DIW Wochenbericht 48 / 2022, S. 635-642
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„Damit alle Kinder von den Ganztagsangeboten profitieren und sie gerne nutzen, muss sich unter anderem die Hausaufgabenhilfe klar verbessern. Das geht nur mit einheitlichen Qualitätsstandards und mehr Personal – hier muss dringend investiert werden.“ Laura Schmitz
Der Ausbau hin zu einem flächendeckenden Ganztagsangebot für Grundschüler*innen seit 2003 zielte darauf ab, Chancengleichheit zu fördern. Empirische Analysen auf Basis administrativer Schuldaten aus sechs westdeutschen Bundesländern und dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) zeigen nun wichtige Muster der Wirkungen von Ganztagsschulen auf: Kinder aus sozio-ökonomisch benachteiligten Verhältnissen, insbesondere von Alleinerziehenden oder aus Familien, die Sozialleistungen beziehen, nehmen häufiger am Ganztag teil. Gleichzeitig profitieren Kinder alleinerziehender Eltern eher von der Teilnahme, etwa gemessen an sozialen Fähigkeiten. Somit helfen Ganztagsschulen dabei, Ungleichheiten im Bildungssystem abzubauen. Zudem zeigen sich Unterschiede in Bezug auf die Freiwilligkeit der Teilnahme: Kinder, die bereitwillig an den Betreuungsangeboten teilnehmen, profitieren eher in Hinblick auf ihr sozio-emotionales Verhalten. Es zeigt sich eine „positive Selektion“ in Ganztagsschulen: Diejenigen, die sich für eine Teilnahme entscheiden, profitieren am meisten. Dies spricht für das Modell offener Ganztagsschulen mit freiwilligem Nachmittagsangebot. Um auch Verbesserungen in den Schulleistungen zu erzielen, müsste mehr in die pädagogische Qualität investiert werden.
Immer mehr Schüler*innen in Deutschland scheitern an den Mindeststandards in Deutsch und Mathematik. Dabei geht die Schere zwischen sozio-ökonomisch benachteiligten und privilegierten Schüler*innen immer weiter auseinander – das bescheinigt der neueste IQB-Bildungstrend.Petra Stanat et al. (Hrsg.) (2022): IQB-Bildungstrend 2021: Kompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik am Ende der 4. Jahrgangsstufe im dritten Ländervergleich. Waxmann Verlag. Deshalb stellt sich einmal mehr die Frage, welche politischen Maßnahmen dazu beitragen können, Bildungsungleichheiten zu verringern. Der Ausbau hin zu einem flächendeckenden Ganztagsangebot seit 2003 hatte dies zum Ziel. Bisher gibt es jedoch wenig kausale Evidenz dafür, dass Ganztagsschulen sich tatsächlich positiv auf Schüler*innen insgesamt und speziell auf solche mit niedrigem sozio-ökonomischem Status ausgewirkt haben. Dazu zählen beispielsweise Kinder, die in einem Haushalt mit geringem Einkommen aufwachsen oder deren Eltern einen niedrigen Bildungsstand haben. Zudem war bislang unklar, ob die Schüler*innen, die am meisten von den Programmen profitieren würden, sich auch für die Teilnahme entscheiden. Das ist bedeutsam für die Frage, wie der Ganztag organisiert werden sollte: mit freiwilliger oder verpflichtender Teilnahme an der Nachmittagsbetreuung. Aktuell ist die Mehrheit (74 Prozent in Westdeutschland im Jahr 2020) der Grundschulen mit Ganztagsangeboten als offene Ganztagsschule organisiert, bei der die Teilnahme am Nachmittagsprogramm freiwillig ist. Die strengste Form der Ganztagsschule ist die gebundene Ganztagsschule, bei der alle Schüler*innen der jeweiligen Grundschule zur Teilnahme an den Nachmittagsangeboten verpflichtet sind. Diese Form macht aktuell neun Prozent aller westdeutschen Ganztagsschulen im Primarbereich aus.Kultusministerkonferenz (2021): Allgemeinbildende Schulen in Ganztagsform in den Ländern in der Bundesrepublik Deutschland: Statistik 2016 bis 2020 (online verfügbar, abgerufen am 27.10.2022). Im teilgebundenen Modell ist die Teilnahme entweder nur an bestimmten Wochentagen verpflichtend oder nur für bestimmte Klassen(stufen).
Diesen Fragen wird mit Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) nachgegangen, die für diesen Zweck mit administrativen Grundschuldaten aus sechs westdeutschen Bundesländern verknüpft wurden. Dabei werden Effekte auf Schulleistungen und sozio-emotionales Verhalten der Kinder im Alter von neun bis zehn Jahren gemessen (Kasten 1).
Die Analyse beruht auf den geo-referenzierten Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP). Das SOEP ist eine repräsentative Befragung privater Haushalte, die seit 1984 jährlich durchgeführt wird.Jan Goebel et al. (2019): The German socio-economic panel (SOEP). Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 239, No. 2 (2019): 345–360. Die Anzahl der Befragten pro Welle variiert von Jahr zu Jahr und ist im Laufe der Zeit gestiegen: Zuletzt wurden pro Jahr etwa 30000 Personen befragt. Mit anonymisierten Regionalinformationen bis hin zu den Koordinaten des Straßenblocks der SOEP-Befragten lassen sich zahlreiche Regionalindikatoren mit den SOEP-Daten verknüpfen. In diesem Fall werden sie mit Adressdaten von Grundschulen mit Ganztagsbetreuung in Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz für die Jahre 2002 bis 2018 verbunden.Nicht alle Jahre sind in den aufgezählten Bundesländern abgedeckt. Genauer konnten als Antwort auf eine landesübergreifende Anfrage Daten aus folgenden Jahren und Bundesländern geliefert werden: Baden-Württemberg, Bayern 2003–2018, 2012–2018, Hessen 2005–2018, Niedersachsen 2010–2018, Nordrhein-Westfalen 2005–2018 und Rheinland-Pfalz 2005–2018. Daten aus anderen westdeutschen Bundesländern waren zum Zeitpunkt der Auswertung nicht verfügbar. Die Analyse beschränkt sich auf die westdeutschen Bundesländer, da in Ostdeutschland der Anteil von Kindern in Ganztagsbetreuung auch vor der IZBB-Reform sehr hoch war.Kultusministerkonferenz (2005), a.a.O. Die Datenverknüpfung wird dafür genutzt, die Entfernung von SOEP-Haushalten zur nächstgelegenen Grundschule mit Ganztagsangeboten zu ermitteln. Diese dient in den Analysen als Quelle exogener Variation in der Verfügbarkeit von Ganztagsangeboten.Siehe Kasten 2 in diesem Bericht.
Die verwendete Stichprobe besteht aus allen Kindern im SOEP, die in den sechs Bundesländern zwischen 2002 und 2018 eine Grundschule in Halbtags- oder Ganztagsform besucht haben. Da das SOEP die Bevölkerung in Deutschland repräsentativ abbildet, sind die 4039 beobachteten Schüler*innen der Studie repräsentativ für einen großen Teil Westdeutschlands. Die Teilnahme am Ganztagsbetrieb wird im SOEP jährlich im Haushaltsfragebogen abgefragt.
Analysiert werden die Effekte des Ganztagsschulbesuchs auf die Mathe- und Deutschnote sowie eine Reihe etablierter sozio-emotionaler Indikatoren, welche jeweils im Alter von neun bis zehn Jahren im Mutter-und-Kind-Fragebogen erhoben werden. Die sozio-emotionalen Ergebnisvariablen bestehen zum einen aus dem „Strengths-and-Difficulties Score“ (SDQ), einem der am häufigsten verwendeten Screening-Instrumente für die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Der „Difficulty-Score“ besteht aus den Kategorien (abgefragt unter anderem mit „Das Kind kann nicht lange stillsitzen“), emotionale Probleme („Das Kind verliert leicht das Selbstvertrauen“), Verhaltensauffälligkeiten („Das Kind hat oft Wutanfälle, ist aufbrausend“) und Probleme mit Gleichaltrigen („Das Kind ist ein Einzelgänger, spielt meist alleine“). Zum SDQ gehört auch ein separater Index zu prosozialem Verhalten, welcher die beiden Items „Das Kind hilft anderen oft freiwillig“ und „Das Kind teilt gern mit anderen Kindern“ umfasst.Für weitere Informationen siehe: Robert Goodman, Howard Meltzer and Veira Bailey (1998): The strengths and difficulties questionnaire: A pilot study on the validity of the self-report version. European Child & Adolescent Psychiatry, 7 (3), 125–130. Für eine Übersicht der im SOEP enthaltenen Items siehe David Richter et al. (2013), a.a.O.
Zum anderen werden die „Big Five“-Persönlichkeitsmerkmale untersucht: Das „Big Five“-Konzept ist ebenfalls international etabliert und ermöglicht, die menschlichen Persönlichkeitsmerkmale in Form von individuell unterschiedlichen Verhaltensweisen und Erfahrungen zu beschreiben. Im Mittelpunkt dieses Ansatzes steht die Annahme, dass es fünf allgemeine, sich nicht überschneidende Persönlichkeitsdimensionen gibt, die zur Beschreibung der menschlichen Persönlichkeit herangezogen werden können: Offenheit (ob ein Kind „wissensdurstig“ ist und „schnell begreift“), Gewissenhaftigkeit (wie „ordentlich“ und „konzentriert“ das Kind ist), Extraversion (ob es „kontaktfreudig“ und „gesprächig“ ist), Verträglichkeit (wie „gutmütig“ und „fügsam“ das Kind ist) und emotionale Stabilität (ob das Kind „unängstlich“ ist und wie groß sein Selbstvertrauen ist).Die „Big Five“ gelten als Taxonomie für die Messung von Persönlichkeit und dienen über mehrere Fachrichtungen hinweg als Klassifizierung sozio-emotionaler Fähigkeiten. Für weitere Informationen siehe: Robert R. McCrae and Paul T. Costa (2008): The five-factor theory of personality. Handbook of personality: Theory and research , 159–181. The Guilford Press.
Um die Interpretation der Ergebnisse zu vereinfachen, werden alle Ergebnisvariablen so kodiert, dass ein höherer Wert einem besseren Ergebnis entspricht. Schulnoten und der SDQ werden somit umgedreht; zusätzlich werden alle Variablen außer Schulnoten standardisiert.
Traditionell waren Grundschulen in Deutschland als Halbtagsschulen organisiert, die gegen 13 Uhr endeten. Für die Betreuung der Kinder am Nachmittag waren zumeist die Mütter, andere Verwandte oder privat organisierte und bezahlte Tagesmütter verantwortlich. Mit dem Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB) änderte sich dies: In den Jahren 2003 bis 2009 förderte der Bund die Ausweitung der Ganztagsbetreuung in den Ländern mit vier Milliarden Euro. Mehr als die Hälfte dieser Mittel wurde für Grundschulen ausgegeben.Bundesministerium für Bildung und Forschung (2009): Investitionsprogramm Zukunft, Bildung und Betreuung. Ganztagsschulen. Zeit für mehr (online verfügbar, abgerufen am 14.11.2022). Gefördert wurden in erster Linie bauliche Maßnahmen, während die Länder im Gegenzug erheblich in Personal investieren mussten. In den Bundesländern gibt es verschiedene Ausgestaltungen des Ganztags. Zumeist bestehen sie aus einem Mittagessen, Hausaufgabenbetreuung sowie beaufsichtigten Freizeit- und Sportangeboten.
Als Folge des IZBB-Programms ist die Zahl der Grundschulen mit Nachmittagsangeboten deutlich gestiegen. Im Schuljahr 2020/21 boten 73 Prozent aller westdeutschen Grundschulen Ganztagsangebote anKultusministerkonferenz (2021), a.a.O. – im Vergleich zu zwei Prozent im Jahr 2002 (Abbildung 1).Kultusministerkonferenz (2005): Allgemeinbildende Schulen in Ganztagsform in den Ländern in der Bundesrepublik Deutschland: Statistik 2002 bis 2004 (online verfügbar, abgerufen am 27.10.2022). Der Zuwachs an Ganztagsangeboten bezieht sich vornehmlich auf die westdeutschen Bundesländer, da Ganztagsbetreuung und Horte in Ostdeutschland schon vor 2003 deutlich ausgeprägter waren als in Westdeutschland. Dieser Trend wird sich in den nächsten Jahren fortsetzen, da im letzten Jahr der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder ab 2026 beschlossen wurde.Siehe Ganztagsförderungsgesetz (GaFöG), Bundesgesetzblatt Nr. 71 vom 11. Oktober 2021 (online verfügbar, abgerufen am 27.10.2022). Aktuell ist der größte Anteil von Grundschulen mit Ganztagsangebot offen organisiert (Abbildung 2).
Die IZBB-Reform war die wichtigste politische Antwort auf den sogenannten PISA-Schock: Als Deutschland im Jahr 2000 erstmalig an der PISA-Studie teilnahm, schnitten deutsche Schüler*innen nicht nur unterdurchschnittlich ab; auch war der Zusammenhang zwischen sozio-ökonomischem Hintergrund und Schulleistungen in keinem OECD-Land so stark ausgeprägt wie in Deutschland.Hans Brügelmann und Hans Werner Heymann (2002): PISA 2000: Befunde, Deutungen, Folgerungen. Zum internationalen Bericht der OECD. Pädagogik (Weinheim), 54 (3), 40–43. Mit dem Ausbau von Ganztagsschulen wurde die Erwartung verbunden, dass sie herkunftsbedingte Ungleichheiten abbauen können. Denn Kinder aus benachteiligten Verhältnissen erfahren zu Hause tendenziell eine geringere Qualität der HausaufgabenbetreuungVgl. zum Beispiel Elsje van Bergen et al. (2017): Why are home literacy environment and children’s reading skills associated? What parental skills reveal. Reading Research Quarterly, 52 (2), 147–160. und könnten somit besonders von zusätzlicher Zeit in der Schule durch Nachmittagsbetreuung profitieren.Vgl. zum Beispiel David Blau and Janet Currie (2006): Pre-school, day care, and after-school care: Who’s minding the kids? Handbook of the Economics of Education, 2, 1163–1278; sowie Phillip B. Levine und David J. Zimmerman (2010): Targeting investments in children: Fighting poverty when resources are limited. University of Chicago Press. Seitdem wurde die Reform von einer Reihe qualitativer und quantitativer Studien wie der „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen“ (StEG)Eckhard Klieme und Thomas Rauschenbach (2011): Entwicklung und Wirkung von Ganztagsschule. Eine Bilanz auf Basis der StEG-Studie. In: Natalie Fischer et al. (Hrsg.): Ganztagsschule: Entwicklung, Qualität, Wirkungen: längsschnittliche Befunde der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG). Weinheim [u.a.], 342–350. wissenschaftlich begleitet. Dennoch ist bislang wenig zu den kausalen Effekten auf die kognitive und sozio-emotionale Entwicklung von Schüler*innen bekannt.Die einzigen Ausnahmen bilden folgende Studien: Christina Felfe und Larissa Zierow (2014): After-school center-based care and children’s development. The BE Journal of Economic Analysis & Policy, 4 (4), 1299–1336, sowie Arnim Seidlitz und Larissa Zierow (2020): The impact of all-day schools on student achievement. Evidence from extending school days in German primary schools (tech. rep.). CESifo Working Paper No. 8618.
Ein Kernanliegen bei der Gestaltung neuer Bildungsangebote ist, dass sie möglichst von der richtigen Zielgruppe genutzt werden – also von denjenigen Personen, die besonders davon profitieren. Das ist nicht immer der Fall, selbst wenn das Angebot theoretisch allen zur Verfügung steht. Wird ein Angebot bevorzugt von Personen genutzt, die davon weniger profitieren als solche, die dies nicht tun, dann könnte es sinnvoll sein, das Angebot verpflichtend zu gestalten. Um sich diesem Problem empirisch anzunähern, müssen die Wirkungen des Bildungsangebots mit den Selektionsmechanismen – also wer davon freiwillig Gebrauch macht – in Zusammenhang gebracht werden. Die Methode der Marginalen Behandlungseffekte (Marginal Treatment Effects, MTE, Kasten 2) leistet dies, indem Personen mit hoher und niedriger „Resistenz“ unterschieden werden. Resistenz meint im Fall von Ganztagsschulen solche Faktoren, die sich negativ auf die Wahrscheinlichkeit auswirken, dass ein Kind an der Nachmittagsbetreuung teilnimmt. Dabei sind beobachtbare sozio-ökonomische Merkmale wie der Migrationshintergrund sowie der Bildungsgrad und das Einkommen der Eltern bereits herausgerechnet. Die Resistenz als Maß umfasst also Merkmale, die in den Daten nicht direkt enthalten sind, wie die Motivation des Kindes und die elterliche Präferenz für die Art der Nachmittagsbetreuung ihres Kindes.
Die zentrale methodische Herausforderung bei der Untersuchung der Effekte des Ganztagsschulbesuchs auf die kognitive und sozio-emotionale Entwicklung von Kindern ist die Unterscheidung von Korrelation und Kausalität: So können Unterschiede im Entwicklungsstand der Kinder, die mit dem Besuch einer Ganztagsschule korrelieren, nicht nur aufgrund dieses Besuchs auftreten, sondern auch aufgrund anderer Faktoren. Schüler*innen, die Ganztagsschulen besuchen, unterscheiden sich von solchen, die nur halbtags zur Schule gehen.Siehe Tabelle 1 in diesem Bericht. Kinder alleinerziehender Eltern etwa, die häufiger Ganztagsschulen besuchen, könnten sich unabhängig davon anders entwickeln als ihre Klassenkamerad*innen.Dafür gibt es zahlreiche Belege in der empirischen Literatur, zum Beispiel Sara McLanahan and Gary D. Sandefur (2009): Growing up with a single parent: What hurts, what helps. Harvard University Press. Um jedoch den Effekt des Ganztagsbesuchs auf die Entwicklung von Kindern kausal zu evaluieren, ist es wichtig, diesen Effekt von anderen Effekten abzugrenzen. Es bedarf hierzu einer empirischen Strategie unter Nutzung exogener Variation. In den Wirtschaftswissenschaften werden hierfür häufig politische Reformen genutzt, da es dadurch zu einer von außen vorgegebenen Veränderung der Verfügbarkeit eines Angebots kommt.
In diesem Fall wird die Ausweitung des Angebots an Ganztagsplätzen durch die IZBB-ReformSiehe Abbildung 1 in diesem Bericht. zwischen 2002 und 2018 als exogene Variation genutzt. Stellvertretend für die Variation in der Verfügbarkeit steht die Distanz von Schüler*innen zur nächstgelegenen Grundschule mit Ganztagsbetreuung, welche durch die Verknüpfung der geo-referenzierten Daten des SOEPSiehe auch Kasten 1 in diesem Bericht. mit amtlichen Schuldaten berechnet wird.Die durch den zeitlichen Ausbau entstandene Verringerung der Distanz zu Ganztagsschulen ist ein valides Instrument, da sie sich zwar auf die Wahrscheinlichkeit, eine solche zu besuchen, aber nicht direkt auf die Ergebnisse (Schulleistungen und soziale Fähigkeiten der Kinder) auswirkt. So steht sie zum Beispiel nicht im Zusammenhang mit individuellen sozio-ökonomischen oder Kreis-Merkmalen, was dafür spricht, dass die Ausweitung des Ganztagsangebots sich nicht auf besondere Regionen oder Nachbarschaften konzentriert hat. Mit Hilfe dieses „Instruments“Joshua D. Angrist, Guido W. Imbens und Donald B. Rubin (1996): Identification of causal effects using instrumental variables. Journal of the American Statistical Association 91, Nr. 434, 444–455. kann eine empirische Methode namens Marginal Treatment Effects (MTE)James Heckman, Sergio Urzua und Edward Vytlacil (2006): Understanding instrumental variables in models with essential heterogeneity. The Review of Economics and Statistics, 88 (3), 389–432. verwendet werden. Diese ist besonders geeignet, um politikrelevante Parameter zu schätzen, zum Beispiel den durchschnittlichen Behandlungseffekt auf diejenigen Kinder, die sich freiwillig für den Besuch einer Ganztagsschule entscheiden. Das Pendant bilden die Effekte auf Schüler*innen mit einer großen „Resistenz“,Für eine ausführliche Erläuterung des Konzepts der „Resistenz“ siehe Thomas Cornelissen et al. (2016): From LATE to MTE: Alternative methods for the evaluation of policy interventions. Labour Economics, 41, 47–60. die sich aus diversen Gründen gegen die Teilnahme entscheiden. Diese Unterscheidung ermöglicht es, zu evaluieren, ob Ganztagsangebote freiwillig gestaltet werden sollten oder ob es sinnvoll wäre, alle Grundschulkinder in Form von gebundenen Ganztagsschulen zur Teilnahme zu verpflichten.
Mit Hilfe einer MTE-Analyse zum Kindergartenausbau in den 1990er und frühen 2000er Jahren kam man beispielsweise zu dem Schluss, dass zugewanderte Kinder besonders vom Besuch eines Kindergartens profitieren, diesen aber aufgrund einer hohen Resistenz der Eltern seltener besuchen.Thomas Cornelissen et al. (2018): Who benefits from universal child care? Estimating marginal returns to early child care attendance. Journal of Political Economy 126 (6), 2356–2409. Für die Vorschulbetreuung ergibt sich somit ein negativer Selektionsmechanismus: Kinder ohne Migrationshintergrund, die eher von den Betreuungsangeboten Gebrauch machen, profitieren weniger als Kinder mit Migrationshintergrund, die deutlich seltener in Kindergärten zu finden sind. Weitere Studien zeigen, dass bei höherer Bildung das Gegenteil der Fall ist. Hier gibt es eine positive Selektion: Personen, die freiwillig höhere Bildungsangebote wahrnehmen und beispielsweise Universitäten besuchen, profitieren auch am meisten davon.Zum Beispiel Pedro Carneiro, James Heckman und Edward Vytlacil (2011): Estimating marginal returns to education. American Economic Review, 101 (6), 2754–2781.
Bislang ungeklärt ist der Zusammenhang zwischen den Wirkungen und Selektionsmechanismen bei Bildungsangeboten für Altersgruppen zwischen sechs und 16 Jahren. An dieser Stelle wird die MTE-Methode auf den Ausbau der Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter angewendet. Das Muster könnte hier in beide Richtungen gehen, da die Entscheidung für oder gegen Ganztagsbetreuung in dieser Altersgruppe vermutlich sowohl durch elterliche (Arbeitsmarkt-)Präferenzen als auch durch die des Kindes geprägt sind. Das Ergebnis der Analyse hat konkrete Implikationen für die geeignete Gestaltung des Ganztags.
Die Frage der Selektion, also welche Schüler*innen Ganztagsangebote nutzen, ist nicht nur für die richtige Organisationsform von Relevanz, sondern auch angesichts der mit der IZBB-Reform verbundenen Ziele.Vgl. Jan Marcus, Janina Nemitz und C. Katharina Spieß (2016): Veränderungen in der gruppenspezifischen Nutzung von ganztägigen Schulangeboten – Längsschnittanalysen für den Primarbereich. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 19 (2), 415–442. Chancengleichheit kann nur dann gefördert werden, wenn die Angebote auch von Kindern aus sozio-ökonomisch benachteiligten Familien wahrgenommen werden. Im ersten Schritt wird daher untersucht, welche Schüler*innen besonders häufig in Ganztagsschulen vertreten sind. Hier zeigt sich, dass Kinder in Ganztagsbetreuung häufiger einen Migrationshintergrund haben und häufiger in Haushalten mit niedrigem Bildungsniveau und geringem Haushaltseinkommen leben. Zudem beziehen Familien mit Kindern im Ganztag häufiger SozialleistungenHierzu zählen in der vorliegenden Analyse Empfänger*innen von Arbeitslosengeld I oder II und von Asylbewerber*innenleistungen., haben eher ein alleinerziehendes Elternteil und leben häufiger in städtischen Gebieten (Tabelle 1).Dies deckt sich weitestgehend mit früheren Analysen, zum Beispiel von Jan Marcus et al. (2013), a.a.O.
Ganztagsschule | Halbtagsschule | Differenz | |
---|---|---|---|
Prozent (sofern nicht anders vermerkt) | Prozentpunkte | ||
Merkmale des Kindes | |||
Weiblich | 48,22 | 49,74 | −1,52 |
Migrationshintergrund | 29,93 | 21,06 | 8,87 *** |
Elterliche Merkmale | |||
Keine Ausbildung | 10,81 | 5,33 | 5,48 *** |
Ausbildung | 57,59 | 64,45 | −6,86 *** |
Hochschulabschluss | 31,6 | 30,22 | 1,38 |
Sozialtransferbezug | 33,94 | 16,96 | 16,98 *** |
Alleinerziehend | 25,87 | 14,77 | 11,1 *** |
Beide Eltern erwerbstätig | 50,46 | 66,5 | −16,04 * |
Städtischer Wohnort | 83,59 | 74,72 | 8,87 *** |
Netto-Haushaltsäquivalenzeinkommen (in Euro) | 19942,1 | 21465,21 | −1523,11 ** |
Kinder im Haushalt (Anzahl) | 2,55 | 2,64 | −0,09 * |
Distanz zu Ganztagsschule (in Kilometern) | 1,11 | 2,21 | −1,1 *** |
Stichprobengröße | 981 | 3058 |
Anmerkungen: Die Sternchen an den Werten bezeichnen das Signifikanzniveau. Je mehr Sternchen, desto geringer die Irrtumswahrscheinlichkeit: ***, ** und * geben die Signifikanz auf dem Ein-, Fünf- und Zehn-Prozent-Niveau an. Das äquivalenzgewichtete jährliche Haushaltsnettoeinkommen berücksichtigt bei der Gewichtung die Größe und Zusammensetzung der Haushalte.
Quellen: Sozio-oekonomisches Panel (SOEP v35, gewichtet), administrative Schuldaten der statistischen Landesämter; eigene Berechnungen.
Im nächsten Schritt wird betrachtet, wie sich die Nutzung von Ganztagsbetreuung auf Kinder mit unterschiedlichen sozio-ökonomischen Merkmalen auswirkt. In diesem Teil der Analyse zeigt sich, dass insbesondere Kinder mit alleinerziehenden Elternteilen eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, von der Nachmittagsbetreuung zu profitieren. Hierbei sind statistisch signifikante Unterschiede in Bezug auf die Deutschnote, prosoziales Verhalten, Offenheit, ExtraversionExtraversion wird im SOEP so definiert, dass ein Kind „kontaktfreudig“ und „gesprächig“ ist. Siehe David Richter et al. (2013): SOEP scales manual. SOEP Survey Papers Nr. 138 (online verfügbar; abgerufen am 14.11.2022). und Verträglichkeit zu beobachten. Dies ist ein wichtiger Befund für die Rolle von Ganztagsschulen im Abbau herkunftsbedingter Ungleichheiten. Denn: Da alleinerziehende Elternteile häufig weniger zeitliche und finanzielle Ressourcen haben, schneiden ihre Kinder im Bildungsverlauf oft schlechter ab als deren Klassenkamerad*innen.Vgl. McLanahan und Sandefur (2009), a.a.O.
Hinsichtlich ihrer Extraversion profitieren zusätzlich auch Kinder aus Akademiker*innenhaushalten stärker als der Durchschnitt.Die genauen Ergebnisse dieses Teils der Analyse können in Tabelle 2 im folgengen DIW Discussion Paper eingesehen werden: Laura Schmitz (2022): Heterogeneous effects of after-school care on child development. DIW Discussion Paper Nr. 2006 (online verfügbar, abgerufen am 31.10.2022).
Zur Frage, wie sich die Wirkung vom Ganztag für „freiwillig“ und „unfreiwillig“ teilnehmende Kinder unterscheidet, ist ein bemerkenswertes Muster bei den sozialen Fähigkeiten zu beobachten: Für die Variablen prosoziales Verhalten, psychische GesundheitPsychische Gesundheit wird in Form des Strengths-and-Difficulties Scores gemessen, siehe Kasten 1 in diesem Bericht. sowie die Persönlichkeitsmerkmale Offenheit, Extraversion und emotionale Stabilität zeigt sich ein statistisch signifikanter positiver Effekt auf diejenigen Schüler*innen, die freiwillig am Ganztag teilnehmen (Tabelle 2). Hingegen deutet sich bei Schüler*innen, die unfreiwillig am Ganztag teilnehmen, ein negativer Zusammenhang an. Dies ist in Bezug auf einige Ergebnisvariablen wie psychische Gesundheit und prosoziales Verhalten zu beobachten. Der Zusammenhang ist hier jedoch generell für keine der neun Ergebnisvariablen statistisch signifikant.Insgesamt weisen die Ergebnisse hohe Standardfehler auf, was an der Kombination der „datenhungrigen“ MTE-Methode und der relativ kleinen Stichprobe liegt. Für mehr Details siehe Schmitz (2022), a.a.O.
Schulnoten, prosoziales Verhalten und psychische Gesundheit | |||||
---|---|---|---|---|---|
Mathenote | Deutschnote | Prosoziales Verhalten | Psychische Gesundheit1 | ||
Freiwillige Teilnahme | −0,046 | −0,0364 | 1,754* | 1,797** | |
Nicht freiwillige Teilnahme | 0,237 | −0,120 | −1,056 | −1,414 | |
Beobachtungen | 3189 | 3185 | 3510 | 3502 | |
Big-Five-Persönlichkeitsmerkmale | |||||
Offenheit | Gewissenhaftigkeit | Extraversion | Verträglichkeit | Emotionale Stabilität | |
Freiwillige Teilnahme | 1,803* | 1,097 | 2,252** | 1,032 | 1,453* |
Nicht freiwillige Teilnahme | 1,397 | 1,923 | −1,436 | −1,814 | −2,313 |
Beobachtungen | 3495 | 3491 | 3495 | 3481 | 3490 |
1 Die psychische Gesundheit wird mit dem Strengths-and-Difficulties Score gemessen.
Anmerkungen: Die Sternchen an den Werten bezeichnen das Signifikanzniveau. Je mehr Sternchen, desto geringer die Irrtumswahrscheinlichkeit: ***, ** und * geben die Signifikanz auf dem Ein-, Fünf- und Zehn-Prozent-Niveau an.
Lesebeispiel: Bei einer freiwilligen Teilnahme am Ganztag nimmt die psychische Gesundheit von Kindern gemessen am Strengths-and-Difficulties Score (SDQ) um 1,8 Standardabweichungen zu. Der Effekt ist statistisch signifikant auf dem Fünf-Prozent-Niveau.
Quellen: Sozio-oekonomisches Panel (SOEP v35, gewichtet), administrative Schuldaten der statistischen Landesämter; eigene Berechnungen.
Diese Ergebnisse zeigen zwei Dinge auf: Erstens, dass Ganztagsschulen eine wichtige Rolle für die Entwicklung sozio-emotionaler Fähigkeiten spielen. Das ist ein wichtiger Befund, denn soziale Fähigkeiten haben unter anderem eine große Bedeutung für den Bildungserfolg und den späteren Erfolg auf dem Arbeitsmarkt.Vgl. zum Beispiel Flavio Cunha and James Heckman (2007): The technology of skill formation. American Economic Review, 97 (2), 31–47, und David J. Deming (2017): The growing importance of social skills in the labor market. The Quarterly Journal of Economics, 132 (4), 1593–1640. Dieses Ergebnis steht im Einklang mit den Ergebnissen anderer Evaluationsstudien,Vgl. zum Beispiel StEG-Konsortium (2016): Ganztagsschule: Bildungsqualität und Wirkungen außerunterrichtlicher Angebote. Ergebnisse der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen 2012–2015. die ebenfalls die besondere Rolle von Ganztagsschulen für die Entwicklung sozialer Kompetenzen, insbesondere von Kindern mit niedrigem sozio-ökonomischem Status, hervorheben. Es zeigt sich außerdem, dass die sozialen Fähigkeiten und die Persönlichkeit von Kindern während der Grundschulzeit auf bemerkenswerte Weise auf äußere Einflüsse reagieren.Zum Beispiel Fabian Kosse et al. (2020): The formation of prosociality: Causal evidence on the role of social environment. Journal of Political Economy, 128 (2), 434–467.
Zweitens zeigen die Ergebnisse, dass sich der Ganztagsbesuch zwar positiv auf diejenigen auswirkt, die freiwillig daran teilnehmen. Dies trifft jedoch im Durchschnitt nicht auf diejenigen zu, die „unfreiwillig“ teilnehmen: Für diese Gruppe lassen sich keine statistisch signifikanten Effekte messen. Das bedeutet: Von gebundenen Ganztagsschulen würde diese Gruppe höchstwahrscheinlich nicht profitieren.
Alles in allem ist dies eine positive Nachricht für die bisherige Ausgestaltung des Ganztagsbetriebs im Primarbereich in Westdeutschland, da hier mit 74 ProzentIn Deutschland insgesamt sind sogar 87 Prozent aller Ganztagsschulen offen organisiert. Siehe Kultusministerkonferenz (2021), a.a.O. ohnehin die offene Organisationsform dominiert.
Sowohl bei der Gruppe der „Freiwilligen“ als auch der „Unfreiwilligen“ zeigen sich keine statistisch signifikanten Effekte auf die Mathe- und Deutschnote (Tabelle 2). Somit sind Kinder alleinerziehender Eltern die einzige Gruppe, bei der neben positiven Effekten im Sozialverhalten auch Leistungssteigerungen in der Deutschnote festgestellt werden können. Dass dies bei keiner anderen Gruppe der Fall ist, zeigt, dass das Element der Hausaufgabenbetreuung bislang nicht die erhofften Erfolge erzielt hat.Dass sich Betreuungsprogramme am Nachmittag generell positiv auf schulische Leistungen auswirken können, zeigen zum Beispiel David Blau und Janet Currie (2006): Pre-school, day care, and after-school care: who's minding the kids? Handbook of the Economics of Education 2, 1163–1278. Auch dies deckt sich mit den Befunden der StEG-BegleitstudieStEG-Konsortium (2016), a.a.O. sowie anderer Quer-Zum Beispiel Rolf Strietholt et al. (2015): Bildung und Bildungsungleichheit an Halb- und Ganztagsschulen. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 18(4), 737–761. und LängsschnittanalysenKatja Tillmann et al. (2017): Förderung der Lesekompetenz durch Teilnahme an Ganztagsangeboten? – Ergebnisse der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG). In: Marianne Schüpbach, Lukas Frei und Wim Nieuwenboom (Hrsg.): Tagesschulen. Ein Überblick. 289–307, Wiesbaden, Springer.. Mögliche Gründe dafür könnten unter anderem das Fehlen einheitlicher Qualitäts- und Ausbildungsstandards sein. Hier ist die Spannweite zwischen den Bundesländern beträchtlich, etwa was die finanziellen Mittel pro Schüler*in angeht, welche die Länder für qualifiziertes Personal bereitstellen.Klaus Klemm und Dirk Zorn (2016): Die landesseitige Ausstattung gebundener Ganztagsschulen mit personellen Ressourcen: ein Bundesländervergleich. Bertelsmann Stiftung.
Die Analysen zeigen, dass sich der Besuch einer Ganztagsschule positiv auf das soziale Verhalten von Grundschulkindern auswirkt. Die positiven Effekte beziehen sich hierbei auf zwei Gruppen: Erstens profitieren vornehmlich Kinder aus Haushalten mit alleinerziehenden Elternteilen. Somit leisten Ganztagsschulen einen wichtigen Beitrag zum Abbau von Bildungsungleichheiten in Deutschland, denn alleinerziehende Eltern haben häufig weniger zeitliche und finanzielle Ressourcen zur Verfügung, um sich nachmittags intensiv mit ihren Kindern beschäftigen zu können. Zweitens zeigen sich positive Effekte auf diejenigen Schüler*innen, die bereitwillig am Ganztag teilnehmen. Keine Effekte finden sich hingegen bei Schüler*innen, die nicht freiwillig am Ganztag teilnehmen. Das bedeutet, dass offene Ganztagsschulen – die ohnehin im Primarbereich am häufigsten genutzte Organisationsform – am besten geeignet sind, um positive Effekte auf das Sozialverhalten von Kindern im Grundschulalter zu erzielen.
Hierbei sollte allerdings darauf geachtet werden, dass Ganztagsschulen nicht zu einer verstärkten Segregation führen, indem vornehmlich Kinder aus sozio-ökonomisch benachteiligten Familien die Ganztagsbetreuung wählen. Ganztagsschulen müssen also auch für Kinder aus privilegierten Verhältnissen attraktiver gemacht werden. Dafür bräuchte es interessantere Sport- und Freizeitangebote, aber vor allem eine bessere Hausaufgabenbetreuung.
Die ausbleibenden Effekte auf die Schulleistungen zeigen, dass die pädagogische Qualität der Hausaufgabenbetreuung an Ganztagsschulen nicht ausreicht, um dem von der IQB-Studie aufgezeigten Abwärtstrend entgegenzusteuern. Für die gesellschaftlich ebenfalls hoch relevante Entwicklung sozialer Kompetenzen mag der bloße Kontakt mit Gleichaltrigen und Betreuungspersonal in der Nachmittagsbetreuung ausreichend sein. Für die Entwicklung schulischer Kernkompetenzen ist er es jedoch nicht. Deshalb braucht es bessere und einheitlichere Qualitätsstandards. Um diese angesichts des ohnehin schon bestehenden Mangels an pädagogischem Fachpersonal zu erreichen, müssen Bund und Länder deutlich mehr Geld für Aus- und Weiterbildungen in die Hand nehmen. Damit sollte gewährleistet werden, dass die Ganztagsschulen nicht das gleiche Schicksal ereilt wie die Kindertagesstätten, die den zügigen Ausbau durch den KiTa-Rechtsanspruch personell nicht bewerkstelligen können. Tatsächlich besteht in Bezug auf öffentliche Investitionen noch Luft nach oben: Im OECD-Vergleich bleiben die öffentlichen Bildungsausgaben in Deutschland seit Jahren deutlich hinter dem Durchschnitt zurück.OECD (2021): Public Spending on Education (online verfügbar, abgerufen am 14.11.2022). Die Bildungspolitik sollte es als eine ihrer wichtigsten Gestaltungsaufgaben verstehen, diesem Trend entgegenzuwirken.
Themen: Persönlichkeit, Familie, Bildung
JEL-Classification: I21;I24;I26;J08
Keywords: after-school care, marginal treatment effects, inequality
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2022-48-1
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/267699