Interview vom 4. Oktober 2022
DIW-Präsident Marcel Fratzscher attestiert der Regierung zu wenig Tempo und zu wenig Hilfe für viele Bürger. Die Teuerung könnte die nächsten fünf Jahre bei drei bis vier Prozent bleiben. Dieses Interview erschien am 01. Oktober 2022 in der Süddeutschen Zeitung. Interview: Marc Beise und Alexander Hagelüken.
Marcel Fratzscher, 51, gilt als einflussreicher Berater der Regierung. Im Gespräch hat der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) neben Lob auch Kritik für sie: Sie verkenne die soziale Dimension der Krise. Den neuen Ausgleichsschirm hält er für groß genug. Er fürchtet aber, dass das Geld zu spät bei den betroffenen Menschen und Unternehmen ankommt und mal wieder zu viel per Gießkanne verteilt wird.
SZ: Herr Fratzscher, Deutschland steckt seit dem russischen Überfall auf die Ukraine in der Energiekrise. Das ganz Land rätselt: Wie schlimm wird der Winter und das Jahr darauf?
Marcel Fratzscher: Die hoffnungsvolle Nachricht ist: Wir sehen keine tiefe Rezession, verglichen mit Corona. Die Wirtschaft wird 2023 wohl nur leicht schrumpfen, vor allem weil die Verbraucherinnen und Verbraucher weniger konsumieren. Auch wird die Arbeitslosigkeit nicht stark steigen. Jetzt die schlechte Nachricht: Die Entwicklung ist höchst unsozial, vor allem wegen der anhaltend hohen Inflation, die auch Lohnerhöhungen weit übertreffen wird. Menschen mit geringen und mittleren Einkommen zahlen den höchsten Preis für die Krise. Wir sehen eine weiter zunehmende soziale Polarisierung.
Hat die Regierung bisher genug getan?
Die Maßnahmen sind in ihrer Gesamtgröße gut, aber sie sind nicht zielgenau genug, weil sie den verletzlichsten Menschen und Unternehmen zu wenig helfen.
Wer ist für Sie eigentlich der beste Krisenmanager? Der Grüne Habeck? SPD-Kanzler Scholz? FDP-Finanzminister Lindner?
Ach, allen dreien muss ich Respekt zollen. Jeder macht gute Arbeit, wenn man bedenkt, dass Ukraine-Krieg und Energiekrise nicht vorhersehbar waren und so noch nie da. Aber die Geschwindigkeit ist zu langsam. Und was jetzt passiert, konnten sie vor sechs Monaten wissen. Und längst reagieren.
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Themen: Ungleichheit , Verteilung