DIW Wochenbericht 24 / 2022, S. 345-350
Stephanie Ettmeier, Alexander Kriwoluzky
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„Mit unserer Analyse der Brüningschen Sparpolitik, einer der folgenreichsten Austeritätsinterventionen der jüngeren Geschichte, liefern wir einen weiteren Beleg für die konjunkturbelastende Wirkung solcher Maßnahmen. Staaten können sich nicht einfach aus Rezessionen heraussparen.“ Stephanie Ettmeier
Im Mai 2022 hat sich das Ende von Reichskanzler Heinrich Brünings Amtszeit zum 90. Mal gejährt. Bis heute sind die ökonomischen Auswirkungen von Brünings extremer Austeritätspolitik noch immer ungeklärt. Neue Daten und Berechnungen erlauben erstmals die Quantifizierung der ökonomischen Folgen der von Brüning erlassenen Spardekrete. Eine Analyse auf Basis eines Zeitreihenmodells veranschaulicht, wie sich die Wirtschaft der Weimarer Republik ohne Brünings Sparmaßnahmen hätte entwickeln können. Die reale Wirtschaftsleistung sank demzufolge durch die Notverordnungen im Referenzjahr 1932 insgesamt um rund 4,5 Prozent und die Arbeitslosigkeit stieg stark. Vor diesem Hintergrund sollten Forderungen nach einer Schuldenreduzierung durch Austeritätspolitik heute hinterfragt werden.
Die Staatsschulden sind mit den finanzpolitischen Maßnahmen in der Corona-Pandemie in den vergangenen zwei Jahren stark gestiegen. In Deutschland lag die Schuldenquote im Jahr 2021 mit knapp 64 Prozent über den von den Maastricht-Kriterien geforderten 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Auf europäischer Ebene zeichnet sich ein ähnliches Bild ab; in einigen Staaten wie beispielsweise Italien erreicht sie mehr als 150 Prozent, in Griechenland liegt sie sogar bei 193 Prozent. Vor diesem Hintergrund steht fest, dass die Rückkehr zu nichtreformierten Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts, wie sie von einigen Seiten gefordert wird, eine drastische AusteritätspolitikUnter „Austerität“ wird ein wirtschaftspolitischer Kurs von Ausgabenkürzungen und/oder Steuererhöhungen verstanden. für viele Mitgliedstaaten unvermeidlich machen würde. Wie kontraproduktiv eine auf Sparmaßnahmen ausgerichtete Politik zum Beispiel in der Schuldenkrise für Griechenland und andere hoch verschuldete südeuropäische Länder war, haben einige Studien belegt.Vgl. Mathias Klein (2018): Niedriges Zinsniveau verstärkt negative Effekte der Austeritätspolitik. DIW aktuell Nr. 7 (online verfügbar, abgerufen am 7. Juni 2022). Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt. Philipp Engler und Mathias Klein (2017): Austeritätspolitik hat in Spanien, Portugal und Italien die Krise verschärft. DIW Wochenbericht Nr. 8 (online verfügbar).
Bei der Evaluierung der Folgen einer Austeritätspolitik ist ein Blick in die Weimarer Republik Anfang der 1930er Jahre lehrreich, in denen Deutschland unter der Weltwirtschaftskrise und hohen Schulden, verursacht auch durch die Reparationsforderungen aus dem Ersten Weltkrieg, litt. Gerade hat sich die Abdankung des Reichskanzlers Heinrich Brüning im Mai 1932 zum 90. Mal gejährt, der in seiner Amtszeit zwischen März 1930 und Mai 1932 eine Reihe weitreichender Sparmaßnahmen in Form von Notstandsdekreten erließ. Diese enthielten unter anderem Steuererhöhungen und drastische Lohn- und Pensionskürzungen, insbesondere für Staatsbeamte, und brachten Brüning den Spitznamen „Hungerkanzler“ ein (Kasten 1). Der Rückgang der Staatsausgaben zeigt das tatsächliche Ausmaß der Einschnitte: Im FiskaljahrEin Fiskaljahr erstreckt sich jeweils vom 01. April bis 31. März des Folgejahrs. Das Fiskaljahr 1931/1932 verläuft also vom 01. April 1931 bis 31. März 1932. 1931/1932 sind die Ausgaben im Vergleich zum Vorjahr um mehr als ein Fünftel gesunken.
In insgesamt fünf Notverordnungen setzte Heinrich Brüning seinen Austeritätskurs durch:
26.07.1930: Die Ende Juli 1930 verkündete Notverordnung war die erste einer Reihe von extremen Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen. Sie führte unter anderem eine zusätzliche Einkommensteuer für Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst ein (die sogenannte Reichshilfe) und verschärfte Anspruchskriterien für Sozialleistungen. Außerdem wurden die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung erhöht.
01.12.1930: Die Verordnung verhängte weitere Gehalts- und Rentenkürzungen für Beamte und reduzierte die Leistungen der Arbeitslosen- und Krankenversicherung. Darüber hinaus wurden die Sätze bestehender Steuern wie der Einkommensteuer erhöht und neue Steuern, wie eine Biersteuer oder die sogenannte Bürgersteuer, eingeführt.
05.06.1931: Die Notverordnung verhängte eine Krisensteuer. Darüber hinaus wurde eine Gehaltskürzung für Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst durchgesetzt und Arbeitslosenversicherungsleistungen und Krisenunterstützung um fünf Prozent gesenkt. Ebenso wurde der Zeitraum bis zum Anspruch auf Arbeitslosengeld verlängert und der Kinderzuschlag gekürzt.
06.10.1931: Die Notverordnung enthielt weitere Gehaltskürzungen im öffentlichen Dienst und erhöhte die Beitragsleistungen zur Arbeitslosenversicherung. Der Anspruchszeitraum für die Arbeitslosenunterstützung wurde gesenkt und das Anspruchsalter für Sozialleistungen erhöht. Außerdem wurde ein Baustopp für öffentliche Gebäude angekündigt und umfangreiche Rentenkürzungen für Beschäftigte im öffentlichen Dienst eingeleitet.
08.12.1931: Die Notverordnung senkte erneut die öffentlichen Löhne und setzte durch, dass die übrigen Löhne und Gehälter auf das 1927 vorherrschende Niveau gekürzt wurden. Zudem wurde der Anspruch auf Arbeitslosenversicherung auf maximal zwanzig Wochen gesenkt.
Die Spardekrete wurden zu einer Zeit erlassen, in der sich die Weimarer Republik bereits mitten in einer Wirtschaftskrise befand (Abbildung 1). Seit 1928 verschlechterte sich Deutschlands ökonomische Situation zunehmend. Schon vor Brünings Kanzlerschaft (hellgrün schattierter Bereich) begann das Bruttoinlandsprodukt zu sinken (grüne Linie) und die Arbeitslosigkeit stieg rapide an (orangene Linie). Auch international zeichnete sich ein düsteres Bild ab. Der Crash der New Yorker Börse im Oktober 1929 markierte den Beginn der Großen Depression. Dabei handelte es sich um die bis dato tiefste Weltwirtschaftskrise, die sich bis in die Mitte der 1930er Jahre zog. Außerdem brachte der Versailler Vertrag die Weimarer Republik mehrmals an den Rand der Zahlungsunfähigkeit. Der Vertrag von 1919 regelte die Reparationszahlungen an die Siegermächte des Ersten Weltkriegs. Die Reparationslasten wurden in nachfolgenden Verhandlungen auf 132 Milliarden Goldmark festgelegt. Obwohl sie im Verlauf mehrmals verringert und zum Teil ausgesetzt wurden, stellten die Zahlungen eine finanzielle Belastung für den deutschen Staatshaushalt dar.
Brüning reagierte auf die wirtschaftliche Notlage mit einer Austeritätspolitik. Da dem Kanzler dafür die parlamentarische Unterstützung fehlte, setzte er seine Sparpolitik in Form von fünf Notverordnungen durch (gestrichelte vertikale Linien). Er stütze sich dabei auf Artikel 48 der Weimarer Verfassung, der es ihm erlaubte, mit der Zustimmung des damaligen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg am Parlament „vorbeizuregieren“.
Die politische Lage war Anfang der 1930er Jahre bereits angespannt und Brünings Politik trug mit ihrer Unbeliebtheit zusätzlich zur Radikalisierung der Weimarer Gesellschaft bei. Hitler und die NSDAP führten eine offensive Kampagne gegen die Sparmaßnahmen und konnten auch dadurch stark von der negativen Stimmung in der Bevölkerung profitieren.Gregor Galofré-Vilà et al. (2021): Austerity and the Rise of the Nazi Party. The Journal of Economic History, 81(1), 81–113 (online verfügbar). Noch im Mai 1928 erhielten die Nationalsozialisten bei der Reichstagswahl weniger als drei Prozent der Stimmen. Ein halbes Jahr nach Brünings Amtsantritt bei der Wahl im September 1930 erreichten sie bereits 18,3 Prozent.Neben der ersten Notverordnung haben sicherlich auch andere Faktoren, wie die schon vor Brüning gestiegene Arbeitslosigkeit, zu dem Wahlerfolg der NSDAP vom September 1930 beigetragen, vgl. Galofré-Vilà et al. (2021), a.a.O. Im Juli 1932, also nur zwei Monate nach Brünings Rücktritt als Reichskanzler, konnten sie mit über 37 Prozent ihr Ergebnis noch einmal mehr als verdoppeln. Von da an dauerte es nur noch ein halbes Jahr bis Hitler im Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde.
90 Jahre nach Brünings Rücktritt sind die makroökonomischen Konsequenzen seiner Austeritätspolitik noch weitgehend ungeklärt. Die bisher verfügbaren vierteljährlichen Zahlen lieferten für die ökonomisch turbulente Zeit zu Beginn der 1930er Jahre bislang nur ungenaue Ergebnisse. Ein neu erstellter Datensatz mit monatlichen Staatseinnahmen und Staatsausgaben der Weimarer Republik und eine neu konstruierte Austeritätsschockreihe aus historischen Quellen ermöglichen es nun erstmals, die Wirkungen von Brünings Austeritätspolitik auf das Bruttoinlandsprodukt und die Arbeitslosigkeit zu quantifizieren.
Für den Zeitraum April 1927 bis Februar 1935 wird das monatliche Reichsbudget in detaillierte Einnahmen- und Ausgabenkategorien zerlegt.Albrecht Ritschl (2002) zeigt, dass von den Gesamtausgaben des öffentlichen Sektors zwischen 1930 und 1932 etwa 40 Prozent auf das Reich entfallen und etwa 60 Prozent auf die Länder, Gemeinden und Hansestädte. Tabelle A-12 in Albrecht Ritschl (2002): Deutschlands Krise und Konjunktur 1924–1934: Binnenkonjunktur, Auslandsverschuldung und Reparationsproblem zwischen Dawes-Plan und Transfersperre, Vol. 2, Berlin und Boston. Ausgangspunkt ist das 1935 von Ernst Wagemann herausgegebene „Konjunkturstatistische Handbuch“, insbesondere die darin enthaltenen aggregierten Zeitreihen zu monatlichen Einnahmen und Ausgaben des Reichs.Der deutsche Ökonom und Statistiker Ernst Wagemann (1884–1956) gilt als Begründer der empirischen Konjunkturforschung in Deutschland. 1925 gründete er das Institut für Konjunkturforschung, das heutige Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). Von 1923 bis 1933 war er außerdem Leiter des Statistischen Reichsamts. Das unter Wagemanns Federführung 1935 herausgegebene Konjunkturstatistische Handbuch war eine der detailliertesten ökonomischen Datensammlungen seiner Zeit. Darin finden sich rund 790 monatliche Zeitreihen zur Bevölkerung, zu Beschäftigung und Arbeitslosigkeit, Gütererzeugung, Investitionen, Verkehr, Handel, Löhnen und Preisen sowie Finanzstatistiken, vgl. Ernst Wagemann (Hrsg.) (1935): Konjunkturstatistisches Handbuch 1936, Abschnitt XVIII. Öffentliche Finanzwirtschaft; A. Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Verwaltung. Diese Statistiken umfassen den ordentlichen und außerordentlichen Haushalt und sind in Fiskaljahren organisiert. Da die aggregierten Budgetzahlen jedoch Reparationen oder auch stark konjunkturabhängige Komponenten wie soziale Transferzahlungen und Ausgleichszahlungen an Länder und Gemeinden enthalten, können diese nicht direkt in der empirischen Analyse verwendet werden. Stattdessen wird eine Vielzahl historischer Quellen genutzt, insbesondere unterschiedliche Auflagen des Statistischen Jahrbuchs für das Deutsche Reich und zahlreiche Ausgaben von Wirtschaft und Statistik, um die aggregierten Budgetzahlen in detaillierte Einnahmen- und Ausgabekategorien zu zerlegen (Tabelle).
Ausgaben | Einnahmen |
---|---|
1A: Überweisungen an Länder | 1E: Steuern, Zölle, Abgaben |
2A: Soziale Ausgaben | 2E: Kapitaleinkommen |
3A: Bezüge der BeamtInnen und Angestellten | 3E: Außerordentliche Steuern |
4A: Wohnungsbau, Vermögenswerte | 4E: Sonstige Einnahmen |
5A: Militär, Polizei, Verkehrswesen | |
6A: Reichsschuld und Deckung von Fehlbeträgen | |
7A: Kriegslasten | |
8A: Reparationen | |
9A: Sonstige Ausgaben |
Quelle: Eigene Darstellung.
Diese neue Zerlegung der Budgetzahlung erlaubt es, für die empirische Analyse geeignete Einnahmen- und Ausgabenvariablen zu konstruieren. Steuereinnahmen bestehen aus Steuern, Zöllen und Abgaben (1E) abzüglich der Summe der Steuerüberweisungen an die Länder (1A), soziale Ausgaben (2A) und Zinsen und Schuldenrückzahlungen (in 6A enthalten). Das Maß für die Staatsausgaben umfasst Bezüge an Beamte und Angestellte (3A), Ausgaben für Wohnungsbau und Vermögenswerte (4A), Ausgaben für Militär, Polizei und Verkehrswesen (5A) und Ausgaben zusammengefasst als Sonstige (9A). Mit diesen Einnahmen- und Ausgabenmaß werden 43 beziehungsweise 41 Prozent des gesamten Reichbudgets erfasst.
Ein weiteres zentrales Element dieser empirischen Analyse ist die aus historischen Quellen erstellte narrative Austeritätsschockreihe. Primär- und Sekundärquellen charakterisieren Brünings Haushaltskürzungen und Steuererhöhungen einheitlich als exogene wirtschaftspolitische Maßnahmen – getrieben entweder von seinen politischen Bestrebungen, die deutschen Reparationszahlungen vorzeitig zu beendenCarl-Ludwig Holtfrerich (1982): Alternativen zu Brünings Wirtschaftspolitik in der Weltwirtschaftskrise? Historische Zeitschrift 235, 605–632; Heinrich August Winkler (2018): Weimar 1918–1933: Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie. München., oder durch seine Absicht, Deutschlands Schuldner zu besänftigen, um den Zugang zu ausländischen Krediten sicherzustellen.Knut Borchardt (1979): Zwangslagen und Handlungsspielräume in der großen Wirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre: zur Revision des überlieferten Geschichtsbildes. Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 85–132; Harold James (1986): The German Slump: Politics and Economics 1924–1936. Oxford; Albrecht Ritschl, a.a.O. Die fünf Notverordnungen, die zwischen Juli 1930 und Dezember 1931 von Brüning erlassen wurden, liefern ein Quasi-Experiment für eine exogene Austeritätsintervention. Insbesondere wird das Wissen über die Richtung und das Timing dieser Schocks genutzt, um eine qualitative Austeritätsschockvariable zu konstruieren.Die Konstruktion von qualitativen Schockvariablen ist nicht neu in der empirischen makroökonomischen Literatur und steht in der Tradition von Christina D. Romer und David H. Romer (1989): Does Monetary Policy Matter? A New Test in the Spirit of Friedman and Schwartz, NBER Macroeconomics Annual 1989, Volume 4, 121–184 (online verfügbar), Valery A. Ramey und Matthew Shapiro (1998): Costly capital reallocation and the effects of government spending, Carnegie-Rochester Conference Series on Public Policy, 48, 145–194 (online verfügbar). Kartazyna Budnik und Gerhard Rünstler (2020): Identifying SVARs from sparse narrative instruments: dynamic effects of U.S. macroprudential policies, Working Paper Series 2353, European Central Bank (online verfügbar) und Lukas Boer und Helmut Lütkepohl (2021): Qualitative versus quantitative external information for proxy vector autoregressive analysis, Journal of Economic Dynamics and Control, 127 (online verfügbar) sind neuere Arbeiten, welche die gleiche Vorgehensweise wählen. In der hier vorgestellten Analyse wird die Schockvariable an den Ankündigungsdaten von Brünings Notverordnungen auf minus eins gesetzt (Juli 1930, Dezember 1930, Juni 1931, Oktober 1931, und Dezember 1931) und an den sonstigen Daten auf null. Gemeinsam mit den erstellten monatlichen Zeitreihen zum Reichshaushalt und anderen makroökonomischen Zeitreihen wird diese Austeritätsschockreihe verwendet, um in einem Zeitreihenmodell den Effekt von Brünings Austeritätspolitik zu quantifizieren (Kasten 2).
Eine ökonometrische Herausforderung bei der Evaluierung von wirtschaftspolitischen Maßnahmen ist die Identifikation kausaler Effekte. Ein Kausaleffekt ist dann identifiziert, wenn eindeutig von einer wirtschaftspolitischen Maßnahme auf eine bestimmte Wirkung ökonomischer Variablen geschlossen werden kann. Ohne identifizierende Annahmen ist nicht klar, ob das wirtschaftliche Geschehen die Politikmaßnahme bestimmt, oder die Politikmaßnahme das wirtschaftliche Geschehen, oder beides. Es werden daher von der Wirtschaftslage exogene Ereignisse untersucht, um Klarheit über die Wirkrichtung des wirtschaftspolitischen Effekts zu erlangen. In der vorliegenden Analyse wird auf eine narrative, also auf historischen Quellen basierende, Strategie zurückgegriffen, um eine exogene Austeritätsschockreihe zu konstruieren. Mit dieser Schockreihe lässt sich der kausale Effekt von Brünings Austeritätspolitik in einem Vektorautoregressiven (VAR) Modell analysieren.
Das bayesianisch geschätzte VAR-Modell beinhaltet sechs Variablen. Neben der Schockreihe an erster Stelle und der Staatseinnahmen- und Ausgabenvariable enthält es eine Preisvariable und die Reichsbankdiskontrate, um die Geldpolitik zu berücksichtigen. Das Modell wird abwechselnd mit dem Bruttoinlandsprodukt oder der Arbeitslosenrate geschätzt.
Die Schätzung des Modells ermöglicht die Berechnung kontrafaktischer Szenarien. Mit diesem Ansatz kann man vergleichen, wie sich Wirtschaftsleistung und Arbeitslosigkeit ohne Brünings Austeritätspolitik entwickelt hätten. Beginnend mit der ersten Notverordnung im Sommer 1930 und bis zum Ende von Brünings Kanzlerschaft im Mai 1932 übersteigt das kontrafaktische BIP (grüne Linie) das tatsächlich realisierte BIP (orangene Linie) (Abbildung 2). Die Notverordnungen hatten demnach für den Hauptteil von Brünings Amtszeit eine negative Wirkung auf die Wirtschaftstätigkeit. Die Differenz zwischen geschätztem und beobachtetem BIP wird ab August 1931 statistisch signifikant.
In Summe belaufen sich die Verluste aus den statistisch signifikant geschätzten Monaten auf 4,46 Prozent gemessen am BIP des Referenzjahres 1932. Setzt man diesen Verlust an Wirtschaftskraft ins Verhältnis zu den von Deutschland im Jahr 1930 geleisteten und als wirtschaftliche Belastung empfundenen Reparationszahlungen, belaufen sich die wirtschaftlichen Verluste aufgrund von Brünings Notverordnungen gar auf 239 Prozent.Für diese Berechnung werden die statistisch signifikant geschätzten BIP-Verluste (in Reichsmark, real und pro Kopf) ins Verhältnis mit den vom Deutschen Reich im Jahr 1930 gezahlten Reparationen (in Reichsmark, real und pro Kopf) gesetzt und mit 100 multipliziert. Dabei war 1930 das Jahr, in dem Deutschland die meisten Reparationszahlungen seit dem Ende des Ersten Weltkriegs geleistet hat.
Für den Arbeitsmarkt sieht das Bild ähnlich düster aus. Ab Oktober 1930 verläuft die geschätzte (grüne Linie) unter der tatsächlich realisierten Arbeitslosenquote (orangene Linie) und bleibt dort bis zum Ende von Brünings Kanzlerschaft (Abbildung 3).
Ohne die Sparpolitik wäre die Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren der Weimarer Republik also deutlich geringer gewesen. Außerdem nimmt die Lücke mit der Zeit zu. Brünings Fiskalpolitik trieb demnach die Arbeitslosigkeit zunehmend in die Höhe. Einen Monat nach Ankündigung der letzten Notverordnung wird der Unterschied auch statistisch signifikant. Allein für diesen signifikanten Zeitraum zwischen Januar und Juni 1932 belaufen sich die Folgen der Notverordnungen auf zusätzliche 3,31 Millionen Arbeitslose. Das entspricht neun Prozent der durchschnittlichen monatlichen Erwerbsbevölkerung des Jahres 1932.
Die Analyse zeigt, dass Brünings Konsolidierungsmaßnahmen keine stabilisierende Wirkung hatten, sondern zu einem Einbruch der Wirtschaftsleistung um zusätzliche 4,5 Prozent und zu 3,31 Millionen zusätzlichen Arbeitslosen führten – genau in einer Zeit, in der Deutschland bereits von der Weltwirtschaftskrise und einer Bankenkrise schwer getroffen wurde.
Diese beträchtlichen makroökonomischen Schäden blieben nicht ohne Auswirkungen. Jahre extremer wirtschaftlicher Not führten dazu, dass sich die Menschen von den etablierten Regierungsparteien abwandten und nach politischen Bewegungen suchten, die wirtschaftliche Alternativen versprachen. Es ist tragisch, dass die NSDAP diejenige Partei war, die am meisten profitieren konnte. Unter diesen Umständen kann Brünings Austeritätspolitik als fataler Brandbeschleuniger bezeichnet werden.
Auch in diesem Jahrhundert sind in Zeiten hoher Staatsverschuldung das Für und Wider von Austeritätspolitik heftig diskutiert worden, sei es während der Euroschuldenkrise, als die Troika (IWF, EZB und EU) Griechenland harte Sparmaßnahmen auferlegt hatte, sei es in der Corona-Krise, in der aktuell die Wiedereinhaltung der Maastricht-Kriterien angemahnt wird. In der Schuldenkrise hat die Austeritätspolitik in den Jahren 2010 bis 2014 die Situation der südeuropäischen Länder nachweislich verschärft. Da dies auch in der Ära Brüning vor 90 Jahren der Fall war, sollte auch jetzt genau überlegt und abgewogen werden, wie zielführend eine Austeritätspolitik wäre, um die Schuldenstände in den von der Pandemie und durch hohe Inflation gebeutelten europäischen Staaten abzubauen.
Sicherlich ist die aktuelle Situation eine andere als in den 30er Jahren. Aber auch in Europa und in Deutschland lassen sich verstärkt nationalistische Töne vernehmen, die vor diesem Hintergrund Anlass zur Sorge bereiten könnten. Und auch hier zeigen Studien, dass wachsende Perspektivlosigkeit und wirtschaftliche Unsicherheit die Abkehr von den Volksparteien beschleunigen können.Vgl. Christian Frank, Marcel Fratzscher und Alexander S. Kritikos (2018): AfD in dünn besiedelten Räumen mit Überalterungsproblemen stärker. DIW Wochenbericht Nr. 8 (online verfügbar, abgerufen am 7. Juni 2022)
JEL-Classification: C32;E62;E65;N14
Keywords: Austerity, Fiscal policy, Germany, Great Depression, Structural vector autoregression
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2022-24-1
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/261406