommt, etwa durch den Einsatz von Wärmepumpen oder die Elektromobilität, sodass die gesamte Energienachfrage im Energiesystem im Vergleich zum heutigen System reduziert wird. Der Trend zur Sektorenkopplung wird in einer Vielzahl aktueller Studien zur Energiewende belegt.infoVgl. Prognos, Öko-Institut und Wuppertal-Institut (2021): Klimaneutrale Deutschland 2045. Wie Deutschland seine Klimaziele schon vor 2050 erreiche kann. Agora Energiewende; Frank Sensfuß et al. (2021): Langfristszenarien für die Transformation des Energiesystems in Deutschland 3 (online verfügbar); und Wolf-Peter Schill (2020): Electricity Storage and the Renewable Energy Transition. Joule, August, 2059–2064.

Die aus der europäischen Energiesystemmodellierung abgeleitete Stromnachfrage für Deutschland liegt bei 1070 Terawattstunden (TWh). Sie setzt sich zusammen aus 300 TWh konventioneller Stromnachfrage, 91 TWh Raumwärme, 223 TWh im Verkehrsbereich und 456 TWh in der Industrie (Abbildung 1). Zusätzlich gibt es noch eine exogene Nachfrage nach Wasserstoff und synthetischem Gas in Höhe von jeweils 134 TWh und fünf TWh aus Bereichen, die sich nur schwer elektrifizieren lassen, zum Beispiel der Flug- und Schiffsverkehr, bestimmte Prozesse in der Industrie oder die stoffliche Verwendung in Umwandlungsprozessen. Die gesamte Energienachfrage, die das Modell befriedigen muss, liegt damit bei 1209 TWh. Zum Vergleich: 2018 lag der Endenergieverbrauch bei 2589 TWh.

Integriertes Szenario führt zu kostenoptimalem erneuerbarem Energiesystem

Die im Kontext der Nachhaltigkeitsziele angestrebte Dekarbonisierung impliziert nicht nur eine Umstrukturierung der Energieversorgung im Sinne der verwendeten Technologien, sondern auch in ihrer räumlichen Struktur. Anders als bei konventionellen Erzeugern hängen Kosten und Potenziale von Wind- und Solaranlagen stark von ihren Standorten ab. Die Analyse der Beziehung zwischen Raumstruktur der Erzeugung, Flexibilitätsoptionen und Regionalität erfolgt in zwei Szenarien:

Im ersten Fall werden nur die Erzeugungstechnologien sowie Speichertechnologien gesetzt; dies geschieht unter der Annahme, dass es keine Netzengpässe gibt. Dieses Verfahren repräsentiert grob den aktuellen Planungsprozess des Netzentwicklungsplans. Dadurch werden Anlagen eher so platziert, dass diese den höchstmöglichen Ertrag bringen, da die zu überbrückende Distanz zu den VerbraucherInnen nicht eingepreist wird. Dadurch entsteht ein erhöhter Netzausbaubedarf (im Folgenden wird diese Variante „desintegriert“ genannt). Die zweite Variante betrachtet die Investition in den Netzausbau und in die Erzeugungs- und Speicherkapazitäten gemeinsam (genannt „integriert“). Dadurch ergibt sich eine Abwägung zwischen dem höchsten Ertrag und den dafür notwendigen Netzausbaukosten. In einem derartigen Verfahren spielt auch die räumliche Komponente eine Rolle, da ein Standort nahe am Verbrauch zusätzlichen Netzausbau verringern kann.

In beiden Szenarien lässt sich ein komplett auf erneuerbaren Energien basierendes System stündlich berechnen. In beiden Varianten der Netzplanung dominiert eine Kombination aus Wind an Land und Solar-PV (Freifläche und Aufdach-Anlagen) den Erzeugungsmix (Abbildung 2). Im desintegrierten Ansatz kommt Wind auf See („Offshore“) als zentrale Großanlage hinzu; hierfür wird mehr Infrastruktur benötigt, stattdessen gibt es deutlich weniger PV-Ausbau. Im Gegensatz dazu werden im Szenario „integriert“ mehr Solaranlagen in den Regionen geplant und der erzeugte Strom stärker vor Ort verbraucht.

Alle Regionen haben Potenziale für erneuerbare Energien

Im Folgenden wird die regionale Verteilung von Wind- und PV-Anlagen sowie weiterer Anlagen im integrierten Szenario betrachtet (Tabelle). Mit Blick auf die Windanlagen gibt es einen großen Zubaubedarf insbesondere im Süden Deutschlands. Durch die gleichgewichtete Abwägung zwischen zusätzlichen Investitionen in Netzausbau, PV-Anlagen oder Windanlagen, selbst wenn diese an Standorten mit niedrigeren Volllaststunden stehen, erfolgt ein erhöhter Zubau von PV-Anlagen und Windanlagen, der auch mit der höheren Nachfrage übereinstimmt. Da in der Modellierung nicht nur der klassische Stromsektor, sondern auch die angrenzenden Sektoren, die künftig mehr Strom nachfragen, abgebildet werden, steigt der Wert der lokalen Erzeugung obendrein, da die zusätzliche Nachfrage aufgrund von Elektromobilität und Raumwärme direkt vor Ort anfällt.

Tabelle: Regionale Verteilung von Erzeugungs- und Speicheranlagen im Szenario „integriert“

In Gigawatt

Bundesland Wind an Land Photovoltaik Elektrolyseure Wasserstoffturbinen Batterien
Baden-Württemberg 16,1 44,3 7,6 11,0 3,5
Bayern 39,8 67,1 14,8 15,4 9,3
Brandenburg 17,7 21,2 6,6 5,5 1,6
Hessen 11,1 12,3 3,7 5,9 0,3
Mecklenburg-Vorpommern 16,0 18,4 9,1 3,2 1,0
Niedersachsen 35,1 40,3 10,2 19,2 3,3
Nordrhein-Westfalen 20,4 25,1 9,0 7,3 2,6
Rheinland-Pfalz 11,0 16,1 2,8 4,4 1,3
Saarland 1,3 1,7 0,9 1,1 0,3
Sachsen 10,7 12,8 3,7 3,7 0,5
Sachsen-Anhalt 19,4 23,0 7,4 6,2 1,5
Schleswig-Holstein 12,4 15,7 6,2 6,2 1,3
Thüringen 6,9 8,0 0,9 3,0 0,1

Anmerkung: Die Bundesländer Berlin, Hamburg und Bremen wurden Brandenburg, Schleswig-Holstein und Niedersachen zugerechnet.

Quelle: Eigene Berechnungen.

Auch die Erzeugung von Wasserstoff, der sowohl zur saisonalen Speicherung benötigt als auch in anderen Sektoren verwendet wird, erfolgt eher regional. Im desintegrierten Szenario, in dem viele Windanlagen auf See zugebaut werden, konzentriert sich die installierte Kapazität von Elektrolyseuren zwar im Norden – aber auch im Rest des Landes gibt es Elektrolyseure, um überschüssige Produktion aus den erneuerbaren Energien abzuschöpfen. Mit niedrigeren installierten Leistungen von Windkraft auf See im integrierten Szenario gibt es keine Konzentration von Elektrolyseuren an einem Ort mehr.

Die Modellergebnisse bestätigen auch die Vermutung, dass die Berücksichtigung von Infrastrukturkosten zu lastnäherer Erzeugung und geringerem Netzinfrastrukturausbaubedarf führt. Der integrierte Ansatz führt zu einer stärkeren regionalen Gleichverteilung von Erzeugung und Verbrauch. Die integrierte Optimierung unter Berücksichtigung der Infrastrukturkosten führt zu einer ausgeglicheneren Austauschbilanz. Das Nord-Süd-Gefälle ist im desintegrierten Szenario stärker ausgeprägt, während im integrierten Szenario fast alle Regionen bilanziell näher an der Selbstversorgung sind.

Versorgungssicherheit auch bei Vollversorgung mit erneuerbaren Energien gewährleistet

Auch in einem zu 100 Prozent auf erneuerbaren Energien basierendem System ist die stündliche Versorgungssicherheit des Systems gewährleistet. Dabei spielt die Einbindung in das Verbundsystem mit den Nachbarländern eine wichtige Rolle, wie sich beispielhaft an der Stromerzeugung und dem Stromverbrauch für den Zeitpunkt niedrigster Einspeisung von Wind und PV im Winter im Szenario „integriert“ zeigen lässt (Abbildung 3). Der Großteil der Stromerzeugung kommt aus den Windrädern an Land und wird durch Einspeisemengen von PV-Anlagen mittags ergänzt. Wenn die Winderzeugung niedrig ist, wird die Nachfrage, wenn möglich, verschoben und auf der Erzeugungsseite durch Batteriespeicher, Wasserstoffturbinen sowie Importen aus den Nachbarländern unterstützt. Während die Einspeisung der Windenergie hoch ist, werden alle möglichen zu bedienenden Nachfragen gedeckt (zum Beispiel für die Elektromobilität oder in der Industrie) und Batterien geladen, um so einen Puffer zu schaffen. In diesen Stunden wird auch ein Teil des produzierten Stroms in die Nachbarländer exportiert.

100-Prozent-Erneuerbare-Szenarien bei Netzplanung berücksichtigen

Die verschärften Klimaschutzziele sowie die Beschleunigung des Ausbaus erneuerbarer Energien wirken sich auch auf die Infrastrukturplanung aus. Zwar werden seit dem Szenariorahmen für die Stromnetzplanung 2015 explizit CO2-Ziele in die Bedarfsplanung aufgenommen.infoVgl. Robert Mieth et al. (2015): Stromnetze und Klimaschutz: Neue Prämissen für die Netzplanung. DIW Wochenbericht Nr. 6, 91–96 (online verfügbar). Jedoch berücksichtigt die Netzplanung derzeit weder in Deutschland noch auf europäischer Ebene die Möglichkeit einer Vollversorgung mit erneuerbaren Energien. So baut der Netzentwicklungsplan in Deutschland auf einem nach wie vor hohen und teilweise sogar steigenden Anteil fossiler Erdgasverstromung auf. Daher sollte der Szenariorahmen, der dem nächsten Netzentwicklungsplan Strom zugrunde liegt, 100-Prozent-Erneuerbare-Szenarien enthalten. Dies wird auch in anderen Kommentaren zum Netzentwicklungsplan vorgeschlagen.infoVgl. Franziska Flachsbarth et al. (2021): Kommentierung des ersten Entwurfs des Netzentwicklungsplans Strom 2035 (Version 2021). Öko-Institut (online verfügbar, abgerufen am 21. Juni 2021) Mittelfristig ist eine Koordinierung aller Netzplanungen von Strom, Erdgas und Wasserstoff anzustreben.infoVgl. Sachverständigenrat für Umweltfragen (2021): Wasserstoff im Klimaschutz: Klasse statt Masse. Stellungnahme (online verfügbar, abgerufen am 21. Juni 2021).

Besonders dringend ist die Anpassung der Infrastrukturplanung auf europäischer Ebene. Derzeit beinhalten die Zehn-Jahres-Entwicklungspläne der Europäischen Union (TYNDP, „Ten-Year Network Development Plan“) hohe Mengen an fossiler Kohle und Erdgas sowie erhebliche Mengen an Kernkraft.infoEntsog und Entso-E (2019): TYNDP 2020 Scenario Report (online verfügbar, abgerufen am 21. Juni 2021). Ansätze zu einer nachhaltigen Ausrichtung der Infrastrukturplanung liegen inzwischen im Kontext des Pilotprojekts PAC (Paris-kompatible Infrastrukturszenarien) vor, die bis 2040 eine fast ausschließlich erneuerbare Energieversorgung vorschlagen.infoVgl. CAN Europe und EEB (2020): Paris Agreement Compatible (PAC) – Scenarios for Energy Infrastructure (online verfügbar, abgerufen am 21. Juni 2021). Im nächsten Schritt sollten diese Szenarien auf die Planung europaweiter Infrastrukturen angewendet werden.

Fazit: Nutzung ausschließlich erneuerbarer Energien ist möglich und sicher

Eine gesamtwirtschaftlich kostengünstige Einhaltung der Klimaschutzziele erfordert eine zu 100 Prozent erneuerbare Energieversorgung in Deutschland. In diesem Wochenbericht wurde gezeigt, dass ein vollständig auf erneuerbaren Energien basierendes Energiesystem in der gesamten Europäischen Union, in Deutschland und auch auf Ebene aller 38 Planungsregionen möglich ist. Außereuropäische Importe von Wasserstoff, bei denen auf absehbare Zeit auch fossile Energieträger genutzt werden, sind nicht notwendig. Die vorhandenen Potenziale in den Planungsregionen Deutschlands sind ausreichend, müssen jedoch wesentlich aktiver erschlossen werden.

Auch bei einer vollständig erneuerbaren Energieversorgung wäre die stündliche Versorgungssicherheit des Systems gewährleistet, sofern Flexibilitätsoptionen genutzt werden. Hierzu gehört auch die Einbindung Deutschlands in das Verbundnetz, das den Export von Strom bei Überschuss beziehungsweise auch den Import zur Deckung der Nachfrage gewährleistet.

Die Perspektive einer Vollversorgung durch erneuerbare Energien muss in die Planung des gesamten Energiesystems einbezogen werden. Dies bezieht sich sowohl auf die Anordnung von Erzeugungs- und Speicheranlagen als auch auf die Netzinfrastruktur. Der Szenariorahmen für den Netzentwicklungsplan Strom sollte in der nächsten Fassung 100-Prozent-Erneuerbare-Szenarien beinhalten. Auch europaweit ist die Umstellung von fossilen Kraftwerken und von Kernkraftwerken auf erneuerbare Energien wichtig. Daher ist gerade auf europäischer Ebene die Anpassung der laufenden Zehn-Jahres-Entwicklungspläne besonders dringend, da diese nach wie vor erhebliche fossile Kapazitäten und Kernkraft vorsehen.

Claudia Kemfert

Abteilungsleiterin in der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt



JEL-Classification: Q54;L94
Keywords: Renewable energy, sector coupling, energy planning
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2021-29-1

Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/242058

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