Was unsere Gesellschaft jetzt stark macht

Blog Marcel Fratzscher vom 24. Dezember 2021

Ob Gesundheitsschutz, Wirtschaftshilfen und Sicherung der Grundrechte: Deutschland meistert die Corona-Krise weitaus besser als andere Länder. Das ist nicht nur Glück.

Die Kritik am öffentlichen Management der Corona-Pandemie grenzt immer häufiger an Hysterie. Der Vorwurf, fast alle verantwortlichen Politikerinnen und Politiker hätten auf ganzer Linie versagt, scheint in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen. Wenn auch einiges an der Kritik gerechtfertigt ist, so hat der Diskurs in Deutschland eine Emotionalität erreicht, die einen rationalen Dialog und die Umsetzung von Lösungen fast unmöglich macht. Wenn wir diese schwierige Krise gut und schnell bewältigen wollen, dann brauchen wir dringend einen Diskurs, der sich mehr auf die Erfolge und Stärken in der Pandemie fokussiert und die richtigen Lehren daraus zieht.

Dieser Beitrag erschien erstmals am 24. Dezember bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Fakt ist: Deutschland hat die Pandemie bisher besser als die meisten anderen Gesellschaften gemeistert. Und zwar über alle drei großen Dimensionen: beim Schutz der Gesundheit, der Stabilisierung der Wirtschaft und der Wahrung der Grundrechte. In fast allen anderen europäischen Ländern hat sich ein deutlich größerer Teil der Bevölkerung in den vergangenen zwei Jahren mit Covid-19 infiziert. Zudem hat Deutschland eine geringere Mortalität unter den Infizierten (vor allem wenn man die Unterschiede in der Altersstruktur berücksichtigt).

Kaum eine Regierung in Europa oder weltweit hat so umfangreiche Wirtschaftsprogramme aufgelegt, um Verluste der Unternehmen zu kompensieren, Arbeitsplätze zu schützen und die Einkommen zu stabilisieren. Unsere Nachbarn schauen mit Bewunderung auf unser Kurzarbeitergeld, das Millionen von Arbeitsplätzen gesichert hat, während mehr als 20 Millionen US-Amerikaner innerhalb weniger Monate in der ersten Corona-Welle ihren Job verloren. Kaum irgendwo anders sind so wenige Unternehmen pleitegegangen und Existenzen zerstört worden wie hierzulande.

Um nicht missverstanden zu werden: Viele Unternehmen und Menschen haben auch in Deutschland stark gelitten. Nur zur Wahrheit gehört auch, dass der wirtschaftliche Schaden fast überall deutlich größer war als bei uns. Und Deutschland hat die Grundrechte deutlich weniger eingeschränkt als andere Länder: In Spanien, Italien oder Frankreich gab es zeitweise harte Ausgangssperren, Reiseverbote und viel stärkere Kontaktbeschränkungen.

Glück, Zufall oder Stärken entscheidend für Ausweg aus Pandemie?

Ein Schwachpunkt dieser Argumentation ist der Vergleich per se: Die Tatsache, dass Deutschland bisher die Pandemie besser gemeistert hat als unsere europäischen Nachbarn, ist noch kein Grund für Zufriedenheit. Es stimmt: Jeder Vergleich hinkt, jedes Land ist anders. Aber trotzdem sollten wir nach den Gründen der vergleichsweise guten Bewältigung der Pandemie in Deutschland suchen. Ist es nur Glück und Zufall? Oder liegt es nicht vielmehr an wichtigen Erfolgen, richtigen Entscheidungen und unseren Stärken, die entscheidend waren?

Es sind vier große Stärken, die unsere Gesellschaft ausmachen und der wir die vergleichsweise erfolgreiche Bewältigung der Pandemie verdanken, aber die auch essenziell für die Zukunftsherausforderungen sein werden. Die erste Stärke sind die exzellenten staatlichen Institutionen Deutschlands. Ja, diese Aussage mag manchen überraschen, aber jeder seriöse weltweite Vergleich stellt Deutschland ein hervorragendes Zeugnis bei seinen staatlichen Institutionen aus.

Wir haben sehr gute staatlich bereitgestellte öffentliche Güter. Deutschland hat eines der besten Gesundheitssysteme, fast nirgends in der Welt gab es so starke Kapazitäten mit so kompetentem Personal und hervorragender Ausstattung – auch wenn das System nun angesichts der Omikron-Variante stark unter Druck kommen könnte. Und schaut man sich die Wirtschaftshilfen, vom Kurzarbeitergeld bis zur Überbrückungshilfe an, fällt auf: Keine Regierung in der Welt hat schneller mehr Geld ausgegeben, um Menschen und Unternehmen zu schützen, als die deutsche. Natürlich ist auch die Kritik richtig, die staatlichen Institutionen hätten in der Pandemie zu viele blinde Flecken (wie bei Minijobberinnen oder Solo-Selbstständigen) und zu häufig zu langsam und schleppend gehandelt. Aber dies ändert nichts grundlegend an dieser Stärke.

Rechtsstaat sorgt für Stabilität auch in Corona-Krise

Deutschland hat einen sehr gut funktionierenden Rechtsstaat, der den Schutz von Grundrechten und gegen Willkür sicherstellt. Vielen Bürgerinnen und Bürgern mag es nicht gefallen, dass durch diesen Rechtsstaat vermeintlich dringende Maßnahmen, wie Einschränkungen der Mobilität oder eine Impfpflicht, schwer oder nur schleppend umzusetzen sind. Es ist aber gerade die Aufgabe eines gut funktionierenden Rechtsstaats, Stabilität zu gewährleisten und vor allem Minderheiten zu schützen. Deutschland ist damit 70 Jahre hervorragend gefahren. Oder wollten Sie diese Pandemie in China durchleben – ohne Grundrechte, aber dafür mit Verletzungen von Menschenrechten?

Die Solidarität ist wichtigste Stärke

In Deutschlands staatlichen Institutionen gibt es kaum Korruption und stattdessen ein hohes Maß an Transparenz und Rechenschaft. Dies bedeutet nicht, dass es keine Vergehen oder gar kriminelle Machenschaften gab und gibt – von der Beschaffung von Masken bis hin zum Management von Impfungen. Aber wir sollten uns dieser Tatsache bewusst sein, wenn mal wieder einige behaupten, Politikerinnen und Politiker ginge es in dieser Pandemie nur darum, sich "die Taschen voll zu machen".

Die zweite Stärke ist die Resilienz, die Widerstandsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft. Die Tatsache, dass so viele Unternehmen die Pandemie einigermaßen intakt überleben können, liegt auch in der vom Mittelstand geprägten Wirtschaftsstruktur Deutschlands, in der Unternehmen meist nicht auf kurzfristige Profite aus sind, sondern eine langfristige Perspektive haben. Und auch die Politik legt einen großen Fokus auf Stabilität und Sicherheit, sodass Deutschland nicht nur diese Krise, sondern auch die anderen Krisen der vergangenen 70 Jahre hervorragend meistern konnte.

Globale Vernetzung als Schlüssel zu wirtschaftlichem Erfolg

Die dritte große Stärke ist die Offenheit von Wirtschaft und Gesellschaft. Der Fokus der deutschen Politik auf Multilateralismus und europäische Integration war und ist entscheidend für den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolg Deutschlands. Dieser Offenheit verdankt Deutschland den Titel Exportweltmeister. Auch die Entwicklung und Zertifizierung des Impfstoffs von BioNTech wäre ohne solche Offenheit und internationale Vernetzung gar nicht möglich gewesen, im Fall von BioNTech war es die Kooperation mit dem US-Pharmariesen Pfizer.

Die vierte Stärke ist die große Bedeutung von Solidarität und unser Gesellschaftsvertrag der sozialen Marktwirtschaft. Für manche mag es selbstverständlich klingen, aber dies ist es nicht: Die große Mehrheit der Deutschen war und ist bereit, persönliche Einschränkungen und Kosten für sich selbst in Kauf zu nehmen, um andere Menschen zu schützen und zu unterstützen. So gibt es und gab es immer wieder den Wunsch einer Mehrheit für noch stärkere Einschränkungen, um Menschenleben zu schützen und die Notlage schneller beenden zu können. Auch unser Sozialsystem nehmen viele von uns als Selbstverständlichkeit wahr. Tatsache ist aber auch, dass kaum ein Land der Welt so starke Sozialsysteme hat, die vor allem die schwächsten und verletzlichsten Mitglieder der Gemeinschaft schützen.

Die Solidarität ist vielleicht die größte und wichtigste Stärke. Denn wie der russische Philosoph Pjotr Kropotkin schon vor mehr als 100 Jahren argumentierte und wissenschaftliche Studien seitdem belegt haben, so bewältigen hochsolidarische Gemeinschaften große Krisen – wie Pandemien, Kriege, Wirtschaftskrisen oder Naturkatastrophen – deutlich besser als individualistische Gesellschaften.

Wir sollten die Hysterie aus der Debatte über die Pandemie nehmen und uns nicht auf unsere Schwächen, sondern auf unsere Stärken und Errungenschaften fokussieren. Starke staatliche Institutionen, ein hohes Maß an Resilienz, große Offenheit und vor allem die starke Solidarität geben uns beste Voraussetzungen, sowohl um diese Pandemie zu bewältigen als auch um die großen Jahrhundertherausforderungen – Klimaschutz, digitale Transformation und soziale Erneuerung – erfolgreich zu bestehen. Vielleicht liegt es in der deutschen Identität, zu Pessimismus zu neigen und das Glas eher halb leer als halb voll zu sehen. Aber nun ist es dringend an der Zeit, dass wir uns auf unsere Stärken konzentrieren und mit Selbstbewusstsein und Optimismus in die Zukunft schauen.

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