DIW Wochenbericht 47 / 2021, S. 767-774
Mario Kendziorski, Claudia Kemfert, Fabian Präger, Christian von Hirschhausen, Robin Sogalla, Björn Steigerwald, Ben Wealer, Richard Weinhold, Christoph Weyhing
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„Die Abschaltung der letzten sechs Kernkraftwerke beendet einen historischen Versuch mit einer gefährlichen und teuren Energiequelle in Deutschland. Eine Beeinträchtigung der Versorgungssicherheit ist nicht zu erwarten. Der Fokus muss jetzt auf die nächsten Schritte der Atomwende gerichtet werden, vor allem die sichere Endlagerung von radioaktiven Abfällen.“ Christian von Hirschhausen
Mit der Abschaltung der verbleibenden sechs Kernkraftwerke geht die kommerzielle Nutzung zur Stromerzeugung in Deutschland 2022 zu Ende. Angesichts ausreichender Kapazitäten – 2020 exportierte die deutsche Stromwirtschaft mit 20 Terawattstunden ungefähr vier Prozent ihrer Stromproduktion – und der Einbindung in das europäische Stromsystem sind keine Beeinträchtigungen der Versorgungssicherheit zu befürchten. Auch die Auswirkungen auf Stromflüsse und lokale Angebots- und Nachfragesituationen werden nach Modellrechnungen gering bleiben. Die Abschaltung der noch laufenden Kernkraftwerke ist auch eine notwendige Bedingung für die Akzeptanz der Endlagerung radioaktiver Abfälle, welche nach mehreren erfolglosen Anläufen mit dem Standortauswahlgesetz von 2017 nunmehr konkret auf der Tagesordnung steht und bis 2031 entschieden werden soll. Weitere Schritte der Atomwende beinhalten die Streichung von bestehenden und die Vermeidung neuer Subventionen.
Entsprechend der 13. Novelle des Atomgesetzes 2011 gehen Ende des Jahres 2021 die Kernkraftwerke Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen C mit insgesamt etwa 4 Gigawatt (GW) Nettoleistung vom Netz.Deutscher Bundestag (2011): Dreizehntes Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes. G5702, Teil I, Nr. 43. Bundesgesetzblatt (online verfügbar, abgerufen am 3. November 2021. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt). Ende 2022 folgt die Schließung der drei verbleibenden Kraftwerke in Neckarwestheim, Isar 2 sowie Emsland mit zusammen etwa 4 GW. Insgesamt handelt es sich damit um eine Kraftwerksleistung von 8 GW. Mit dieser Leistung wurden 2020 11,3 Prozent der deutschen Stromerzeugung erzeugt.Siehe AG Energiebilanzen (2021): Stromerzeugung nach Energieträgern 1990–2020 (online verfügbar).
Die kommerzielle Kernkraft wurde in der Nachkriegszeit in der Hoffnung entwickelt, neben der militärischen Nutzung auch eine friedliche Nutzung zur Stromerzeugung zu ermöglichen.Joachim Radkau und Lothar Hahn (2013): Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft, München. Allerdings ist die Kernkraft niemals in den Bereich wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit vorgedrungen.Siehe die Analysen von Fritz Baade (1958): Welt-Energiewirtschaft: Atomenergie – Sofortprogramm oder Zukunftsplanung, Kapitel 4. Hamburg; Lucas W. Davis (2012): Prospects for Nuclear Power. Journal of Economic Perspectives 26 (1), 49–66, (online verfügbar); sowie Ben Wealer et al (2021): Investing into third generation nuclear power plants – Review of recent trends and analysis of future investments using Monte Carlo Simulation. Renewable and Sustainable, Energy Reviews 143 (online verfügbar). Insbesondere ist der Übergang zur schnellen Brütertechnologie, auf der die ursprünglichen Hoffnungen für eine wirtschaftliche Nutzung beruhten, nicht zustande gekommen.Joachim Radkau (1983): Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945-1975: Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Kontroverse. Reinbek bei Hamburg. Daher ist der Bau von Kernkraftwerken in Deutschland nach einer ersten Phase der Euphorie bereits in den 1980er Jahren zum Stillstand gekommen (Abbildung 1). Der Atomkompromiss zum Ende der kommerziellen Nutzung der Kernenergie aus dem Jahr 2002 wurde nach erheblichen Auseinandersetzungen und der kurzzeitigen Laufzeitverlängerung 2011 bestätigt und konkrete Abschaltdaten für Kernkraftwerke vorgegeben.
Bisher hatte die Abschaltung von Kernkraftwerken in Deutschland keine wesentlichen Auswirkungen auf die Stromflüsse und die Versorgungssicherheit.Siehe Friedrich Kunz et al. (2011): Security of Supply and Electricity Network Flows after a Phase-out of Germany’s Nuclear Plants: Any Trouble ahead? RSCAS Working Papers (online verfügbar); sowie die spätere Veröffentlichung von Friedrich Kunz und Hannes Weigt (2014): Germany’s Nuclear Phase Out – A Survey of the Impact since 2011 and Outlook to 2023. Economics of Energy & Environmental Policy 3 (2): 13–27 (online verfügbar). Zu Fragen der Versorgungssicherheit siehe Friedrich Kunz et al. (2013): Mittelfristige Strombedarfsdeckung durch Kraftwerke und Netze nicht gefährdet. DIW Wochenbericht Nr. 48, 25-37 (online verfügbar) sowie zu den Effekten der Abschaltung des Kernkraftwerks Grafenrheinfeld 2015 Christian von Hirschhausen et al. (2015): Atomausstieg geht in die nächste Phase: Stromversorgung bleibt sicher – Große Herausforderungen und hohe Kosten bei Rückbau und Endlagerung. DIW Wochenbericht Nr. 22, 523–531 (online verfügbar). Dies gilt selbst für die Abschaltung von sechs älteren Kernkraftwerken im März 2011, bei der der Strompreis nach einem kurzen Anstieg von einigen Euro pro Megawattstunde (MWh) wieder auf sein ursprüngliches Niveau zurückfiel. Zudem zeigen kürzlich veröffentlichte Studien, dass der Ausbau erneuerbarer Energieträger kostengünstiger als der Ausbau der Atomenergie ist.Siehe Behrang Shirizadeh, und Philippe Quirion (2021): Low-Carbon Options for the French Power Sector: What Role for Renewables, Nuclear Energy and Carbon Capture and Storage? Energy Economics 95 (online verfügbar). Dies beruht nicht zuletzt auf der mangelnden Zuverlässigkeit von Kernkraftwerken, die den Betrieb aufgrund von regelmäßigen Brennstoffwechseln oder technischen Problemen unterbrechen müssen.Siehe Ben Wealer et al. (2021): Zehn Jahre nach Fukushima – Kernkraft bleibt gefährlich und unzuverlässig. DIW Wochenbericht Nr. 8, 107-115 (online verfügbar).
Mit der Abschaltung der letzten sechs Kernkraftwerke werden zwar Risiken dieser Technologie für Mensch und Umwelt in Deutschland reduziert, jedoch ist der „Atomausstieg“ noch lange nicht beendet. Es verbleiben vielmehr nukleare Risiken, die weitere konsequente Schritte erfordern, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa und weltweit. Diese Schritte werden vom Bundesumweltministerium in 12 konkreten Aktionen eingefordert.Siehe Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (2021): 12 Punkte für die Vollendung des Atomausstiegs – die Position des Bundesumweltministeriums. Positionspapier. Berlin (online verfügbar). Vor allem ist das Ende der Kernkraft eine Bedingung dafür, gesellschaftliche Akzeptanz für die Entsorgung hochradioaktiver Abfälle zu erreichen. Nach dem Standortauswahlgesetz soll bis zum Jahr 2031 die Entscheidung für einen Endlagerstandort getroffen werden, dessen rasche Umsetzung im Sinne der gesamten Bevölkerung ist, insbesondere der Menschen, die heute in der Nähe von Zwischenlagern leben.Deutscher Bundestag (2017): Gesetz zur Fortentwicklung des Gesetzes zur Suche und Auswahl eines Standortes für ein Endlager für Wärme entwickelnde radioaktive Abfälle und anderer Gesetze. G5702, Teil I, Nr. 26. Bundesgesetzblatt (online verfügbar).
Für die kurzfristige Analyse wird vereinfachend von einer gleichzeitigen Abschaltung aller sechs verbleibenden Kernkraftwerke ausgegangen (Abbildung 2) und untersucht, welche Stromflüsse mit welchen anderen Energieträgern zu erwarten sind. Dabei wird das Strommarkt- und Netzmodell POMATO (Power Market Modeling Tool) verwendet, welches den deutschen und den europäischen Strommarkt mit sehr großer Detailtiefe abbildet (Kasten).
Das Strommarktmodell POMATORichard Weinhold und Robert Mieth (2020): Power Market Tool (POMATO) for the Analysis of Zonal Electricity Markets. TU Berlin (online verfügbar); Richard Weinhold (2021): Evaluating Policy Implications on the Restrictiveness of Flow-based Market Coupling with High Shares of Intermittent Generation: A Case Study for Central Western Europe. TU Berlin (online verfügbar). findet stündlich die kostenminimale Kombination von Erzeugungskapazitäten zur Bedienung der Stromnachfrage. Der resultierende Kraftwerkseinsatz muss zusätzlich technischen Nebenbedingen gerecht werden. Insbesondere werden Speichernutzung, Wärmenachfrage, Stromaustausche mit Nachbarländern und variierende Verfügbarkeiten von erneuerbaren Erzeugern in hohem Detailgrad berücksichtigt.
Die Modellrechnungen setzen sich, entsprechend den realen Marktbedingungen, aus zwei Schritten zusammen. Im ersten Schritt wird das Angebot entsprechend der Nachfrage bestimmt, wobei die Erzeugungskapazitäten außerhalb Deutschlands an einzelnen Knoten aggregiert werden. Hierbei werden ausschließlich Transportkapazitäten (Net Transfer Capacities) zwischen benachbarten Marktgebieten berücksichtigt. Im zweiten Schritt findet das Engpassmanagement statt, welches den Kraftwerkseinsatz so anpasst, dass alle Leistungsflüsse innerhalb der für einen sicheren Netzbetrieb zulässigen Parameter liegen. Anders als im realen Prozess des Engpassmanagements werden erneuerbare Energien simultan berücksichtigt, was tendenziell zu einer Unterschätzung der notwendigen Anpassungen führt.
Der Strommarkt sowie das Engpassmanagement werden für ein gesamtes Jahr in stündlicher Auflösung modelliert. Als Wetterjahr für Last und Verfügbarkeiten von Erzeugung aus Wind und PV dient 2019.
Im Referenzszenario sind die sechs verbliebenen Kraftwerke noch vorhanden, während sie im Szenario ohne Kernkraft abgeschaltet sind. Durch den Vergleich der beiden Szenarien werden Effekte auf Netzflüsse und Marktergebnisse deutlich.
Nach dem Abschalten der letzten Kernkraftwerke sind ausreichende Kapazitäten aus fossilen und erneuerbaren Energien vorhanden, um die Jahreshöchstlast von knapp 80 GW zu bedienen.Für die installierte Leistung basieren die Daten auf Bundesnetzagentur (2021): Installierte Erzeugungsleistung. SMARD Strommarktdaten. Für die Jahreshöchstlast siehe Bundesverband der Energie und Wasserwirtschaft (2020): Jahresvolllaststunden 2019/2020 (online verfügbar). Im Jahr 2020 betrug die Nettostromerzeugung durch Kernkraftwerke 60,9 Terawattstunden (TWh), was einer Auslastung von 87 Prozent entsprach.Siehe Fraunhofer-ISE Energy Charts (2021) (online verfügbar). Diese Menge muss durch andere Energieträger oder Importe aufgefangen werden.
Welche Energieträger im Strommarkt eingesetzt werden, richtet sich nach den jeweiligen Kosten für die Produktion zusätzlichen Stroms (inkrementelle Kosten) sowie den vorhandenen Kapazitäten (Abbildung 3). Da erneuerbare Energien geringere inkrementelle Kosten als die Kernkraft haben, hat die Abschaltung der Kernkraft einen nur geringen Effekt auf diese Energien. Kernkraft wird hauptsächlich durch fossile Energieträger und steigende Importe ersetzt. Die Importe erhöhen sich um ungefähr 15 TWh.
Insgesamt führt dies zu einem Anstieg der CO2 Emissionen in Deutschland um ungefähr 40 Mio. Tonnen. Dieser Wert bildet tendenziell eine obere Grenze ab, da in den Modellrechnungen weitere Veränderungen im Stromsystem nicht berücksichtigt werden.Robin Sogalla et.al. (mimeo): The effect of Germany’s nuclear phaseout on CO 2 emissions: A theoretical decomposition analysis. Im Kontext des europäischen CO2-Emissionshandelssystems bleiben die Gesamtemissionen sogar konstant. Die steigenden Emissionen im deutschen Stromsektor werden durch einen Emissionsrückgang in anderen Ländern und anderen Sektoren kompensiert; gleichzeitig steigt dadurch der CO2-Zertifikatepreis leicht an.
Aus dem veränderten Einsatz der fossilen Energieträger und den zusätzlichen Importen ergeben sich bei einem Abschalten der Kernkraft auch andere Stromflüsse. Um den Netzbetrieb dennoch stabil zu halten, müssen Kraftwerkseinspeisungen regional gesenkt oder erhöht werden (Engpassmanagement). Im Referenzszenario werden 14 TWh elektrische Energie für das Engpassmanagement aufgewendet, was dem von der Bundesnetzagentur im Jahr 2019 gemessenen Wert annähernd entspricht (Abbildung 4).Siehe Bundesnetzagentur (2020): Monitoringbericht 2019. Bonn (online verfügbar). Zwischen 2016 und 2020 schwankte das Niveau zwischen 11 TWh und dem Maximum von 18 TWh. Im atomkraftfreien Szenario steigt das Volumen auf 18 TWh und liegt damit am oberen Rand der Schwankungsbreite der letzten Jahre.Siehe Bundesnetzagentur a.a.O.
Die Maßnahmen des Engpassmanagements sind regional unterschiedlich. Im Referenzszenario müssen Kraftwerke im Westen und Süden Deutschlands ihre Erzeugung steigern und im Osten senken, um für einen stabilen Netzbetrieb zu sorgen. Im Szenario ohne Kernkraft muss die Leistung im Westen zusätzlich erhöht und im Osten zusätzlich gesenkt werden (Abbildung 5).
In der langen Frist, das heißt, jenseits von 2030, ist die Versorgungssicherheit durch eine vorausschauende Erzeugungs- und Netzplanung gesichert. Deutschland hat sich auf die Umstellung zur klimaneutralen Energieversorgung bis 2045 bekannt; dabei stehen der Ausbau von erneuerbaren Energien sowie der Verzicht auf fossile Energieträger und Kernkraft im Mittelpunkt des Prozesses.Deutscher Bundestag (2021): Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Klimaschutzgesetzes. Bundestags-Drucksache 19/30230 (online verfügbar). In diesem Prozess kommt es zu einer weitgehenden Elektrifizierung auch des Verkehrs- und Wärmesektors bzw. langfristig auch des Industriesektors (oft als Sektorenkopplung bezeichnet), sodass der Stromverbrauch ansteigt. Diesem Trend kann durch Effizienzstrategien teilweise entgegengewirkt werden. Mehrere aktuelle Studien zeigen, dass eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien möglich ist und auch den ansteigenden Stromverbrauch abdecken kann.Wuppertal Institut (2020): CO2-neutral bis 2035: Eckpunkte eines deutschen Beitrags zur Einhaltung der 1,5-°C-Grenze (online verfügbar); Agora Energiewende, Prognos, Öko-Institut, und Wuppertal-Institut (2021): Klimaneutrales Deutschland 2045: Wie Deutschland seine Klimaziele schon vor 2050 erreichen kann (online verfügbar).
Eigene Rechnungen mit dem Energiesystemmodell AnyMOD, das ein stündliche Abbildung des Stromsektors bei zeitgleicher Optimierung der Einsatzplanung in anderen Energiesektoren erlaubt, zeigen, dass Versorgungssicherheit auch noch in den 2030er Jahren bei einem entsprechenden Ausbau der Erneuerbaren gewährleistet ist (Abbildung 6).Basierend auf dem Vortrag von Mario Kendziorski et.al. (2021): The economics of NPP lifetime extensions – Conceptual approach and lessons from electricity sector modeling in the US, France, and Germany. IAEE Paris (online verfügbar).
Bis zum Jahr 2030 geht die Kohleverstromung fast vollständig zurück, in den 2030er Jahren ist auch die Verbrennung von fossilem Erdgas stark rückläufig. Dagegen steigt die Stromerzeugung sowohl aus Windanlagen an Land und auf See als auch aus Photovoltaik stark an. In dem Modell angepeilten Jahr 2040 wird der Stromsektor vollständig durch erneuerbare Energien versorgt.
Neben den energiewirtschaftlichen Aspekten ist das Ende der kommerziellen Nutzung von Kernkraft auch eine notwendige Bedingung für einen erfolgreichen Prozess der Endlagerung radioaktiver Abfälle. Die Begrenzung der radioaktiven Abfallmengen erlaubt eine konkrete Planung von Logistik und Endlagerformationen.
Die Suche nach einem geeigneten Standort für die Entsorgung der 27.000 Kubikmeter hochradioaktiven Abfalls bis 2031 und die daran anschließende Errichtung eines geeigneten Endlagers ist ein komplexes Problem mit erheblichen sozio-technischen Herausforderungen.Siehe Achim Brunnengräber (2019): Ewigkeitslasten: die „Endlagerung“ radioaktiver Abfälle als soziales, politisches und wissenschaftliches Projekt: eine Einführung. 2. aktualisierte und überarbeitete Auflage. Baden-Baden. Das zu suchende Endlager muss für eine sichere Lagerung von atomaren Abfällen für mehr als eine Million Jahre ausgelegt werden. Besonders im Standortauswahlverfahren sind Transparenz und Partizipation der Bevölkerung von großer Bedeutung, um zukünftige gesellschaftliche Konflikte zu vermeiden und einen Standort mit größtmöglicher Akzeptanz zu bestimmen. Dafür hat die „Endlagerkommission“ zentrale Empfehlungen entwickelt, welche in die Novellierung des Standortauswahlgesetzes im Jahre 2017 aufgenommen wurden.Siehe Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe (2016): Abschlussbericht der Kommission zur Lagerung hochradioaktiver Abfälle. Drucksache 18/9100 (online verfügbar). Demnach soll der Prozess der Standortauswahl „ergebnisoffen, transparent, nach gesetzlich festgelegten fachlichen Kriterien und unter Beteiligung der Öffentlichkeit“, durchgeführt werden.Siehe Bundesamt für die Sicherheit in der nuklearen Entsorgung (2021): Info-Plattform zur Endlagersuche (online verfügbar). Für die Beteiligung der Öffentlichkeit ist das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) verantwortlich, welches sowohl den Vollzug des Standortauswahlverfahrens überwachen als auch Träger der Öffentlichkeitsbeteiligung sein soll. Bis Ende 2021 wurden die „Fachkonferenzen Teilgebieten“ vom BASE umgesetzt,Für eine Übersicht der Ergebnisse der Fachkonferenzen siehe Bericht der Fachkonferenz Teilgebiete (2021) (online verfügbar) und für eine wissenschaftliche Begleitung des Prozesses Dörte Themann et al. (2021): Alles falsch gemacht? Machtasymmetrien in der Öffentlichkeitsbeteiligung bei der Standortsuche für ein Endlager. Forschungsjournal soziale Bewegungen 1/34 (online verfügbar). worauf weitere Verfahrensschritte folgen sollen, bis die Festlegung des Endlagerstandortes durch den Bundestag 2031 erfolgt.
Die Errichtung eines Endlagers wird nur dann gesellschaftlich Akzeptanz finden, wenn das Ende der kommerziellen Nutzung der Kernenergie, wie politisch beschlossen und gesetzlich verankert, weiter Bestand hat. Diesen Nexus identifizierte das Bundesamt für Strahlenschutz bereits vor 20 Jahren, als ein neuer Anlauf zur Endlagersuche gestartet wurde.Siehe Wolfram König (2003): Atommüll und sozialer Friede – Strategien der Standortsuche für nukleare Endlager. Rede zur Tagung der Evangelischen Akademie Loccum. 9. Februar 2003 (online verfügbar). Auch das BASE, das gleichzeitig Regulierungsbehörde für die Endlagersuche ist, hat diesen Nexus in jüngerer Zeit hervorgehoben.Siehe BASE (2021): Themenseite Atomausstieg in Deutschland: „Der Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie ist zentrale Voraussetzung für eine erfolgreiche Suche nach einem Endlager“ (online verfügbar).
In der öffentlichen Diskussion wird oftmals der Eindruck vermittelt, mit der Schließung der sechs verbleibenden Kernkraftwerke wäre der „Atomausstieg“ besiegelt. Dies ist allerdings eine Fehlinterpretation: Die Schließung stellt lediglich einen Schritt der Atomwende dar, die als Teil der Energiewende zu einem 100 Prozent erneuerbaren Energiesystem führen soll. Weitere Schritte der Atomwende, welche in Zukunft höhere Priorität bekommen sollten, sind die Schließung der verbleibenden Brennelementefabrik in Lingen und der Urananreicherungsanlage in Gronau.Urenco, ein britisch-niederländisch-deutsches Unternehmen, reichert in Gronau Uran an und in Lingen produziert ein Tochterunternehmen der französischen Framatome Brennelemente für den weltweiten Einsatz in Kernkraftwerken, unter anderem für das neue finnische Kernkraftwerk Olkiluoto-3. Eine konsequente Atomwende bedeutet auch den Einsatz Deutschlands gegen Laufzeitverlängerungen sowie gegen Investitionen in neue Kernkraftwerke sowohl im europäischen als auch internationalen Kontext. Dies impliziert, dass sich Deutschland im Rahmen der Diskussionen der EU-Taxonomie weiterhin dafür einsetzen muss, dass keine öffentlichen Gelder in die Kernenergie fließen.Siehe hierzu auch BASE (2021): Fachstellungnahme zum Bericht des Joint Research Center (online verfügbar); sowie Christoph Pistner, Matthias Engler und Ben Wealer (2021): Sustainable at risk – A critical analysis of the EU Joint Research Centre technical assessment of nuclear energy with respect to the "do no significant harm" criteria of the EU Taxonomy Regulation. Brüssel (online verfügbar). Des Weiteren sollte die vom Bundesumweltministerium in seinem Positionspapier getroffene Festlegung umgesetzt werden, dass die Kernenergie keine Option im Kampf gegen die Klimakrise und für die Einhaltung der Klimaziele darstellt.Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (2021), a.a.O.. Begründet wird dies mit den drei Punkten: „zu teuer, zu gefährlich und zu langsam im Ausbau für einen substanziellen Anteil am der weltweiten Primärenergieverbrauch“ sowie des weltweit ungelösten Problems der Endlagerung hochradioaktiver Abfälle.Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (2021), a.a.O.
Mit der Schließung der letzten sechs Kernkraftwerke in Deutschland geht eine Periode zu Ende, die von technischen Risiken, hohen Kosten und ungelösten Konflikten mit Blick auf die Zwischen- und Endlagerung radioaktiver Abfälle begleitet wurden. Nachdem die Abschaltung älterer Kernkraftwerke seit dem Jahr 2011 weitgehend lautlos erfolgte, ist auch für die nächsten beiden Jahre nur mit geringen Auswirkungen auf das Stromsystem zu rechnen. Insbesondere werden sich die regionalen Stromflüsse nicht wesentlich verändern und Netzengpässe dürften sich, wenn überhaupt, nur gering intensivieren. Kurzfristig ist im Jahr 2022 und 2023 mit ansteigenden CO2-Emissionen aus dem Stromsektor zu rechnen, die mit einem beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien rasch zurückgeführt werden sollten. Die Versorgungssicherheit ist auch mittelfristig nicht gefährdet, wenn das deutsche Stromsystem rasch auf erneuerbare Energieträger in Verbindung mit Speichern und Flexibilitätsoptionen umsteigt. Die Einbindung in das europäische Stromsystem bleibt aus Effizienz- und Koordinationsgründen bedeutend.
Für die Akzeptanz und das Gelingen eines unter öffentlicher Beteiligung geführten Auswahlverfahrens für einen Endlagerstandort stellt die Abschaltung der letzten Kernkraftwerke eine Notwendigkeit dar. Eine erneute Debatte darüber gefährdet den ohnehin schon fragilen Beteiligungsprozess. Eine konsequente Atomwende erfordert darüber hinaus die Schließung der Urananreicherungsanlage in Gronau und der Brennelementefabrik in Lingen sowie die Stärkung der Sicherheit und des Strahlenschutzes bezüglich grenznaher Kraftwerke. Zur Beobachtung der Vollendung des Atomausstiegs sollte ein konsequentes „Atomwende-Monitoring“ entwickelt und regelmäßig durchgeführt werden.
Derzeit versucht eine Staatengruppe in der EU, angeführt von Frankreich, der Kernenergie durch die Aufnahme in die Taxonomie ein Nachhaltigkeitslabel zu verschaffen.So unterzeichneten MinisterInnen aus zehn Ländern einen Aufruf, die Kernenergie in die Taxonomie aufzunehmen, darunter die Kernenergieländer Frankreich, Bulgarien, Finnland, Rumänien, Slowakei, Kroatien, Tschechien, Ungarn und Polen. Siehe Kira Taylor (2021): EU-Länder machen Druck, um Kernenergie als „grüne“ Investition auszuzeichnen. EURACTIVE News (online verfügbar). Die scheidende und die neue Bundesregierung müssen in diesem Zusammenhang verhindern, dass Kernkraft als gleichsam „nachhaltige“ Technologie in die EU-Taxonomie aufgenommen wird. Hierfür muss der Schulterschluss mit anderen kritischen Staaten intensiviert und die sozio-technischen Vorteile einer Energiewende ohne Kernkraft betont werden. Mit einer Verhinderung des Greenwashings von Kernkraft auf europäischer Ebene stärkt die Bundesregierung nicht nur die deutsche Wohlfahrt, sondern auch die von ganz Europa.
Themen: Europa, Energiewirtschaft
JEL-Classification: L51;L94;Q48
Keywords: nuclear power, economics, Europe, Germany
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2021-47-1
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/248533