DIW Wochenbericht 7 / 2022, S. 109-116
Cristóbal Moya, Jule Adriaans
get_appDownload (PDF 341 KB)
get_appGesamtausgabe/ Whole Issue (PDF 4.79 MB)
„Politische Antworten auf Ungleichheit sollten unterschiedliche Gerechtigkeitsprofile berücksichtigen. Bei einem großen Anteil von KritikerInnen in einem Land sollten Maßnahmen ergriffen werden, von denen eine breite Mehrheit profitiert. Wenn AltruistInnen und Benachteiligte dominieren, sollten zielgenauere Interventionen umgesetzt werden.“ Jule Adriaans
Die zunehmende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen wird in Europa intensiv diskutiert. Obwohl es für die Gestaltung von Sozialpolitik eine große Rolle spielt, ob Ungleichheiten als gerecht oder ungerecht angesehen werden, ist bisher wenig erforscht, wie BürgerInnen diese Ungleichheiten im Einzelnen bewerten. Um diese Lücke zu schließen, werden die Antwortprofile untersucht, die den Gerechtigkeitsbewertungen von Einkommen und Vermögen im European Social Survey (2018/2019) zugrunde liegen. Unter europäischen Erwerbstätigen werden vier solcher Gerechtigkeitsprofile identifiziert: Die Profile KritikerInnen, AltruistInnen, Benachteiligte und Status-quo-BefürworterInnen unterscheiden sich in Bezug darauf, ob und wo in der Einkommens- und Vermögensverteilung sie Ungerechtigkeiten feststellen. Die meisten Befragten gehören entweder zu den KritikerInnen, die Ungerechtigkeiten in allen Bereichen feststellen und Umverteilung befürworten, oder zu den AltruistInnen, die ihre eigene Situation als gerecht, die gesellschaftlichen Einkommens- und Vermögensunterschiede jedoch als ungerecht bewerten. Die weit verbreitete Sorge um soziale Gerechtigkeit sollte politisch aufgegriffen werden. Bei der Gestaltung länderspezifischer politischer Maßnahmen sollte jedoch berücksichtigt werden, wo in der Vermögens- und Einkommensverteilung Ungerechtigkeiten identifiziert werden.
ExpertInnen und EntscheidungsträgerInnen haben Einkommens- und Vermögensungleichheiten in den letzten zehn Jahren intensiv diskutiert.OECD (2015): In It Together: Why Less Inequality Benefits All. OECD Publishing, Paris (online verfügbar, abgerufen am 11. Januar 2022. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt); Kathryn M. Neckerman und Florence Torche (2007): Inequality: Causes and Consequences. Annual Review of Sociology 33, 335–357; Fabian Pfeffer und Nora Waitkus (2021): The Wealth Inequality of Nations. American Sociological Review, 86 (4), 567–602. Im Gegensatz zu der Bedeutung, die dem Oberthema Ungleichheit im politischen Diskurs beigemessen wird, scheint BürgerInnen weniger die Existenz von Ungleichheit per se zu stören, sondern vielmehr Ungerechtigkeit.Lane Kaneworthy und Leslie McCall (2008): Inequality, Public Opinion and Redistribution. Socio-Economic Review 6, 35–68; Jan Janmaat (2013): Subjective Inequality: A Review of International Comparative Studies on People’s Views about Inequality. European Journal of Sociology 54 (3), 357–389; Jonathan Mijs (2021): The Paradox of Inequality: Income Inequality and Belief in Meritocracy Go Hand in Hand. Socio-Economic Review 19 (1), 7–35; Christina Starmans, Mark Sheskin und Paul Bloom (2017): Why people prefer unequal societies. Nature Human Behaviour 1, 1–7. Dabei bewerten Menschen die Ungerechtigkeit einer Reihe von Gütern, zum Beispiel Einkommen und Vermögen. Diese Bewertungen können sie selbst betreffen (beispielsweise ihr eigenes Einkommen) oder weiter von ihrer eigenen Situation entfernt sein und etwa das Einkommen anderer oder allgemeine Vermögensunterschiede betreffen.Guillermina Jasso (2015): Thinking, Saying, Doing in the World of Distributive Justice. Social Justice Research, 28 (4), 435–478; Guillermina Jasso, Kjell Törnblom und Clara Sabbagh (2016): Distributive Justice. In: Clara Sabbagh und Manfred Schmitt (Hrsg.): Handbook of Social Justice Theory and Research. New York, 201–218. Insgesamt sind solche subjektiven Gerechtigkeitsbewertungen dabei mit negativen Konsequenzen sowohl für die und den Einzelnen als auch für die Gesellschaft verbunden. Die Relevanz des Themas soziale Gerechtigkeit spiegelt sich auch in politischen Debatten wider: So trägt der Koalitionsvertrag der Bundesregierung den Titel „Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ und spezifiziert: „Ein hohes Beschäftigungsniveau und gerechte Entlohnung sind Grundlage für unseren Wohlstand und die Finanzierung unserer sozialen Sicherung.“ Aus diesem Anspruch heraus wird auch die geplante Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro begründet.SPD, BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN, FDP (2021): Koalitionsvertrag 2021 – 2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN und den Freien Demokraten (FDP). S. 65. (online verfügbar).
Erweitert man den Blick darauf, wie häufig das Thema soziale Gerechtigkeit in Wahlprogrammen in ganz Europa angesprochen wird, zeigt sich, dass soziale Gerechtigkeit eine relevante Kategorie in politischen Debatten in Europa zu sein scheint (Abbildung 1). Das Manifesto-Projekt analysiert den Inhalt von Wahlprogrammen und kategorisiert die von den einzelnen Parteien angesprochenen Themen anhand eines vorgegebenen Schemas (Kasten 1). Während das Thema soziale Gerechtigkeit von den politischen Parteien in allen untersuchten Ländern behandelt wird, findet es in West- und Nordeuropa mehr Beachtung als in Osteuropa.
Das Manifesto-Projekt erfasst Wahlprogramme aus über 50 Ländern und kategorisiert die darin behandelten Themen. In diesem Bericht werden Informationen aus den Wahlprogrammen der jeweils letzen Wahlen auf nationaler Ebene in 24 europäischen Ländern verwendet.Andrea Volkens et al. (2021): The Manifesto Data Collection. Manifesto Project (MRG/CMP/MARPOR). Version 2021a (online verfügbar). Dies umfasst Wahlen zwischen März 2017 (Bulgarien) und September 2021 (Deutschland). Insbesondere wird der Code verwendet, der sich auf das „Konzept der sozialen Gerechtigkeit und die Notwendigkeit einer fairen Behandlung aller Menschen“ bezieht.Code per 503, Definition: Gleichheit: Positives Konzept der sozialen Gerechtigkeit und der Notwendigkeit einer fairen Behandlung aller Menschen. Dies kann Folgendes beinhalten: – Besonderer Schutz für unterprivilegierte soziale Gruppen; – Beseitigung von Klassenschranken; – Notwendigkeit einer gerechten Verteilung von Ressourcen; – Beendigung von Diskriminierung (beispielsweise rassistische oder sexuelle Diskriminierung). Für jedes Land wurde analysiert, wie häufig dieses Thema in den Wahlprogrammen vorkommt. Um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass nicht alle im Manifesto-Projekt erfassten Parteien für die politische Debatte gleichermaßen relevant sind, wurde jedes Wahlprogramm mit dem Stimmenanteil gewichtet, der bei der Wahl erreicht wurde, auf die sich das jeweilige Programm bezieht.
Der Blick in die Wahlprogramme erzählt jedoch nur eine Seite der Geschichte und es bleibt unklar, wie sehr sich die Bevölkerung um soziale Gerechtigkeit sorgt und inwieweit sie Ungerechtigkeit bei der Verteilung von Einkommen und Vermögen erkennt. Dass BürgerInnen Ungleichheit feststellen, muss dabei nicht zwangsweise bedeuten, dass sie politische Maßnahmen zur Verringerung von Ungleichheit unterstützen.Charlotte Cavaillé und Kris-Stella Trump (2015): The Two Faces of Social Policy Preferences. The Journal of Politics 77 (1), 146–160. Untersuchungen haben vielmehr gezeigt, dass die Menschen in Deutschland und Europa nicht absolute Gleichheit befürworten. Viele geben stattdessen an, dass Einkommen und Vermögen so verteilt werden sollen, dass die Grundbedürfnisse der Menschen gedeckt werden, aber gleichzeitig auch individuelle Leistungen belohnt werden.Jule Adriaans, Philipp Eisnecker und Stefan Liebig (2019): Gerechtigkeit im europäischen Vergleich: Verteilung nach Bedarf und Leistung in Deutschland besonders befürwortet, DIW Wochenbericht Nr. 45, 817–825; Jule Adriaans und Stefan Liebig (2021): Einkommensgerechtigkeit in Deutschland und Europa. In: Datenreport 2021. Bonn: Bundeszentrale für politische Aufklärung, 278–285.
Es ist eine komplexe Frage, ob solche normativen Präferenzen dazu führen, dass mehr Menschen sozialpolitische Maßnahmen befürworten. Dabei muss zwischen Eigeninteresse und Präferenzen für andere abgewogen werden.Matthew Dimick, David Rueda und Daniel Stegmueller (2018): Models of Other–Regarding Preferences, Inequality, and Redistribution. Annual Review of Political Science, 21 (1), 441–460. Ein umfassender Blick auf die Gerechtigkeitsbewertung bestehender Ungleichheiten kann dabei den Schlüssel zur Entwicklung politischer Maßnahmen liefern, die die von den BürgerInnen identifizierten Gerechtigkeitsdefizite adressieren.Toni Rodon und Marc Sanjaume–Calvet (2020): How Fair Is It? An Experimental Study of Perceived Fairness of Distributive Policies. The Journal of Politics 82 (1), 384–391.
Im Rahmen der neunten Befragungswelle des European Social Survey (ESS), die zwischen 2018 und 2019 durchgeführt wurde, wurden Personen aus 29 europäischen Ländern um Gerechtigkeitsbewertungen gebeten. Die Befragten bewerteten ihr eigenes Erwerbseinkommen, die Einkommen anderer innerhalb ihrer Berufsgruppe, die Einkommen der oberen und unteren zehn Prozent der Einkommensverteilung des Landes sowie die Vermögensunterschiede im Land. Um gleichzeitig Bewertungen des eigenen Erwerbseinkommens und auch der Einkommen anderer abdecken zu können, werden nur die Antworten von erwerbstätigen Befragten betrachtet. Diese Bewertungen wurden genutzt, um die Befragten in Gruppen mit ähnlichen Bewertungsprofilen einzuordnen. Mithilfe einer latenten Klassenanalyse (LCA) (Kasten 2) wurden dabei vier unterschiedliche Antwortmuster identifiziert. Diese Muster werden im Folgenden als Gerechtigkeitsprofile bezeichnet. Die mit 51 Prozent der Befragten größte Gruppe in Europa bewertet tendenziell alle abgefragten Bereiche als ungerecht und kann demnach als die Gruppe der KritikerInnen bezeichnet werden (Abbildung 2). Ein weiteres Drittel der Befragten gehört zur zweitgrößten Gruppe: diejenigen, die ihr eigenes Einkommen und das Einkommen ihrer Berufsgruppe als gerecht, die Einkommen der unteren zehn Prozent, die Einkommen der oberen zehn Prozent und Vermögensunterschiede aber als ungerecht bewerten. Diese Gruppe wird hier als AltruistInnen bezeichnet, da sie sich um andere sorgen und die Einkommens- und Vermögensverteilung kritisch bewerten, obwohl sie ihr eigenes Einkommen für gerecht halten. Außerdem gibt es zwei weitere, kleinere Gruppen, die als Status-quo-BefürworterInnen (neun Prozent) und als Benachteiligte (sieben Prozent) bezeichnet werden können. Die Befragten in der Status-quo-Gruppe sehen in der Regel keine Ungerechtigkeit in Bezug auf das eigene Einkommen, das Einkommen der anderen in der Gesellschaft oder in Bezug auf Vermögensunterschiede. Einkommen und Vermögen sind nach Ansicht dieser Befragten insgesamt gerecht verteilt. Die Befragten aus der Gruppe der Benachteiligten hingegen neigen dazu, ihre eigene Situation als ungerecht, die Einkommen anderer sowie Vermögensunterschiede in der Gesellschaft im Allgemeinen jedoch als gerecht zu bewerten. Interessanterweise werden untere Einkommen zwar von den meisten Befragten eher als ungerecht bewertet, aber die Benachteiligten bewerten sie wesentlich häufiger als gerecht als KritikerInnen und AltruistInnen. Auch in der Gruppe derjenigen, die eher zum Status quo tendieren, werden die untersten Einkommen im Vergleich zu allen anderen Bewertungen am ehesten als ungerecht bewertet. Benachteiligte und Status-quo-BefürworterInnen stufen zudem die obersten Einkommen deutlich häufiger als die unteren Einkommen als gerecht ein. Zusammengenommen liefert dieses Muster Hinweise darauf, wo die jeweilige Gruppe Ungerechtigkeit in der Einkommensverteilung sieht: Während für Benachteiligte und Status-quo-BefürworterInnen – wenn überhaupt – das Gerechtigkeitsdefizit bei den unteren Einkommen zu liegen scheint, ist für KritikerInnen und AltruistInnen Einkommensungerechtigkeit sowohl bei den sehr niedrigen als auch bei sehr hohen Einkommen ein Problem. Allerdings ist anzumerken, dass selbst in der Gruppe der KritikerInnen obere Einkommen im Vergleich zu den anderen Bewertungen am häufigsten als gerecht bewertet werden, was die grundlegende Akzeptanz des Leistungsprinzips in Europa widerspiegelt.Adriaans et al. (2019), a.a.O.
Der European Social Survey (ESS) ist eine länderübergreifende Befragung, die seit 2002 alle zwei Jahre durchgeführt wird. Der ESS umfasst ein breites Spektrum europäischer Länder und bietet hochwertige Umfragedaten aus repräsentativen Stichproben der einzelnen Teilnehmerländer.Siehe zum Beispiel Christian Schnaudt et al. (2014): The European Social Survey: Contents, Design, and Research Potential. Schmollers Jahrbuch 134, 487–506. Nach vorheriger Registrierung können die Daten online abgerufen werden (online verfügbar). Jede Befragungswelle des ESS besteht dabei aus einem wiederholten Kernprogramm und wechselnden thematischen Fragebogenmodulen. Ein spezielles Modul mit dem Schwerpunkt „Gerechtigkeit und Fairness in Europa“ wurde in die jüngste Welle des ESS (Runde neun, durchgeführt in den Jahren 2018 und 2019) aufgenommen.European Social Survey (2018): ESS Round 9 Module on Justice and Fairness – Question Design Final Module in Template, London: ESS ERIC Headquarters, City, University of London. Die Befragung wurden in 29 europäischen Ländern durchgeführt und die Auswertungen umfassen insgesamt mehr als 26500 Personen, die zum Zeitpunkt der Befragung erwerbstätig waren.
Es wurde untersucht, welche Antwortprofile sich in Europa in Bezug auf die Gerechtigkeitsbewertung von Einkommen und Vermögen finden lassen. Es wurden also Gruppen von Befragten identifiziert, die Einkommens- und Vermögensungleichheiten ähnlich bewerten. Dies stützt sich auf sechs verschiedene Fragen, in denen die Befragten die Gerechtigkeit …
bewerten. Für jede der sechs Einschätzungen wurde untersucht, ob die Befragten diese Einkommens- und Vermögensunterschiede als ungerecht oder gerecht bewerten. Um Antwortprofile zu identifizieren, die die Gerechtigkeitsbewertung der Einkommens- und Vermögensunterschiede erfassen, wurde eine latente Klassenanalyse (LCA) verwendet.Alle Analysen können im OSF-Repository abgerufen werden (online verfügbar). Die LCA identifiziert Gruppen von Befragten, die in ähnlicher Weise auf die sechs beobachteten Gerechtigkeitsbewertungen antworteten. Vier verschiedene solcher Gruppen werden hier identifiziert und jede befragte Person wird einer dieser Gruppen zu geordnet.
Um den Zusammenhang zwischen diesen Gerechtigkeitsprofilen und der Präferenz für Umverteilung zu untersuchen, wurde auf die Zustimmung oder Ablehnung der Befragten zu der Aussage „Der Staat sollte Maßnahmen ergreifen, um Einkommensunterschiede zu verringern“ zurückgegriffen. Die Befragten konnten ihre Antwort anhand von fünf Antwortkategorien differenzieren: „Lehne stark ab“, „Lehne ab“, „Weder noch“, „Stimme zu“, und „Stimme stark zu“.
Die vier Gerechtigkeitsprofile und ihre Verbreitung in Europa deuten darauf hin, dass soziale Gerechtigkeit ein Anliegen der Mehrheit der europäischen Erwerbstätigen ist und daher politisch aufgegriffen werden sollte. Eine Auswertung von Wahlprogrammen in Europa hat bereits einige Länderunterschiede bei der Bedeutung des Themas soziale Gerechtigkeit in politischen Debatten aufgezeigt. Darauf aufbauend wird untersucht, wie häufig die vier Gerechtigkeitsprofile in den 29 untersuchten europäischen Ländern vorkommen (Abbildung 3).
Ähnlich wie bei den Wahlprogrammen zeigt sich auch bei der Verteilung der vier Gerechtigkeitsprofile eine deutliche Kluft zwischen den osteuropäischen Ländern einerseits und den nord- und westeuropäischen Ländern andererseits. Allerdings scheint sich das Muster umzukehren: Während in den osteuropäischen Ländern das Thema soziale Gerechtigkeit in den Parteiprogrammen weniger präsent ist, überwiegen in diesen Ländern die KritikerInnen. Dies deutet auf eine Diskrepanz zwischen den Ansichten der BürgerInnen und den von den politischen Parteien angesprochenen Themen besonders in dieser Region hin.
Andererseits sind die AltruistInnen – also diejenigen, die das Einkommen anderer als ungerecht, ihr eigenes Einkommen aber als gerecht empfinden – in den nord- und westeuropäischen Ländern, in denen soziale Gerechtigkeit auch in den Parteiprogrammen mehr Beachtung findet, stärker vertreten. In diesen Ländern sind auch die Benachteiligten häufiger zu finden. Der erhöhte Anteil von AltruistInnen und Benachteiligten in Ländern wie Dänemark, den Niederlanden und Schweden deutet darauf hin, dass reichere Kontexte vielfältigere Gerechtigkeitsprofile aufweisen und dementsprechend aus sozialpolitischer Sicht eine größere Herausforderung darstellen könnten.
Ungerechtigkeitsbewertungen in Bezug auf Einkommen und Vermögen stellen eine Herausforderung für politische Systeme dar. Wohlfahrtsstaaten können dieser Herausforderung mit Umverteilungsmaßnahmen begegnen. Eine Frage für Sozialpolitik und Sozialwissenschaften ist daher, welche BürgerInnen solche Umverteilungsmaßnahmen unterstützen oder ablehnen. In diesem Sinne wurde der Zusammenhang zwischen den Gerechtigkeitsprofilen und der Aussage, dass der Staat Maßnahmen ergreifen sollte, um Einkommensunterschiede zu verringern, untersucht.
Insgesamt unterstützen alle Profile diese Aussage. Es zeigt sich allerdings, dass unter den vier Profilen sowohl die KritikerInnen als auch die AltruistInnen Umverteilung stärker unterstützen als die Benachteiligten und diejenigen, die dazu neigen, den Status quo als gerecht zu bewerten (Abbildung 4). Dieses Muster ist zu erwarten, da die Befragten in den erstgenannten Gruppen dazu neigen, Ungerechtigkeit in einer Reihe von Dimensionen festzustellen, einschließlich derjenigen, die sich auf das Einkommen anderer und die allgemeinen Vermögensunterschiede beziehen. Bei den KritikerInnen ist die Präferenz für Umverteilung sogar noch höher als bei den AltruistInnen. Diese Tendenz könnte darauf zurückzuführen sein, dass es zwar im Interesse der AltruistInnen liegt, das Einkommen anderer und allgemeine Vermögensunterschiede zu adressieren, aber das eigene Einkommen, das sie als gerecht bewerten, nicht zu verändern. Die Benachteiligten hingegen befürworten Umverteilung weniger stark, da sie vermutlich in erster Linie anstreben, ihr eigenes Einkommen zu verbessern und nicht Einkommens- und Vermögensunterschiede im Allgemeinen zu adressieren. Die geringste Unterstützung für Umverteilung findet sich bei den Befragten in der Status-quo-Gruppe. Einerseits ist dies ein erwartetes Muster, da die Status-quo-BefürworterInnen Einkommen und Vermögen generell als gerecht bewerten, was keine Wünsche nach Veränderungen nahelegt. Andererseits unterstreicht die stärkere Umverteilungspräferenz bei KritikerInnen und AltruistInnen auch, dass die Befragten in Europa die Reduktion von Einkommensunterschieden als eine mögliche politische Antwort auf die ungerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen ansehen. Wenn bestehende Ungleichheiten bei Einkommen und Vermögen als gerecht bewertet werden, erhalten Maßnahmen zu ihrer Beseitigung weniger Unterstützung.
Die zunehmenden Ungleichheiten bei Einkommen und Vermögen stehen im Mittelpunkt politischer und gesellschaftlicher Debatten – soziale Gerechtigkeit findet in Wahlprogrammen in ganz Europa Beachtung. Doch wie bewerten die BürgerInnen die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen? Es wurden sechs Gerechtigkeitsbewertungen zu Einkommen und Vermögen aus der jüngsten Welle des European Social Survey untersucht, um die zugrundeliegenden Gerechtigkeitsprofile von Erwerbstätigen in Europa zu identifizieren. Die größte Gruppe sind die KritikerInnen, die Ungerechtigkeit in Bezug auf ihr eigenes Einkommen, die Einkommen anderer und die allgemeinen Vermögensunterschiede feststellen. Diese Gruppe ist in Osteuropa besonders stark vertreten, was eine Kluft zwischen den Sorgen der Gesellschaft um soziale Gerechtigkeit und der vergleichsweise geringen Aufmerksamkeit für soziale Gerechtigkeit in Wahlprogrammen in Osteuropas aufzeigt.
Die zweitgrößte Gruppe – die AltruistInnen – neigen dazu, ihre eigene Situation als gerecht zu bewerten, stellen aber Ungerechtigkeit in Bezug auf das Einkommen anderer und die allgemeinen Vermögensunterschiede fest und zeigen damit, dass ihnen soziale Gerechtigkeit über ihre eigene Situation hinaus am Herzen liegt. Die Benachteiligten hingegen bewerten vor allem ihre eigene Situation als ungerecht, während die vierte Gruppe dazu neigt, den Status quo der Einkommens- und Vermögensverteilung als gerecht zu bewerten. Während die beiden letztgenannten Gruppen insgesamt einen relativ kleinen Anteil der Befragten in Europa ausmachen, sind sie in den reicheren nordeuropäischen Ländern stärker vertreten.
Insgesamt stellt die Mehrheit der Erwerbstätigen in Europa Ungerechtigkeiten in Bezug auf Einkommens- und Vermögensunterschiede fest. Dabei gilt für alle Profile, dass die untersten Einkommen jeweils häufiger als ungerecht bewertet werden, als dies für die obersten Einkommen innerhalb des jeweiligen Profils der Fall ist – was darauf hindeutet, dass die Sozialpolitik in ganz Europa gefordert ist, diese Ungerechtigkeiten anzugehen. Die Umfragedaten wurden jedoch vor der COVID-19-Pandemie erhoben. Da die Pandemie bestehende Ungleichheiten teilweise verstärkt und verfestigtJohannes Seebauer, Alexander S. Kritikos und Daniel Graeber (2021): Warum vor allem weibliche Selbständige Verliererinnen der Covid-19-Krise sind. DIW Wochenbericht Nr. 15, 262–269; Jonas Jessen, C. Katharina Spieß und Katharina Wrohlich (2021): Sorgearbeit während der Corona-Pandemie: Mütter übernehmen größeren Anteil – Vor allem bei schon zuvor ungleicher Aufteilung. DIW Wochenbericht Nr. 9, 131–139. und gesellschaftliche Konflikte im Hinblick auf die gerechte Verteilung von Finanzhilfen und Umverteilungspolitik ausgelöst hat, könnte die Sorge um soziale Gerechtigkeit nun sogar noch größer geworden sein. Außerdem beschränkt sich die Analyse auf erwerbstätige Personen – womöglich identifizieren nicht-erwerbstätige Personen noch deutlichere Ungerechtigkeiten in Bezug auf die Einkommens- und Vermögensverteilung.
Abgesehen von einer allgemeinen Sorge um soziale Gerechtigkeit in Europa zeigt sich, dass diejenigen, die weitverbreitete Ungerechtigkeiten – entweder in Bezug auf sich selbst und andere oder nur in Bezug auf andere – feststellen, auch eine stärkere Präferenz für Umverteilung zeigen als diejenigen, die zur Gruppe der Status-quo-BefürworterInnen oder der Benachteiligten gehören. Dieser Zusammenhang unterstreicht, dass aus Sicht der Befragten die Reduktion von Einkommensunterschieden eine geeignete politische Antwort auf Ungerechtigkeiten in der Einkommens- und Vermögensverteilung sein kann.
Allerdings hat die Frage, die zur Erfassung der Umverteilungspräferenz verwendet wurde, einen großen Nachteil: Sie fragt nicht ab, wer Geber oder Nehmer im Umverteilungsprozess sein sollte. Dies erscheint besonders dann relevant, wenn man bedenkt, dass sich die vier Gerechtigkeitsprofile nicht nur darin unterscheiden, ob sie Ungerechtigkeit wahrnehmen, sondern auch, wo diese Ungerechtigkeiten in der Einkommens- und Vermögensverteilung zu finden sind.
In Ländern, in denen umfassende Ungerechtigkeit in Bezug auf Einkommen und Vermögen wahrgenommen wird, könnten sozialpolitische Maßnahmen mit breiten Umverteilungseffekten in Betracht gezogen werden. In Anbetracht seines großen UmverteilungspotenzialsPhilippe Van Parijs und Yannick Vanderborght (2017): Basic Income: A Radical Proposal for a Free Society and a Sane Economy. Cambridge, Massachusetts. könnte zum Beispiel gerade in Ländern, in denen die KritikerInnen überwiegen, ein bedingungsloses Grundeinkommen die umfangreichen Ungerechtigkeitswahrnehmung der BürgerInnen aufgreifen.Passend dazu zeigt sich in Ländern wie Litauen, Ungarn oder Slowenien, die einen hohen Anteil von KritikerInnen aufweisen, eine starke Zustimmung zur Idee des bedingungslosen Grundeinkommens. Siehe dazu Jule Adriaans, Stefan Liebig und Jürgen Schupp (2019): Zustimmung für bedingungsloses Grundeinkommen eher bei jungen, bei besser gebildeten Menschen sowie in unteren Einkommensschichten, DIW Wochenbericht Nr. 15, 263–270. In Ländern mit einem hohen Anteil an Befragten, die zur Gruppe der Benachteiligten gehören – zum Beispiel Dänemark – könnte es dagegen schwierig sein, in der Bevölkerung starke Unterstützung für breit angelegte Umverteilungsmaßnahmen zu finden. Hier sollten sozialpolitische Maßnahmen vermutlicher stärker Ungerechtigkeiten auf individueller Ebene adressieren und Arbeitsplätze mit einem fairen Einkommen fördern. Denkbar wären ein verbesserter Arbeitsschutz im Niedriglohnbereich oder die Erhöhung von Mindestlöhnen, die insbesondere auf eine Verbesserung von Monatseinkommen und nicht nur des Stundenlohns abzielt.Alexandra Fedorets und Mattis Beckmannshagen (2021): Mindestlohn: Nicht nur die Höhe ist entscheidend. DIW Aktuell Nr. 61, 1–6. Adam Storer und Adam Reich (2021): ‘Losing My Raise’: Minimum wage increases, status loss and job satisfaction among low-wage employees. Socio-Economic Review 19 (2), 681–709.
In Deutschland hingegen kann nur ein kleiner Teil der Befragten als Status-quo-BefürworterInnen oder Benachteiligte eingestuft werden, was auf ein insgesamt starkes Interesse an sozialer Gerechtigkeit hindeutet. Bei der Gestaltung von Maßnahmen, um Ungerechtigkeiten in der Einkommens- und Vermögensverteilung zu reduzieren, sollten politische AkteurInnen jedoch berücksichtigen, dass ein erheblicher Anteil der Befragten in Deutschland zur Gruppe der AltruistInnen gehört. Unter diesen Befragten, die ihre eigene Situation und auch die obersten Einkommen häufig als gerecht einschätzen, könnten sozialpolitische Maßnahmen, die die Not der Ärmsten beheben, besonders große Unterstützung finden. Pläne der Bundesregierung zur Einführung eines Bürgergelds und ein erhöhter Mindestlohn scheinen daher mit der beobachteten Struktur der Gerechtigkeitsprofile übereinzustimmen.
Themen: Verteilung, Ungleichheit, Gender, Europa
JEL-Classification: D31;D63;J30
Keywords: Social justice, Income and wealth inequalities, Europe
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2022-7-5
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/251410