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De-Globalisierung ist keine Lösung: Kommentar

DIW Wochenbericht 3 / 2022, S. 44

Marcel Fratzscher

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Viele Unternehmen schauen mit Sorge auf das neue Jahr. Selten war der Ausblick für die Wirtschaft von so viel Unsicherheit geprägt. Und selten war der Wunsch nach Souveränität so stark – um endlich wieder das Heft des Handelns in die Hand nehmen zu können und nicht länger Getriebener der Pandemie, dysfunktionaler Lieferketten und politischer Unwägbarkeiten zu sein. Dies könnte sich jedoch als gefährliche Illusion erweisen. Versuche, Souveränität wieder stärker national oder lokal zu definieren, werden nicht nur scheitern, sondern würden enormen Schaden anrichten. Der Fokus und die Herausforderungen liegen anderswo.

Die Corona-Pandemie dürfte auch 2022 das bestimmende Thema sein. Europa befindet sich mitten in der vierten Welle, und die Wahrscheinlichkeit weiterer Wellen durch neue Mutanten ist hoch. Die gestörten Lieferketten sind dabei nur eine unmittelbare Folge. Niemand weiß, wo in drei oder sechs Monaten Probleme auftreten werden, aber Hafenschließungen, unterbrochene Verkehrswege oder fehlende Arbeitskräfte werden immer wieder zu Unterbrechungen führen. Die große Offenheit der deutschen Wirtschaft – die in guten Zeiten ihre große Stärke ist – erweist sich derzeit als Verletzlichkeit. Die zunehmenden geopolitischen Konflikte mit China und Russland werden diese Herausforderung nicht leichter machen.

Immer lauter werden die Stimmen, die eine De-Globalisierung und eine Rückverlagerung der Produktion nach Hause wollen, um die Abhängigkeit von Lieferketten zu reduzieren. Lauter werden auch die Stimmen, die Europa bei zentralen Technologien unabhängig machen wollen. Ein solcher Versuch dürfte nicht nur scheitern, sondern könnte kontraproduktiv sein. Er erinnert an den Slogan der Brexit-Befürworter „Take back control“. Es ist offensichtlich, dass Großbritannien durch den Brexit nicht an Souveränität gewonnen, sondern verloren hat. Denn in einer vollends globalen Wirtschaft kann kein Land Souveränität bei den zentralen wirtschaftlichen Herausforderungen beanspruchen.

In einer immer globaleren Welt kann Souveränität nur geteilte Souveränität bedeuten. Die Lieferketten zeigen: Deutschland gehört zu den größten Gewinnern der globalen Arbeitsteilung. Eine Rückverlagerung (reshoring) mag in Einzelfällen sinnvoll sein, im großen Stil wäre es schädlich. Schon heute fehlt es den Unternehmen an Kapazitäten; eine Rückverlagerung würde die Produktivität in Deutschland deutlich senken, nicht erhöhen. Das Resultat wären geringere Erträge für Unternehmen, weniger Wettbewerbsfähigkeit und geringere Löhne. Ein solcher Protektionismus wäre das Ende des deutschen Wirtschaftsmodells.

Das Gleiche gilt für Technologie-Souveränität. Viele träumen von einem Deutschland oder Europa, das nicht auf 5G-Technologie aus China oder digitale Plattformen von US-Unternehmen angewiesen ist. Dieser Zug ist jedoch abgefahren. Für Deutschland und Europa muss es darum gehen, in wichtigen Zukunftsbereichen – von künstlicher Intelligenz über die Entwicklung von Impfstoffen und Medizintechnik bis hin zu Technologien für die ökologische Transformation – weltweit führend zu werden oder zu bleiben.

Höchste Priorität hat nun, die Resilienz von Volkswirtschaften und Unternehmen zu verbessern und die globale, geteilte Souveränität stärker zu beeinflussen. Bei der Resilienz geht es um kluge Diversifizierung von Risiken, was in den meisten Fällen mehr Redundanzen und eine global noch diversere Produktionsstruktur erfordert.

Europa muss zudem viel stärker mit einer Stimme sprechen, um im Systemwettbewerb mit China und den USA seine Interessen zu wahren. Dabei sind Handelszölle eher unwichtig. Es geht vor allem darum, wer die globalen Standards setzt. Europa wird den Einfluss nur dann erhöhen, wenn es sich selbst stärker integriert. Dies erfordert eine Vollendung des Binnenmarktes für Dienstleistungen, der Kapitalmarkt- und der Bankenunion, eine stärkere internationale Rolle des Euro und eine reformierte Wettbewerbspolitik. Daher könnte 2022 durchaus ein Jahr der Neuorientierung werden. Bei aller Sorge besteht also Grund zu Optimismus.

Der Beitrag ist am 7. Januar in der Wirtschaftswoche erschienen.

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