Direkt zum Inhalt

Die deutsche Sparwut schadet: Kommentar

DIW Wochenbericht 41 / 2022, S. 536

Marcel Fratzscher

get_appDownload (PDF  75 KB)

get_appGesamtausgabe/ Whole Issue (PDF  2.37 MB - barrierefrei / universal access)

200 Milliarden Euro soll der neue Abwehrschirm der Bundesregierung kosten. Können wir als Gesellschaft uns das überhaupt leisten? Sind dies nicht zu viele Schulden, die künftigen Generationen auf die Füße fallen? Die provokative Antwort lautet: Der Staat kann sich das nicht nur leisten, er muss es sich sogar leisten. Und: diese 200 Milliarden Euro werden nicht ausreichen, um die Wirtschaft ausreichend zu stabilisieren. Die Politik wird nachlegen müssen.

Dieser enormen Summe steht aber eine ähnlich hohe Zahl gegenüber, die erstaunt: Die deutsche Gesellschaft spart in diesem Jahr 160 Milliarden Euro und könnte seine Nettoersparnisse 2023 – den so genannten Leistungsbilanzüberschuss – nochmals erhöhen. Diese 160 Milliarden Euro entsprechen vier Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung, die die Menschen in diesem Land, die Unternehmen und der Staat zusammen mehr erwirtschaften, als sie für Konsum oder für Investitionen ausgeben. Anders ausgedrückt, obwohl sich viele Menschen und Unternehmen verschulden müssen und nicht wissen, wie sie die gestiegenen Kosten für Energie, Lebensmittel und viele andere Dinge der Grundversorgung stemmen sollen, sparen andere Menschen und Unternehmen so enorm große Summen, dass sie die zusätzliche Verschuldung von Staat und manchen Bürgerinnen und Bürgern kompensieren könnten. Sie investieren diese riesigen Summen im Ausland, anstatt dies in Deutschland zu tun.

Eine Möglichkeit, um Entlastungspakete und Abwehrschirm zu finanzieren, wäre daher, dass der Staat sich einen Teil dieser riesigen privaten Ersparnisse leiht, um sie dann durch Steuersenkungen, Einmalzahlungen oder andere Hilfen wieder an die Menschen und Unternehmen zurückzugeben. Nur wenn sich die Schwäche bei Konsum und Investitionen teilweise kompensieren können, kann ein stärkerer wirtschaftlicher Einbruch, ein Anstieg der Arbeitslosigkeit, Unternehmensinsolvenzen und damit ein permanenter Schaden für Wirtschaft und Gesellschaft verhindert werden.

Die Frage ist jedoch, wieso der Staat die Wirtschaft in Krisenzeiten so stark stabilisieren muss, wenn so viel gespart wird. Und wieso vor allem der private Konsum so stark einbricht. Wäre es nicht besser, dass statt des Staates Menschen und Unternehmen selbst ihre Ersparnisse in Krisenzeiten nutzten, um höhere Ausgaben zu finanzieren? Die Antwort ist ein klares Ja, nur besteht das große Problem in Deutschland, dass private Ersparnisse extrem ungleich verteilt sind. Kaum ein Land in Europa hat eine so hohe Ungleichheit bei privaten Vermögen wie Deutschland. Das größte Problem dabei ist, dass 40 Prozent der Menschen in Deutschland praktisch keine nennenswerten Ersparnisse haben. Die hohe Ungleichheit rächt sich jetzt in dieser Krise vielfach. Zusammen mit der Zunahme der Ersparnisse schwächt sie jetzt den privaten Konsum massiv. Daher könnte die Rezession sehr viel tiefer und schwerer ausfallen, als bisher erwartet.

Was ist zu tun? Die Politik muss nun dringend ihre Entlastungspakete sehr viel zielgenauer gestalten als bisher. Wir brauchen eine deutlich stärkere Umverteilung hin zu Menschen mit geringen und mittleren Einkommen, also die unteren 50 Prozent, die meist nicht oder kaum sparen können und die ihren Konsum einschränken müssen. Ein Strom- und Gaspreisdeckel alleine wird dies nicht leisten können, weitere Maßnahmen müssen folgen, vor allem Direktzahlungen und eine Erhöhung der sozialen Leistungen, auch für die Menschen in der Grundsicherung. Und er sollte vor allem kleine und mittlere Unternehmen stärker unterstützen, um durch diese Krise zu kommen.

Es ist ein wirtschaftliches und gesellschaftliches Problem, dass die massiven Ersparnisse von Menschen und Unternehmen in Deutschland ins Ausland fließen und zumindest in dieser Krise nicht viel stärker in Deutschland investiert werden. Es ist die Aufgabe des Staates, diese privaten Ersparnisse in Deutschland zu mobilisieren. Dies würde den Wohlstand kurzfristig wie langfristig sichern helfen.

Der Beitrag ist in einer längeren Fassung am 7. Oktober 2022 bei Zeit online erschienen

keyboard_arrow_up