DIW Wochenbericht 39 / 2022, S. 499-505
Markus M. Grabka, Jürgen Schupp
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„Die Tafeln können einen kurzfristigen Ausgleich bei persönlichen oder gesellschaftlichen Krisen schaffen. Um Armut wirksam zu bekämpfen, müssen aber Reformen bei der Grundsicherung schnell auf den Weg gebracht werden.“ Markus M. Grabka
Mit der Corona-Pandemie, der vermehrten Zuwanderung ukrainischer Geflüchteter und den aktuell stark steigenden Lebensmittelpreisen rücken die Tafeln in das öffentliche Interesse. Debattiert wird, ob die Tafeln die steigende Zahl ihrer BesucherInnen und die mit ihr verbundenen finanziellen und organisatorischen Herausforderungen bewältigen können. Bisher lagen jedoch keine belastbaren empirischen Daten zur Nutzung von Tafeln vor. Erstmals präsentiert dieser Bericht daher auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) Befunde und Analysen zur Zahl der TafelbesucherInnen und ihrer soziodemografischen Aufteilung. Demnach besuchten im ersten Halbjahr 2020 etwa 1,1 Millionen Menschen in Deutschland Tafeln, um vergünstigte Lebensmittel zu erhalten. Darunter finden sich mehr Frauen, Personen mit einem Migrationshintergrund, geschiedene oder getrenntlebende Personen und Erwerbslose. Allein ein Viertel der Menschen, die von Tafeln profitieren, sind Kinder. TafelbesucherInnen weisen zudem einen eher schlechten Gesundheitszustand auf. TafelbesucherInnen verfügen erwartungsgemäß über unterdurchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen. Mehr als zwei Drittel der TafelbesucherInnen sind entsprechend von Armut bedroht. Damit die Tafeln nicht an ihre Grenzen stoßen, ist es zentral, die strukturellen Ursachen von Armut zu bekämpfen. Erhöhte Regelsätze der Grundsicherung und gezielte Unterstützungsmaßnahmen für Arbeitssuchende können verhindern, dass Tafelbesuche nötig werden. Die Tafeln selbst sollten – wie aktuell diskutiert – professionalisiert werden und vermehrt eine Lotsenfunktion auch für andere Unterstützungsmöglichkeiten des sozialen Sicherungssystems einnehmen.
Spätestens seit der Corona-Pandemie, der Zuwanderung ukrainischer Geflüchteter nach Deutschland und den jüngsten enormen Preissteigerungen bei Nahrungsmitteln und Energiekosten rücken sowohl die steigende Zahl an TafelbesucherInnen als auch die gestiegenen finanziellen und organisatorischen Herausforderungen der Tafeln in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Die Tafeln haben es sich zur Aufgabe gemacht, qualitativ einwandfreie Lebensmittel, die weggeworfen werden sollen, zu sammeln und mit Hilfe von Ehrenamtlichen an Bedürftige zu verteilen.
In den 1980er Jahren sind Tafeln zuerst in den USA und Kanada entstanden. In Deutschland wurde die erste Tafel 1993 in Berlin gegründet. Seitdem hat sich die Idee von Tafeln in Deutschland stark verbreitet, so dass aktuell rund 60000 zumeist ehrenamtliche HelferInnen in rund 950 gemeinnützigen Tafeln aktiv sind.Vgl. den aktuell verfügbaren Jahresbericht 2021 „Neue Wege“ des Tafel Deutschland e.V. (online verfügbar; abgerufen am 17. August 2022. Dies gilt auch für alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht, sofern nicht anders vermerkt). Laut der Selbstbeschreibung des Tafel Deutschland e.V. haben sich die Tafeln in den vergangenen Jahren „zur größten sozialen Bewegung der heutigen Zeit entwickelt, die Lebensmittel rettet und an sozial benachteiligte Menschen weitergibt.“Vgl. die Webseite des Tafel Deutschland e.V. (online verfügbar). Vor rund zehn Jahren wurde zudem der Foodsharing e.V. gegründet, der sich gemäß seiner Satzung weniger der Armutsmilderung als nachhaltiger Ernährung widmet (online verfügbar). Statt den strukturellen Ursachen von Armut, die beispielsweise mit einer bedarfsgerechteren Erhöhung der Regelsätze der Grundsicherung bekämpft werden könnten, steht bei der Tafelbewegung die Armutsbewältigung im Vordergrund.
Der Dachverband Tafel Deutschland e.V. stellt zwar ausgewählte Kennziffern zu den NutzerInnen von Tafeln zur Verfügung, ein breiteres Wissen über diese Personengruppe liegt aber abgesehen von wenigen Befragungen in einzelnen Einrichtungen oder qualitativer Studien kaum vor.In der Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE (BT-Drucksache 18/6011 vom 19. September 2015) wurde die damals vermutete Gesamtzahl von 1,5 Millionen Menschen, die die Angebote der Tafeln in Anspruch nehmen würden, nicht bestätigt und es wurde auf die fehlende bundesweite statistische Erfassung verwiesen (online verfügbar). Der Diakonie-Präsident Ulrich Lilie schätzte jüngst, dass die Tafeln „nur etwa zehn Prozent der Armen“ erreichen würden.Vgl. Annette Langer (2022): „Wir reden zu wenig über das Sozialverhalten der oberen Schichten“ – Interview mit Ulrich Lilie. Der Spiegel vom 13. Juli (online verfügbar). Das Ziel der vorliegenden Studie ist, auf Grundlage der am längsten in Deutschland laufenden Haushaltspanelbefragung, dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP)Das SOEP ist eine repräsentative jährliche Wiederholungsbefragung privater Haushalte, die seit 1984 in Westdeutschland und seit 1990 auch in Ostdeutschland durchgeführt wird. Vgl. Jan Goebel et al. (2018): The German Socio-Economic Panel (SOEP). Journal of Economics and Statistics, 239 (29), 345–360 (online verfügbar)., das in Zusammenarbeit mit Kantar erhoben wurde, Aussagen über TafelnutzerInnen in Deutschland zu treffen. Im Jahr 2020 wurde erstmals im Haushaltsfragebogen des SOEP eine entsprechende Frage zur Tafelnutzung von mindestens einer Person im Haushalt in den letzten 12 Monaten gestellt; es ist geplant die Frage im mehrjährigen Wiederholungsrhythmus zu replizieren (Kasten).
Die präsentierten Befunde beruhen auf einer erstmals im Jahr 2020 neu aufgenommen Frage des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), ob die beantwortende oder eine andere Person im Haushalt in den letzten zwölf Monaten eine der sogenannten Tafeln besucht haben, um dort Lebensmittel für den eigenen Bedarf beziehungsweise für den Bedarf des Haushalts mitzunehmen.
Die Erhebung erfolgte von Februar bis Dezember des Jahres 2020, wobei bis Mai die Feldarbeit in über 90 Prozent der Kernsamples abgeschlossen war sowie bereits rund 40 Prozent der Interviews in den ersten drei Monaten des Jahres 2020 durchgeführt wurden, damit vor der Einführung des ersten durch Corona bedingten Lockdowns. Gleichwohl erfolgten aufgrund der Corona-Pandemie im Erhebungsjahr 2020 jedoch mehr Interviews, die nicht mit einem in früheren Jahren üblichen persönlichen Besuch der InterviewerInnen verbunden waren, sondern erstmals auch mit telefonischen Auskünften sowie vermehrt auch durch schriftliches Beantworten der SOEP-Erhebungsinstrumente.Da keine quantitativen Informationen über die Inanspruchnahme von Tafeln erhoben wurden, ist davon auszugehen, dass die durch Corona bedingten Eindämmungsmaßnahmen im ersten Halbjahr 2020 keinen wesentlichen Einfluss auf die Untersuchungsergebnisse haben. Vgl. Axel Glemser und Martin Rathje (2020): An Overview of SOEP Fieldwork. In: 2020 SOEP Annual Report, 37–40 (online verfügbar).
Die Datenanalyse erfolgte auf Basis aller im Haushalt lebenden Personen, da nicht erfragt wurde, wer konkret die Tafel aufsucht, und es wurde die Annahme getroffen, dass alle im Haushalt lebenden Personen direkt oder indirekt durch den Tafelbesuch eines Haushaltsmitglieds Zugang zu zusätzlichen Nahrungsmitteln haben.Personen in Anstalten wie zum Beispiel Alters-, Pflege- oder Studentenheimen wurden aus der Analyse ausgeschlossen, da diese nicht systematisch im SOEP erhoben werden. Es ist davon auszugehen, dass die hochgerechnete Zahl der TafelbesucherInnen leicht unterschätzt sein dürfte, da in den Teilsamples von Geflüchteten die entsprechende Frage nicht gestellt wurde. Für die Schätzung der Quote der TafelbesucherInnen wurde aber eine Adjustierung von fehlenden Antworten auf Grundlage der Angaben von vergleichbaren Personengruppen aus den sogenannten Altstichroben vorgenommen.
Nach Angaben des SOEP beläuft sich die Zahl der BesucherInnen von Tafeln im ersten Halbjahr 2020 auf knapp 1,1 Millionen Menschen, dies entspricht etwa 1,3 Prozent der Menschen in Privathaushalten (Abbildung 1).Im internationalen Vergleich fällt damit die Inanspruchnahme von Tafeln eher niedrig aus, da Länder wie Frankreich mit 5,8 Prozent, die USA mit 11,9 Prozent oder auch Litauen mit 14,9 Prozent deutlich höhere Quoten aufweisen. Vgl. Ugo Gentilini (2013): Banking on Food: The State of Food Banks in High-income Countries. IDS Working paper 2013, Nr. 415, CSP working paper Nr. 008. Institute of Development Studies.
Unter den TafelbesucherInnen oder den Personen, die durch den Besuch eines Haushaltsmitglieds von den Angeboten profitieren, sind Frauen mit 54 Prozent etwas häufiger vertreten als Männer (Tabelle 1).Die Personen, die in Haushalten leben, in denen ein Tafelbesuch berichtet wurde, werden nach verschiedenen soziodemografischen Charakteristika beschrieben. Die berichteten relativen Anteile summieren sich jeweils auf 100 Prozent für die Gruppe der TafelbesucherInnen. Zusätzlich wird die Quote der Inanspruchnahme berichtet. Diese gibt an, wie hoch der Anteil der TafelbesucherInnen an der Gesamtbevölkerung ausfällt. Differenziert nach dem Alter fallen zwei Altersgruppen ins Auge: zum einen Kinder mit einem Anteil von 25 Prozent aller TafelnutzerInnen und zum anderen die Altersgruppe der 30- bis 44-Jährigen mit einem Anteil von 28 Prozent. Letztere dürfte die Elterngeneration der betroffenen Kinder repräsentieren. Einen unterdurchschnittlichen Anteil mit 12 Prozent weist die Gruppe der 65-Jährigen und Älteren auf.Es sei nochmals darauf aufmerksam gemacht, dass die Daten sich nicht allein auf die Personen beziehen, die selbst eine Tafel aufsuchten, sondern auch auf alle im Haushalt lebenden Personen (Kasten).
Anteile in Prozent
Tafelbesuch | Anteil der TafelbesucherInnen an der Bevölkerungsgruppe | ||
---|---|---|---|
ja | nein | ||
Geschlecht | |||
Männer | 47 | 49 | 1,1 |
Frauen | 54 | 51 | 1,2 |
Alter der Haushaltsmittglieder | |||
jünger als 18 Jahre | 25 | 16 | 1,8 |
18 bis 29 Jahre | 9 | 13 | 0,8 |
30 bis 44 Jahre | 28 | 19 | 1,7 |
44 bis 64 Jahre | 25 | 30 | 1,0 |
65 Jahre und älter | 12 | 22 | 0,7 |
Migrationshintergrund | |||
keinen | 63 | 78 | 1,0 |
erste Generation | 27 | 12 | 2,3 |
zweite und dritte Generation | 10 | 9 | 1,2 |
Haushaltstyp | |||
Ein-Personen-Haushalt | 33 | 20 | 1,9 |
(Ehe-)Paare ohne Kinder | 12 | 29 | 0,5 |
Alleinerziehende | 27 | 7 | 4,1 |
Paar mit Kindern im Alter von 16 Jahren oder jünger | 19 | 23 | 1,0 |
Paar mit Kindern im Alter von 17 Jahren und älter | 8 | 17 | 0,6 |
Sonstige Haushalte | 1 | 3 | 0,4 |
Familienstand | |||
verheiratet | 23 | 51 | 0,5 |
ledig | 40 | 30 | 1,4 |
geschieden/getrennt lebend | 31 | 12 | 2,6 |
verwitwet | 6 | 7 | 0,9 |
Erwerbsstatus | |||
Vollzeit | 11 | 40 | 0,3 |
Teilzeit | 3 | 14 | 0,2 |
Ausbildung | 3 | 2 | 1,3 |
Unregelmäßig, geringfügig | 7 | 5 | 1,4 |
Nicht erwerbstätig | 76 | 39 | 2,0 |
Bildungsniveau | |||
ohne, in Ausbildung | 37 | 20 | 1,9 |
Lehre, Berufsfachschule oder Ähnliches | 56 | 57 | 1,0 |
Fachhochschule, Universität | 7 | 24 | 0,3 |
Anmerkung: Personen in Privathaushalten.
Quelle: Eigene Berechnungen. Datenbasis: SOEP v37.
Da Personen mit Migrationshintergrund ein überdurchschnittliches Armutsrisiko aufweisenVgl. Markus M. Grabka (2022): Löhne, Renten und Haushaltseinkommen sind in den vergangenen 25 Jahren real gestiegen. DIW Wochenbericht Nr. 23, 329–337 (online verfügbar)., ist zu erwarten, dass diese Bevölkerungsgruppe auch häufiger Tafeln besucht. Dies bestätigt sich hier nur teilweise, denn nur Personen mit einem direkten Migrationshintergrund – also diejenigen, die im Ausland geboren wurden – nehmen Tafeln deutlich häufiger in Anspruch. Ihr Anteil beläuft sich auf 27 Prozent, gegenüber 12 Prozent bei Nicht-TafelbesucherInnen. Anders verhält es sich mit Personen mit Migrationshintergrund in der zweiten Generation, die etwa durchschnittlich häufig Tafeln besuchen.
Vor allem beeinflusst der Haushaltstyp maßgeblich die finanzielle Lage von Menschen. So weisen Alleinerziehende ein weit überdurchschnittliches Armutsrisiko auf.Von Armut bedroht sind Personen, deren bedarfsgewichtetes Haushaltsnettoeinkommen weniger als 60 Prozent des Medians der Gesamtbevölkerung beträgt. Vgl. Jan Goebel, Markus M. Grabka und Carsten Schroder (2015): Einkommensungleichheit in Deutschland bleibt weiterhin hoch – junge Alleinlebende und Berufseinsteiger sind zunehmend von Armut bedroht. DIW Wochenbericht Nr. 25, 571–586 (online verfügbar). Entsprechend findet sich in dieser Bevölkerungsgruppe auch eine deutlich überdurchschnittliche Inanspruchnahme von Tafeln mit einer Quote von gut vier Prozent beziehungsweise einem relativen Anteil von 27 Prozent. Überdurchschnittlich häufig besuchen mit 33 Prozent Menschen in Einpersonenhaushalten die Tafeln. Anders verhält es sich mit Paarhaushalten mit und ohne Kinder, die unterdurchschnittlich häufig Tafeln besuchen.
Sowohl Erwerbslosigkeit als auch eine Scheidung oder Trennung können Auslöser für eine aktuell schlechte finanzielle Lage sein und einen Tafelbesuch zur Folge haben. Personen, die solche Lebensereignisse erlebt haben, weisen entsprechend eine überdurchschnittliche Inanspruchnahmequote mit zwei beziehungsweise 2,6 Prozent auf.
Eng mit dem Aspekt der Erwerbslosigkeit ist das Bildungsniveau verbunden. Erwartungsgemäß gehen Menschen ohne beruflichen oder schulischen Bildungsabschluss überdurchschnittlich häufig mit einer Quote von knapp zwei Prozent zu Tafeln.
Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern deuten darauf hin, dass TafelbesucherInnen mit verschiedenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen konfrontiert sind.Vgl. beispielhaft Rachel Loopstra (2018): Rising food bank use in the UK: Sign of a new public health emergency? Nutrition Bulletin, 43 (1), 53–60 (online verfügbar). Dies bestätigt sich auch für Deutschland. Der Anteil der TafelbesucherInnen mit einem weniger guten oder schlechten Gesundheitszustand beläuft sich auf 35 Prozent (Abbildung 2). Der schlechte Gesundheitszustand geht häufig auch mit einer Erwerbsminderung beziehungsweise Schwerbehinderung einher. Für 32 Prozent der TafelbesucherInnen trifft dies zu. Auch Einschränkungen der mentalen Gesundheit gehen mit häufigerem Tafelbesuch einher. So haben sich 61 Prozent der TafelbesucherInnen in den letzten vier Wochen manchmal oder oft traurig gefühlt. Ein Wert, der deutlich höher als in der restlichen Bevölkerung liegt (42 Prozent).
Um die finanzielle Lage von TafelbesucherInnen beschreiben zu können, wird das im VorjahrDie Verwendung des Vorjahreseinkommens erscheint auch deshalb sinnvoll, da sich die Frage zum Tafelbesuch auf die letzten zwölf Monate bezieht. bezogene Haushaltsnettoeinkommen herangezogen und auf einen Monat umgerechnet.Um Unterschiede in der Haushaltszusammensetzung zu berücksichtigen, wird eine Bedarfsgewichtung vorgenommen. Danach erhält der Haushaltsvorstand ein Gewicht von eins, Kinder bis unter 14 Jahren ein Gewicht von 0,3 und alle weiteren Haushaltsmitglieder ein Gewicht von 0,5. Das Einkommen wird dann durch die Summe der Gewichte der Haushaltsmitglieder geteilt. Zur Darstellung der Ergebnisse werden Perzentilswerte der Verteilung ausgewiesen.Perzentile erhält man, wenn man die Population nach der Höhe des Einkommens sortiert und in 100 Untergruppen einteilt.
Über die ganze Verteilung hinweg weisen TafelbesucherInnen ein niedrigeres Haushaltsnettoeinkommen auf als Nicht-TafelbesucherInnen (Abbildung 3). Im Durchschnitt verfügen TafelbesucherInnen über ein bedarfsgewichtetes Haushaltsnettoeinkommen von rund 1200 Euro pro Monat, womit es halb so hoch ausfällt wie das der Nicht-TafelbesucherInnen mit etwa 2400 Euro.
Fragt man die Haushalte, wie viel sie pro Kopf im Monat für Lebensmittel ausgeben, so fallen diese absolut für TafelbesucherInnen mit rund 210 Euro nur wenig niedriger aus als die Ausgaben von Nicht-TafelbesucherInnen mit 240 Euro. Der relative Anteil der Lebensmittelausgaben am Haushaltsnettoeinkommen ist aber mit rund 18 Prozent annährend doppelt so hoch wie für Nicht-Tafelbesuchende mit zehn Prozent. Dies kann dahingehend interpretiert werden, dass die Tafeln vor allem genutzt werden, um nicht ausreichende Einkommen zu kompensieren.
Im Weiteren soll der Frage nachgegangen werden, ob auch Personen, die ein Einkommen über der Armutsrisikoschwelle beziehen, Tafeln in Anspruch nehmen, um damit Hinweise zur Zielgenauigkeit dieses Angebots zu erhalten (Abbildung 4). Die ArmutsrisikoschwelleZur Definition der Armutsrisikoschwelle vgl. den Eintrag „Armut“ im Glossar auf der Webseite des DIW Berlin (online verfügbar). lag für 2019 nach Angaben des SOEP bei 1266 Euro pro Monat für einen Einpersonenhaushalt. 16,5 Prozent der Bevölkerung waren demnach von Armut bedroht. Mehr als zwei Drittel der TafelbesucherInnen (71 Prozent) haben ein Einkommen unterhalb dieser Armutsrisikoschwelle. Entsprechend verfügen immerhin 29 Prozent über ein bedarfsgewichtetes Haushaltsnettoeinkommen von mehr als 1266 Euro im Monat. Dies ist insofern ein relevanter Befund, da verschiedene Tafeln die Hilfsbedürftigkeit nach eigenen Maßstäben, zum Beispiel anhand von Grundsicherungsbescheiden oder Einkommensnachweisen, prüfen, während andere bewusst auf ein solches Vorgehen verzichten, um zu vermeiden, Bedürftige auszuschließen. Anderseits ist zu berücksichtigen, dass immerhin 15 Prozent der Personen, die keine Tafeln besuchen, von Armut bedroht sind. Mögliche Erklärungen sind, dass es nicht in allen deutschen Städten Tafeln gibt, dass nicht alle Berechtigten das lokale Angebot kennen, aber auch dass es bei Nicht-NutzerInnen ein Schamempfinden geben könnte.Vgl. Stefan Selke (2015): Schamland. Die Armut mitten unter uns. Berlin, 249–250.
Neben dem Armutsrisiko wird im SOEP auch der Bezug von Grundsicherungsleistungen im Vorjahr abgefragt. So lebten von den Tafelbesuchenden rund drei Viertel in Haushalten, die Grundsicherungsleistungen beziehen. Wird zusätzlich Wohngeld berücksichtigt, so liegt der Anteil gar bei 78 Prozent. Hinter der verbleibenden Gruppe der 22 Prozent der TafelbesucherInnen ohne Grundsicherungs- oder Wohngeldbezug verbirgt sich eine relativ kleine Zahl von RentnerInnen.
In Deutschland können die Tafeln sozialstaatliche Existenzsicherung nicht ersetzen, sondern ergänzen sie. Gleichwohl kommt auch in Deutschland den Tafeln seit Jahren eine wichtige subsidiäre Rolle im Sozialleistungssystem zu. Angesichts dieser Bedeutung ist es eine kontroverse gesellschaftliche Debatte, ob eine solche dauerhafte und verfestigte Praxis der Armutslinderung sinnvoll ist. In den vergangenen zwei Jahren hat sich gezeigt, dass die Tafeln eine wichtige Rolle dabei spielen können, kurzfristige Krisen wie ungeplante Zuwanderung aus Kriegsgebieten oder plötzliche Preissteigerungen im Lebensmittelbereich zu bewältigen. So hat seit Russlands völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine die Zahl der Menschen, die bei Tafeln um Unterstützung bitten, nochmals zugenommen, während gleichzeitig LebensmittelspendenHierfür ist vielfach auch ein besseres Produktmanagement der Supermärkte die Ursache, indem Lebensmittel, deren Ablaufdatum näher rückt, preiswerter verkauft werden. zurückgegangen sind. Die Tafeln stoßen damit vielerorts an ihre Grenzen. Etwa ein Drittel der Tafeln musste bereits einen Aufnahmestopp einführen.Vgl. die Webseite des Tafel Deutschland e.V. (online verfügbar).
Letztlich stellt sich auch gerade vor dem Hintergrund der sprunghaft gestiegenen Inflation die Frage, ob es genügt, den Regelsatz wie im Bürgergeldgesetz vorgesehen als Anpassung an die Inflation auf 502 Euro anzuheben oder ob zudem geprüft werden sollte, ob der Regelsatz auf Basis einer sachgerechten Berechnungsgrundlage noch weiter erhöht werden muss.Vgl. zur Diskussion um sachgerechtere Referenzeinkommensbereiche bei der Regelsatzermittlung Irene Becker (2022): Sicherung des Existenzminimums mit Regelleistungen. Kritische Anmerkungen und Reformüberlegungen zu Hartz IV und zum Familienlastenausgleich. In: Florian Blank, Claus Schäfer und Dorothea Spannagel (Hrsg.): Grundsicherung weiterdenken. Bielefeld, 61–83. Angesichts des hohen Anteils von Kindern unter der Gruppe der Tafelnutzenden sollte neben der geplanten Erhöhung des Kindergeldes im Rahmen des Entlastungspakets auch das zweite große sozialpolitische Reformprojekt der Ampelkoalition – eine KindergrundsicherungVgl. das Arbeitsprogramm der von der Bundesregierung eingesetzten interministeriellen Arbeitsgruppe zur Konzeption der Kindergrundsicherung (online verfügbar). – zügig umgesetzt werden, um künftig Kinderarmut in Deutschland wirksam zu reduzieren und Eltern den Gang zur Tafel zu ersparen.
Wichtig ist zudem, dass Qualifizierungsmaßnahmen und Maßnahmen, die eine Erwerbsaufnahme beziehungsweise eine Ausweitung der Arbeitszeit fördern, mit dem neuen Bürgergeldgesetz zum 1. Januar 2023 umgesetzt werden. Um dies zu erreichen, ist zu begrüßen, dass künftig der sogenannte Vermittlungsvorrang gestrichen wird und stattdessen Qualifizierung und Umschulung bei Langzeitarbeitslosen fokussiert werden. Weiterhin sollte der soziale Arbeitsmarkt für schwer vermittelbare Langzeitarbeitslose entfristetDer Entwurf des Bürgergeldgesetzes sieht vor, dass die beiden seit 2019 lediglich befristet eingeführten Instrumente zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsmarkt als Regelinstrumente dauerhaft verankert werden. und Coaching-Angebote zur begleitenden Reintegration in den Arbeitsmarkt bereitgestellt werden. Ambivalent ist dagegen die geplante Ausweitung der Midi-Jobs zum 1. Oktober: Zwar werden so die Anreize zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit erhöhtVgl. die Webseite des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (online verfügbar)., jedoch ist es der Regierung – ausgenommen die Gleitzone von 502 Euro bis 1000 Euro – nicht gelungen, die sogenannte Transfer-Entzugsrate durchgängig auf 70 Prozent zu senken, um so mehr generelle Anreize für die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit neben dem Transferbezug zu setzen. Gleichwohl enthält der Bürgergeldentwurf eine Reihe weiterer großzügigerer Zuverdienstsmöglichkeiten, die auch auf hohe Zustimmung bei den Langzeitarbeitslosen selbst stoßen.Siehe hierzu die empirischen Befunde in Fabian Beckmann et al. (2022): Bürgergeld statt Hartz IV: Was sich Langzeitarbeitslose von der geplanten Reform erhoffen. DIW Wochenbericht Nr. 31/32, 411–420 (online verfügbar).
Vor diesem Hintergrund sind vor allem Länder und Kommunen gefordert, einerseits lokale Tafel-Initiativen verlässlich zu unterstützen. Ein aktuelles ProjektEin Beispiel ist das Projekt „Tafeln als Kompetenz- und Lotsenzentren“ der Tafel-Akademie, gefördert durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (online verfügbar). der Bundesregierung fördert die Bemühungen, die Tafeln zu professionalisieren, um sie so zu einem niedrigschwelligen Angebot für vulnerable Bevölkerungsgruppen aufzubauen. So könnten die Tafeln auch eine Lotsenfunktion für andere Elemente des sozialen Sicherungssystems einnehmen. Im Rahmen des nächsten Armuts- und Reichtumsberichts könnte zudem ein Monitoring sowohl der Tafelnutzenden als auch der ehrenamtlich aktiven HelferInnen durchgeführt werden.
Themen: Verteilung, Ungleichheit
JEL-Classification: D31;I31;J31
Keywords: food banks, SOEP, poverty
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2022-39-1
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/265858