DIW Wochenbericht 14/15 / 2023, S. 163-171
Dennis Gaus, Neil Murray, Heike Link
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„Um die Menschen in ihrer Alltagsmobilität von öffentlichen Verkehrsmitteln zu überzeugen, ist neben dauerhaft günstigen Tickets in der Stadt und auf dem Land, am Wochenende und zu den Tagesrandzeiten ein zuverlässiges und gut verknüpftes Angebot im öffentlichen Nahverkehr nötig.“ Dennis Gaus
Mit dem 9-Euro-Ticket wollte die Bundesregierung im Sommer 2022 die Menschen einerseits finanziell von den stark gestiegenen Energiepreisen entlasten und andererseits zum Umstieg auf den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) motivieren. Um die Auswirkungen des deutschlandweit gültigen Tickets auf Mobilität und Nutzung des ÖPNV zu analysieren, werden in diesem Wochenbericht erstmalig die Bewegungsdaten eines bundesweit repräsentativen Mobilitäts-Trackings-Panels mit Informationen aus Befragungen in den Gültigkeitsmonaten zusammengeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass das 9-Euro-Ticket nicht zu einem Umstieg hin zum ÖPNV in der Alltagsmobilität führte. Stattdessen entlastete das Ticket Personen finanziell, die den ÖPNV auch ohne das Angebot regelmäßig nutzen. Insbesondere profitierten Haushalte mit niedrigem Einkommen sowie junge Menschen unter 30 Jahren. Außerdem wurde das Ticket kurz nach seiner Einführung sowie kurz vor seinem Ende intensiv im Ausflugsverkehr genutzt. Um die Rolle des ÖPNV dauerhaft zu stärken, reichen günstige Ticketangebote nicht aus. Vielmehr muss das Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln ausgebaut und verbessert werden, um die Akzeptanz des ÖPNV in der Bevölkerung zu steigern.
Ende März 2022 beschloss die Bundesregierung das zweite Energie-Entlastungspaket. Neben einem auf die Sommermonate Juni bis August befristeten Tankrabatt wurde für den gleichen Zeitraum das 9-Euro-Ticket für die Nutzung öffentlicher Nahverkehrsmittel eingeführt. Beide Maßnahmen sollten die privaten Haushalte von den gestiegenen Energiepreisen entlasten und inflationsdämpfend wirken. Zudem sollte die Einführung des 9-Euro-Tickets die Menschen zum Umstieg auf den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) motivieren und so die Kohlendioxid (CO2)-Emissionen im Verkehrssektor mindern. Das 9-Euro-Ticket konnte jeweils einzeln für die Monate Juni bis August erworben werden und erlaubte die Nutzung aller öffentlichen Verkehrsmittel mit Ausnahme von Fernverkehrszügen (ICE, IC/EC, Flixtrain) und Fernbussen. Das verbilligte Ticket konnte auf kürzeren Distanzen am Wohnort und für Ausflugs- und Urlaubsfahrten mit größerer Entfernung genutzt werden. Jahreskarten und Abonnements sowie Schüler- und Semestertickets galten automatisch als 9-Euro-Tickets.Bei diesen im Voraus bezahlten Zeitkarten wurde die Differenz zwischen dem regulären Preis und dem 9-Euro-Ticket im Nachhinein erstattet; die Tickets galten zwischen Juni und August automatisch bundesweit im Nahverkehr. Der Bund zahlte den Bundesländern 2,5 Milliarden Euro als Ausgleich für die entstandenen Einnahmeverluste und Mehrkosten. ÖPNV-Anbieter wie Busunternehmen und der dieselbetriebene Eisenbahnverkehr profitierten außerdem vom Tankrabatt, für den die Bundesregierung 3,1 Milliarden Euro ausgab.
Angaben zu den Verkaufszahlen des 9-Euro-Tickets existieren lediglich vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). Demnach wurden insgesamt 52 Millionen 9-Euro-Tickets verkauft. Laut Pressemeldungen des VDV verkauften die Unternehmen 21 Millionen Tickets im Juni, 17 Millionen Tickets im Juli und 14 Millionen Tickets im August. Außerdem erhielten rund zehn Millionen Zeitkarteninhaber*innen automatisch das 9-Euro-Ticket.
Für Deutschland existieren Erfahrungen mit der Einführung eines kostenlosen ÖPNV in den brandenburgischen Kleinstädten Templin und Lübben, wo in den 1990er Jahren kostenlose Buslinien eingeführt wurden.In Templin führte die Einführung des „Fahrscheinfreien Stadtbusverkehrs“ 1997 zu einem Fahrgastzuwachs um das Dreizehnfache. Befragungen ergaben, dass knapp die Hälfte der Befragten nun weniger zu Fuß ging oder mit dem Fahrrad fuhr; zehn bis 20 Prozent verzichteten auf das Auto. Vgl. Stefan Keuchel et al. (2000): Kommunaler Nutzen von ÖPNV-Angeboten am Beispiel fahrscheinfreier Tarif/Finanzierungskonzepte bei Stadtbusverkehren von Klein- und Mittelstädten. Recklinghausen. Da sich infolge der gestiegenen Nachfrage die Kosten zur Bereitstellung zusätzlicher Busse erhöhten, wurde das kostenlose Angebot nach wenigen Jahren eingestellt. Auch internationale Erfahrungen bestätigen, dass Fahrgastzahlen bei kostenlosem ÖPNV stark ansteigen.In Hasselt (Belgien) verfünffachten sich infolge der Einführung eines allgemeinen Nulltarifs für den ÖPNV 1997 die Fahrgastzahlen. Das Projekt wurde aus Kostengründen 2013 beendet.
Erfahrungen einer landesweiten Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs zum Nulltarif oder zu symbolischen Preisen wie dem 9-Euro-Ticket liegen bislang nicht vor. Eine systematische bundesweite, auf einheitlich erhobenen Daten und wissenschaftlichen Auswertungsmethoden gestützte Begleitforschung zu den Wirkungen des 9-Euro-Tickets fand nicht statt, was sicher auch an der kurzen Zeitspanne zwischen dem Beschluss der Bundesregierung und der Einführung der Maßnahme lag. Es gab zwar zahlreiche Einzelaktivitäten, die zumeist die sozio-ökonomischen Merkmale der befragten Personen sowie deren Nutzungsverhalten inklusive gesammelter Erfahrungen untersuchten. Diese fokussierten allerdings überwiegend auf einzelne Ballungsräume;Vgl. hierzu Andreas Krämer (2022): Erste Erfahrungen mit dem 9-Euro-Ticket. Der Nahverkehr 2022 Nr. 7+8, 21–24; Kai Dietl und Tom Reinhold (2022): Das 9-Euro-Ticket: Verkehrspolitik oder Sozialpolitik? Internationales Verkehrswesen (74) 4, 15–19; Florian Hagemann (2022): 9-Euro-Ticket: Das sind die Erkenntnisse. HNA vom 2. November 2022 (online verfügbar, abgerufen am 20. März 2023. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt). bundesweite Befragungen wurden im Auftrag des VDV und der Deutschen Bahn sowie im Rahmen der Corona-Mobilitätserhebung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) durchgeführt.Vgl. VDV/DB (2022): Bilanz zum 9-Euro-Ticket (online verfügbar); DLR (2022): Hintergrundpapier 6. DLR-Erhebung zu Mobilität & Corona, 9-Euro-Ticket und Senkungen der Kraftstoffpreise (online verfügbar); Mark Andor et al. (2022): Kostenloser ÖPNV – Akzeptanz in der Bevölkerung und mögliche Auswirkungen auf das Mobilitätsverhalten. RWI Materialien No. 137 (online verfügbar); Pressemitteilung von Destatis vom 8. September 2022: Nach Ende des 9-Euro-Tickets: Bahnreisen zurück auf Vorkrisenniveau (online verfügbar). Lediglich zwei Projekte verfolgten den Ansatz, über Mobilfunkdaten Informationen über das tatsächliche Verkehrsverhalten zu beobachten: Das Statistische Bundesamt wertete in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Datenanalysten Teralytics anonymisierte Bewegungsdaten des Mobilfunkanbieters Telefonica aus; die Technische Universität München kombinierte Tracking-Daten mit den Ergebnissen aus drei Befragungswellen für den Ballungsraum München.
Die am DIW Berlin in Zusammenarbeit mit den Meinungsforschungsinstituten GIM Gesellschaft für Innovative Marktforschung und intervista durchgeführte Studie schließt sich diesem Ansatz an (Kasten): Für eine Stichprobe von rund 2100 Teilnehmenden eines Online-Panels wurden Tracking-Daten genutzt, anhand derer die zurückgelegten Wege inklusive Fahrtzweck und Verkehrsmittel abgeleitet werden konnten. Zusätzlich wurden in drei Befragungen für jeden der drei Gültigkeitsmonate sozio-ökonomische Merkmale der getrackten Personen sowie Nutzung und Verfügbarkeit verschiedener Verkehrsmittel abgefragt. Durch die Kombination von Wege- und Befragungsdaten können sowohl Veränderungen im Verkehrsverhalten analysiert, als auch die Käufergruppen des 9-Euro-Tickets untersucht werden.
Die zeitweise Einführung des 9-Euro-Tickets bietet die Möglichkeit, im beobachteten Verhalten der Käufer*innen die Präferenzen in der Wahl des Verkehrsmittels zu erfassen (sogenannte Revealed Preferences). Hierbei geht es um die Reaktion auf eine zweimalige symmetrische Preis-Intervention: zum einen eine drastische Preissenkung bei der Einführung am 1. Juni 2022 und zum anderen eine ebenso drastische Preiserhöhung am Ende des Gültigkeitszeitraums zum 31. August. Besondere Herausforderungen für die Analyse ergeben sich dabei aus mehreren, sich in ihrer Wirkung auf das Verkehrsverhalten überlappenden Faktoren:
Vor diesem Hintergrund wurden die Daten zum Einfluss des 9-Euro-Tickets auf das Verkehrsverhalten und die Rolle des ÖPNV ausgewertet, die in einer Kooperation mit den Marktforschungsinstituten GIM Gesellschaft für Innovative Marktforschung und intervista erhoben wurden. Hierzu wurden auf Basis des Geolocation-Trackings GIM Traces die Bewegungsdaten einer aus 2113 Personen bestehenden repräsentativen Stichprobe der Bevölkerung Deutschlands im Zeitraum vom 1. Mai bis zum 30. September 2022 herangezogen.Zur umfangreichen Kontrolle, Säuberung und Aufarbeitung der erfassten Rohdaten dieses Datensatzes sowie deskriptiven Analysen wird beim DIW zeitnah ein Diskussionspapier veröffentlicht werden.
Den gemessenen Informationen zu Standort und Uhrzeit wurden von intervista Daten zum genutzten Verkehrsmittel und Wegezweck hinzugefügt. Intervista nutzt hierfür ein für das schweizerische Verkehrsverhalten etabliertes und erstmalig auf Deutschland angewandtes Modell, das auf Haltestellen-, Straßen- und Geschwindigkeitsinformationen sowie dem personenspezifischen Wegeverhalten beruht. Die Personen dieser Stichprobe wurden außerdem im Rahmen von drei Umfragewellen Ende Juni, Ende Juli und Ende August über eine von der Marktforschungsgesellschaft GIM Gesellschaft für Innovative Marktforschung durchgeführte Online-Befragung zu ihrem Verkehrsverhalten befragt, wobei 1233 Personen an allen drei Befragungen teilnahmen. Hierbei wurden einerseits persönliche Charakteristika wie Alter, Geschlecht und Erwerbsstatus und andererseits Verkehrsvariablen wie das Vorhandensein eines Autos, die Verfügbarkeit des ÖPNV in Wohnortnähe, die Häufigkeit der Nutzung einzelner Verkehrsmittel und der Besitz von Zeit- oder Rabattkarten für den ÖPNV, darunter des 9-Euro-Tickets, erhoben. Außerdem wurden zum Schluss des Angebotszeitraums die während der Ticketnutzung gesammelten Erfahrungen bei der Nutzung des ÖPNV inklusive der Zahlungsbereitschaft für ein Nachfolgeticket abgefragt.
Das Durchschnittsalter der Personen im genutzten Datensatz beträgt knapp 48 Jahre, wobei die Stichprobe zu 45 Prozent aus Frauen und zu 55 Prozent aus Männern besteht. Ein Vergleich mit der amtlichen Statistik zeigt, dass die Stichprobe damit eine leichte Überrepräsentation von Männern im Alter über 45 aufweist. 26 Prozent der Personen geben ein monatliches Netto-Haushaltseinkommen von über 4000 Euro an. 55 Prozent der Stichprobe sind in Vollzeit tätig, 16 Prozent arbeiten in Teilzeit, 17 Prozent befinden sich im Ruhestand und zwölf Prozent geben an, Schüler*innen, Studierende, in Ausbildung oder nicht beschäftigt zu sein.
In den drei Monaten Juni bis August kauften zwischen 40 und 42 Prozent der Befragten ein 9-Euro-Ticket. Zeitkarten, also Jahreskarten und Abos sowie Schüler- und Semestertickets, wurden hierbei und in allen folgenden Angaben herausgerechnet. Damit ergibt sich im Gegensatz zu den Angaben des VDV ein über die Sommermonate gleichbleibender Anteil. Zusätzlich zu den Personen, die das Ticket explizit kauften, verfügten in den drei Monaten zwischen 16 und 17 Prozent der Stichprobe über eine als 9-Euro-Ticket gültige Zeitkarte. Beim Besitz des 9-Euro-Tickets zeigen sich deutliche Unterschiede in Bezug auf Alter, Einkommen und Erwerbsbeteiligung sowie zwischen städtischen und ländlichen Gebieten: So kauften in jedem der drei Monate zwischen 55 und 59 Prozent der unter 30-Jährigen das Ticket, während der Anteil in allen anderen Altersgruppen mit maximal 44 Prozent deutlich geringer war (Abbildung 1).
Hinsichtlich des Einkommens fällt auf, dass sich insbesondere Personen mit einem monatlichen Netto-Haushaltseinkommen von unter 1000 Euro für den Ticketkauf entschieden: In dieser Gruppe besaßen im Juni 62 Prozent ein 9-Euro-Ticket, während dies nur für 40 Prozent der Personen mit einem höheren Einkommen der Fall war (Abbildung 2). Diese Anteile blieben mit leichten Verschiebungen auch im Juli und August stabil, allerdings kauften im August nur noch 57 Prozent der Personen mit einem monatlichen Netto-Haushaltseinkommen von unter 1000 Euro das Ticket.
Weiterhin ergibt sich aus der Auswertung, dass der Anteil an Personen mit 9-Euro-Ticket insbesondere unter den Menschen in Ausbildung (also in Schule, Studium, Berufsausbildung, Umschulung) sowie Arbeitslosen hoch war (Abbildung 3): Während der drei Gültigkeitsmonate entschieden sich jeweils 57 Prozent der befragten Personen in Ausbildung zum Ticketkauf, bei den Arbeitslosen stieg der Anteil von 56 Prozent im Juni auf 64 Prozent im Juli und 62 Prozent im August.
Außerdem zeigt sich ein deutliches Stadt-Land-Gefälle: Knapp die Hälfte der Personen aus überwiegend städtischen Gebieten erwarb das 9-Euro-Ticket, während dies auf lediglich ein Drittel der im ländlichen Raum wohnhaften Personen zutraf. Wenig überraschend ist, dass dabei die Verfügbarkeit des ÖPNV wesentlich ist. So gaben 87 Prozent der Befragten ohne Busse, Bahnen und andere öffentliche Verkehrsmittel in erreichbarer Nähe an, das 9-Euro-Ticket im Juni nicht erworben zu haben, wobei dieser Anteil im August leicht auf 83 Prozent sank. Allerdings bedeutet dies umgekehrt, dass sich im Juni immerhin 13 Prozent und im August sogar 17 Prozent dieser Personen für den Kauf entschieden, vermutlich aufgrund von Ausflugs- oder Urlaubsaktivitäten innerhalb von Regionen mit öffentlichen Verkehrsmitteln.
Für die erhoffte Umstiegswirkung vom Auto auf Busse und Bahnen ist zudem relevant, dass über den gesamten Zeitraum betrachtet mehr als ein Drittel der Personen, die ein Auto besitzen, das 9-Euro-Ticket erwarb und damit die Nutzung des ÖPNV zumindest beabsichtigte. Allerdings sind dies nicht zwangsläufig Personen, die den ÖPNV zuvor nicht nutzten.
Für das nunmehr beschlossene Nachfolgeticket zum Preis von 49 Euro (sogenanntes Deutschland-Ticket) ist die Zahlungsbereitschaft von Interesse. In diesem Kontext wurde in der abschließenden Umfrage im August die Frage gestellt, wie viel die Befragten für ein zukünftiges, im Leistungsumfang dem 9-Euro-Ticket entsprechendes ÖPNV-Ticket bezahlen würden. Mit einem Median von 29 Euro liegt der Großteil der Antworten deutlich unter 50 Euro, sodass das Deutschland-Ticket im Hinblick auf die geäußerte Zahlungsbereitschaft als zu teuer empfunden werden dürfte.Auch Andor et al. (2022), a.a.O. berichten, dass gut die Hälfte der Befragten weiterhin neun Euro für ein Nachfolgeticket zahlen würde und gut ein Viertel einen Preis von 29 Euro für angemessen hält. In der Panel-Befragung zur Corona-Mobilität des DLR (2022), a.a.O., gaben zwischen 41 Prozent und 46 Prozent der Befragten an, dass sie den ÖPNV nur während des Aktionszeitraums nutzen und nicht bereit sind, anschließend den vollen Ticketpreis zu zahlen.
Aus den ausgewerteten Bewegungsdaten geht hervor, dass die Entwicklung der Verkehrsleistung (also die insgesamt zurückgelegte Wegstrecke gemessen in Personenkilometern) des öffentlichen Personenverkehrs (ÖPV)Da die Daten keine klare Trennung von ÖPNV und öffentlichem Personenfernverkehr (ÖPFV) zulassen, beziehen sich die Angaben in diesem Abschnitt auf den gesamten öffentlichen Personenverkehr (ÖPV). von einer schwachen Himmelfahrtswoche (23. Mai) sowie zwei durch das 9-Euro-Ticket begründete Wellenbewegungen gekennzeichnet war (Abbildung 4). Die Gesamtverkehrsleistung (also die Verkehrsleistung aller Verkehrsmittel)Die Angaben „alle Verkehrsmittel“ und „Gesamtverkehr“ beinhalten alle Wege, die zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit dem Auto, mit dem ÖPV oder mit dem Flugzeug zurückgelegt wurden. Alle Angaben beziehen sich ausschließlich auf den Personenverkehr. wies hingegen Ende Juni einen Rückgang um etwa zehn Prozent auf, der auf die beginnenden Sommerferien und die damit einhergehende Abnahme von Arbeitswegen zurückzuführen sein dürfte.
Während die Gesamtverkehrsleistung in der Himmelfahrtswoche annähernd auf dem Niveau der Vorwoche lag, wurden im ÖPV fast 25 Prozent weniger Personenkilometer zurückgelegt. Dies zeigt, dass es dem ÖPV vor Einführung des 9-Euro-Tickets nicht gelang, als attraktive Verkehrsalternative für Ausflüge wahrgenommen zu werden. Mit dem Beginn der Gültigkeit des 9-Euro-Tickets am 1. Juni stieg die Verkehrsleistung des ÖPV drastisch an: Im Zeitraum 6.–26. Juni wurden jede Woche zwischen zehn Prozent und 22 Prozent mehr Personenkilometer im ÖPV zurückgelegt als Mitte Mai. Bereits mit dem Beginn der Sommerferien wurden allerdings nur noch zwischen 78 und 87 Prozent der Verkehrsleistung von Mitte Mai erreicht. Die anfängliche Begeisterung für das 9-Euro-Ticket spiegelte sich schon nach wenigen Wochen nicht mehr in einer höheren Nutzung des ÖPV wider. Erst Ende August, also in den letzten Wochen der Verfügbarkeit des 9-Euro-Tickets, stieg die Verkehrsleistung des ÖPV noch einmal temporär an. Eine Änderung des Mobilitätsverhaltens über den Zeitraum des 9-Euro-Tickets hinaus ist nicht zu beobachten.
Diese Beobachtung spiegelt sich auch im Anteil des ÖPV am Gesamtverkehr wider (Abbildung 4): Während dieser außerhalb des Zeitraums des 9-Euro-Tickets bei 10,8 Prozent lag, stieg er im Juni auf 13,2 Prozent an, bevor er in den Folgemonaten mit 10,7 Prozent (Juli) und 11,2 Prozent (August) auf Werte leicht über dem langfristigen Durchschnitt fiel. Auch hier wird deutlich, dass die mit dem 9-Euro-Ticket eingetretene positive Entwicklung der ÖPV-Nutzung weder im Angebotszeitraum noch darüber hinaus anhielt.
Aus einer weitergehenden Analyse ergibt sich, dass das 9-Euro-Ticket insbesondere für Ausflugsfahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln genutzt wurde. So zeigen die Daten einen deutlichen Anstieg der durchschnittlichen Wegelänge mit Bussen und Bahnen Anfang Juni. Dieser Anstieg hielt über den gesamten Zeitraum des 9-Euro-Ticket-Verkaufs an und fiel erst mit dem Auslaufen des Angebots wieder auf das Niveau von Mai (Abbildung 5). In relativen Zahlen lag die durchschnittliche Wegelänge von Fahrten mit dem ÖPV im Mai und September etwa 28 Prozent über der Durchschnittslänge aller Wege; im Gültigkeitszeitraum des 9-Euro-Tickets stieg dieser Wert auf 36 Prozent an. Das 9-Euro-Ticket wurde somit insbesondere für längere Fahrten genutzt.
Der Anteil des ÖPV an den insgesamt zurückgelegten Personenkilometern für verschiedene Wegelängen bestätigt dies: Während der ÖPV-Anteil bei Strecken unter 30 Kilometern zwischen Mai und September nahezu konstant war, findet sich bei längeren Entfernungen der bereits beschriebene Anstieg des ÖPV-Anteils im Juni und Ende August. So zeigt sich bei kurzen Strecken ein leichter Anstieg von zwölf auf 13 Prozent Anfang Juni; ab Juli fiel der Anteil jedoch auf gut zehn Prozent. Allerdings blieb der Anteil der Autofahrten am Gesamtverkehr über den Sommer hinweg nahezu konstant – die Menschen gingen also zu Fuß oder fuhren mit dem Fahrrad, statt mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Der Anteil des ÖPV an Strecken mit einer Länge von mehr als 30 Kilometern stieg hingegen im Juni auf knapp 14 Prozent, während er im Mai und September bei rund zehn Prozent lag.Diese Beobachtung deckt sich mit den Berechnungen von Destatis (2022), a.a.O., wonach die im ÖPV zurückgelegten Wege mit einer Länge von mindestens 30 Kilometern mit der Einführung des 9-Euro-Tickets um fast 50 Prozent stiegen.
Wird der Anteil des ÖPV an der Gesamtverkehrsleistung nach Wegezwecken betrachtet (Abbildung 6), zeigt sich, dass der ÖPV vor Einführung des 9-Euro-Tickets häufiger für Arbeitswege als für andere Zwecke genutzt wurde. Der sonstige Verkehr nimmt jedoch mit Einführung des 9-Euro-Tickets Anfang Juni deutlich zu. Der starke Rückgang des ÖPV-Anteils an den Arbeitswegen ab Anfang Juli ist darauf zurückzuführen, dass ein signifikanter Anteil der Arbeitswege, für die im Mai und Juni der ÖPV genutzt wurde, im Juli und August zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt wurden. Möglich ist, dass dies mit dem 9-Euro-Ticket und den dadurch sehr vollen Verkehrsmitteln im Zusammenhang steht. Das 9-Euro-Ticket führte aber nicht dazu, dass in größerem Umfang Personen auf dem Weg zur Arbeit zum ÖPV wechselten. Dies zeigt sich auch in der durchschnittlichen Länge der Wege: Die mit dem ÖPV zurückgelegten Arbeitswege blieben im Mai (8,0 Kilometer), Juni bis August (8,4 Kilometer) und September (8,7 Kilometer) annähernd gleich lang. Freizeitwege in öffentlichen Verkehrsmitteln weisen im Zeitraum des 9-Euro-Tickets hingegen eine durchschnittliche Distanz von 11,9 Kilometern auf und sind damit deutlich länger als die Vergleichswerte von Mai (9,4 Kilometer) und September (10,3 Kilometer). Der beobachtete Anstieg des ÖPV an den Gesamtkilometern im Juni und August ist daher fast ausschließlich auf Freizeitmobilität zurückzuführen.Dies wird auch durch andere Studien belegt: Laut DLR (2022), a.a.O. nutzten 60 Prozent der Befragten das 9-Euro-Ticket für Freizeitaktivitäten am Wochenende, ein Drittel für Freizeitwege in der Woche und 21 Prozent für Urlaubsfahrten, während lediglich 18 Prozent der Wege zur Arbeits- oder Ausbildungsstätte mit dem Ticket zurückgelegt wurden.
Die wichtigste Alternative zu vielen im ÖPNV zurückgelegten Fahrten ist nicht das Auto, sondern das Fahrrad oder der Gang zu Fuß. Günstige Mobilitätsangebote wie das 9-Euro-Ticket führen daher in der Alltagsmobilität nicht dazu, dass Wege mit dem ÖPNV statt mit dem Auto zurückgelegt werden. Dieser Effekt wird dadurch noch verstärkt, dass das 9-Euro-Ticket nur temporär verfügbar war und damit keine langfristigen Anreize zum Umstieg auf den ÖPNV setzen konnte. Verbreitete Routinen spielen ebenfalls eine wichtige Rolle: ÖPNV-affine Menschen nutzen öffentliche Verkehrsmittel in ihrer Alltagsmobilität unabhängig von temporären Angeboten. Hingegen ist der Preis für Menschen, die den ÖPNV selten oder nie nutzen, meist nicht das entscheidende Kriterium gegen öffentliche Verkehrsmittel. Sie stehen dem ÖPNV oft aufgrund persönlicher Ansichten oder praktischer Erwägungen kritisch gegenüber und bevorzugen individuelle Verkehrsmittel. Zudem sieht ein erheblicher Anteil der Bevölkerung den ÖPNV aufgrund eines aus ihrer Sicht unzureichenden Angebots nicht als Alternative in ihrer Alltagsmobilität an. Ein kurzfristig verfügbares Angebot wie das 9-Euro-Ticket führt daher nicht zu wesentlichen Änderungen im Alltagsmobilitätsverhalten oder einem messbaren Umstieg hin zum ÖPNV.
Vor diesem Hintergrund bleibt fraglich, ob das zum 1. Mai 2023 startende Deutschland-Ticket wirklich zu einem nennenswerten Umstieg hin zum ÖPNV führen wird. Einerseits wird das Ticket von vielen Menschen als zu teuer angesehen; andererseits führt das Ticket durch niedrigere Fahrgeldeinnahmen dazu, dass den Anbietern weniger finanzielle Mittel für den Ausbau des ÖPNV verbleiben. Es sollte daher regelmäßig evaluiert werden, ob verkehrspolitische Ziele durch eine andere Nutzung der für das Deutschland-Ticket verausgabten Mittel besser und schneller erreicht werden können.
In diesem Zusammenhang ist insbesondere im ländlichen Raum ein Ausbau des ÖPNV-Angebots nötig. Hierbei müssen die Mobilitätsbedürfnisse der Menschen auch in den Tagesrandlagen und am Wochenende befriedigt werden. Außerdem ist eine Verknüpfung der Verkehrsträger mit aufeinander abgestimmten und zuverlässigen Anschlüssen zu gewährleisten. In städtischen Gebieten müssen sowohl die Qualität und Zuverlässigkeit des ÖPNV erhöht als auch Steuerungsinstrumente in Bezug auf andere Verkehrsmittel (zum Beispiel Parkraummanagement, Abstellplätze für Fahrräder) betrachtet werden. Wichtig ist hierbei, Stadt und Umland durch eng getaktete und gut erreichbare ÖPNV-Angebote zu verbinden und die Kombination verschiedener Verkehrsmittel (beispielsweise über Park-and-Ride-Parkplätze) zu unterstützen.
Themen: Verkehr
JEL-Classification: R41;R42
Keywords: 9-Euro-Ticket, Fare-free public transport, public transport usage
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2023-14-1
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/271754