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Die deutsche Sparwut schadet

Blog Marcel Fratzscher vom 10. Oktober 2022

Die aktuelle Krise wird durch den schwachen Konsum verstärkt. Gleichzeitig wird sehr viel gespart. Ließe sich das Geld nicht besser verwenden?

200 Milliarden Euro soll der neue Abwehrschirm der Bundesregierung kosten. Können wir als Gesellschaft uns das überhaupt leisten? Sind das nicht zu viele Schulden, die künftige Generationen stark belasten? Die provokative Antwort lautet: Der Staat kann sich das nicht nur leisten, er muss es sich sogar leisten. Außerdem werden die 200 Milliarden Euro nicht ausreichen, um die Wirtschaft genügend zu stabilisieren. Die Politik wird nachlegen müssen, um die ökologische und wirtschaftliche Transformation möglich zu machen, ohne die unsere Wirtschaft verheerenden Schaden nehmen würde – ganz zu schweigen vom Klima.

Dieser Text erschien am 7. Oktober 2022 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Bevor Sie jetzt empört aufschreien, betrachten Sie die folgenden Zahlen und Fakten. Die deutsche Gesellschaft spart in diesem Jahr 160 Milliarden Euro und könnte ihre Nettoersparnisse 2023 – den sogenannten Leistungsbilanzüberschuss – nochmals erhöhen. Diese 160 Milliarden Euro entsprechen vier Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung, die die Menschen in diesem Land, die Unternehmen und der Staat zusammen mehr erwirtschaften, als sie für Konsum oder für Investitionen ausgeben. 

Anders ausgedrückt, obwohl sich viele Menschen und Unternehmen verschulden müssen und nicht wissen, wie sie die gestiegenen Kosten für Energie, Lebensmittel und viele andere Dinge der Grundversorgung stemmen sollen, sparen andere Menschen und Unternehmen so enorm große Summen, dass sie die zusätzliche Verschuldung von Staat und manchen Bürgerinnen und Bürgern mehr als kompensieren könnten. Und häufig investieren sie riesige Summen im Ausland, anstatt dies in Deutschland zu tun. 

Eine Möglichkeit, um die Entlastungspakete und Abwehrschirme zu finanzieren, wäre daher, dass der Staat sich einen Teil dieser riesigen privaten Ersparnisse leiht, um sie dann durch Steuersenkungen, Einmalzahlungen oder andere Hilfen wieder an die Menschen und Unternehmen zurückzugeben. Damit ließe sich die Schwäche bei Konsum und Investitionen teilweise kompensieren – in der Hoffnung, dass dieses Geld den Lebensstandard möglichst vieler Menschen und somit die private Nachfrage stabilisiert. Nur so lässt sich ein stärkerer wirtschaftlicher Einbruch, ein Anstieg der Arbeitslosigkeit, eine Vielzahl an Unternehmensinsolvenzen und damit ein permanenter Schaden für Wirtschaft und Gesellschaft verhindern.

Das Problem der Umverteilung

Eine berechtigte Kritik an den bisherigen Entlastungspaketen lautet, dass hierbei freiwillig oder unfreiwillig nach dem Gießkannenprinzip verfahren wird. Der Staat verteilt also nicht von denjenigen um, die viel sparen, zu denjenigen, die ohne staatliche Hilfe ihre Lebensgrundlage nicht bestreiten könnten. Sondern er leiht sich viele der Gelder von denjenigen, an die er diese dann als Auszahlung, Steuersenkung oder Einmalzahlung wieder zurückgibt. Beispiele hierfür sind der Tankrabatt und die Abfederung der kalten Progression. Es sind Maßnahmen, bei denen 70 Prozent der zwölf Milliarden Euro an Entlastungen den einkommensstärksten 30 Prozent zugutekommen.

Dieses Vorgehen in Krisenzeiten, private Ersparnisse zu mobilisieren, um eine noch tiefere Krise zu verhindern und eine schnelle Erholung möglich zu machen, ist eine zentrale Aufgabe des Staates. Wenn der Staat solche Ausgaben klug gestaltet, sodass eine schnelle und nachhaltige wirtschaftliche Erholung möglich ist, dann sind kurzfristig Schulden gut in die Zukunft investiert. Eine schnelle Erholung führt zu höheren Steuereinnahmen und damit zu einem schnelleren Abbau der Staatsschulden in der Zukunft. Staatsschulden in solchen Krisen sind daher keine schlechten, sondern gute Schulden, weil sie kurzfristig und langfristig den Wohlstand einer Gesellschaft erhöhen. Aus diesem Grund ist das Festhalten an der Schuldenbremse jetzt in dieser Krise so unsinnig und kontraproduktiv. Es sei denn, Sie haben ein tiefes Misstrauen gegenüber dem Staat und sind der Überzeugung, der Staat werfe in diesen Krisenzeiten viel Geld aus dem Fenster.

Die Frage ist jedoch auch, wieso der Staat die Wirtschaft in Krisenzeiten so stark stabilisieren muss, wenn so viel Erspartes vorhanden ist. Und wieso vor allem der private Konsum so stark einbricht. Wäre es nicht besser, dass statt des Staates Menschen und Unternehmen selbst ihre Ersparnisse in Krisenzeiten nutzten, um höhere Ausgaben zu finanzieren? Die Antwort ist ein klares Ja. Nur besteht das große Problem in Deutschland darin, dass private Ersparnisse extrem ungleich verteilt sind. Kaum ein Land in Europa hat eine so hohe Ungleichheit bei privaten Vermögen wie Deutschland.

Die hohe Ungleichheit schwächt den Konsum

Das größte Problem dabei ist, dass 40 Prozent der Menschen in Deutschland praktisch keine nennenswerten Ersparnisse haben. Die Ursachen sind vielfältig: Der Niedriglohnsektor ist ungewöhnlich groß und viele Beschäftigte arbeiten in Teilzeit. Kaum ein Land besteuert Arbeit stärker und Vermögen geringer als Deutschland. Und soziale Mobilität und Chancengleichheit sind gering.

All dies bedeutet, dass es in kaum einem Land, und erst recht nicht in einem so reichen Land wie Deutschland, so viele Menschen mit so wenig Ersparnissen und einer so unzureichenden privaten Vorsorge gibt. Das rächt sich jetzt in dieser Krise vielfach. Ein großes Problem für Wirtschaft und Gesellschaft ist, dass die hohe Ungleichheit und die Zunahme der Ersparnisse jetzt den privaten Konsum massiv schwächen. Daher könnte die Rezession sehr viel tiefer und schwerer ausfallen als bisher erwartet. Die wirtschaftliche Erholung könnte deutlich länger dauern und dauerhaften Schaden anrichten, denn Menschen werden lange brauchen, um ihre Verschuldung zu reduzieren und den Konsum wieder zu erhöhen.

Was ist zu tun? Die Politik muss nun dringend ihre Entlastungspakete sehr viel zielgenauer gestalten als bisher. Wir brauchen eine deutlich stärkere Umverteilung hin zu Menschen mit geringen und mittleren Einkommen, also die unteren 50 Prozent, die meist nicht oder kaum sparen können und die ihren Konsum einschränken müssen, obwohl sie schon einen Großteil für den Grundbedarf wie Nahrungsmittel und Wohnen ausgeben. Ein Strom- und Gaspreisdeckel allein wird dies nicht leisten können, weitere Maßnahmen müssen folgen, vor allem Direktzahlungen und eine Erhöhung der sozialen Leistungen, auch für die Menschen in der Grundsicherung. Der Staat sollte zudem vor allem kleine und mittlere Unternehmen stärker unterstützen, um durch diese Krise zu kommen. 

Es ist ein wirtschaftliches und gesellschaftliches Problem, dass die massiven Ersparnisse von Menschen und Unternehmen in Deutschland zu so einem erheblichen Maße ins Ausland fließen und zumindest in dieser Krise nicht viel stärker in Deutschland investiert werden. Es ist die Aufgabe des Staates, diese riesigen privaten Ersparnisse in Deutschland zu mobilisieren, im Sinne von Gesellschaft und Wirtschaft gleichermaßen. Dies würde den Wohlstand kurzfristig wie langfristig sichern helfen.

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