DIW Wochenbericht 17 / 2023, S. 200
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Hohe Inflation und Energiekrise haben die finanziellen Nöte vieler Menschen in Deutschland deutlich erhöht. Einer aktuellen Befragung des Statistikportals Statista und des Finanzdienstleisters auxmoney zufolge, die recht repräsentativ für die Bevölkerung ist, gab Ende 2022 fast die Hälfte der Menschen hierzulande an, dass sich ihre finanzielle Lage zum Teil deutlich verschlechtert habe. Dies mag angesichts der eingetrübten wirtschaftlichen Lage nicht unbedingt überraschen. Wichtig und interessant sind jedoch die Mechanismen, durch die Menschen von dieser Krise betroffen sind – einerseits, damit sie sich selbst in Zukunft besser schützen können und andererseits, damit staatliche Institutionen zielgenauer und besser unterstützen können.
Der erste Mechanismus sind die Ausgaben der Menschen, die in dieser Krise stark gestiegen sind. Die Inflation für das Jahr 2022 betrug zwar im Durchschnitt knapp sieben Prozent, Produkte und Dienstleistungen unterschieden sich jedoch sehr stark in ihrer Teuerung. Energie (für Heizung, Strom und Mobilität) wurde im Durchschnitt um knapp 50 Prozent teurer, Nahrungsmittel um mehr als 20 Prozent. Dagegen wurden andere Produkte, wie manche elektronische Geräte, sogar günstiger. Der zweite Mechanismus ist die Entwicklung der Einkommen durch Arbeit, Rente oder soziale Leistungen. Die gute Nachricht für Deutschland war und ist, dass die Arbeitslosigkeit gering geblieben ist. Die Löhne sind 2022 zwar um circa vier Prozent und die Renten um knapp fünf Prozent gestiegen, diese Zuwächse lagen jedoch deutlich unter den knapp sieben Prozent Inflation. Der dritte Mechanismus ist die Vorsorge, also die Frage, ob und wie stark Menschen auf Ersparnisse oder auf Unterstützung durch Familie und Staat zurückgreifen können. Und hier zeigt sich eine der größten sozialen Schwächen Deutschlands: Fast 40 Prozent der Menschen haben praktisch keine Ersparnisse, können ihre steigenden Lebenshaltungskosten also nicht durch finanzielle Rücklagen ausgleichen, sondern müssen beispielsweise ihren Konsum reduzieren oder Kredite aufnehmen.
Haushalte mit geringen Einkommen trifft die hohe Inflation sehr viel stärker als Haushalte mit hohen Einkommen. Erstere können kaum sparen – wenn überhaupt – und benötigen häufig ihr gesamtes Monatseinkommen für den Lebensunterhalt. So weit, so klar. Weniger offensichtlich ist, dass Menschen mit geringen Einkommen häufig eine doppelt bis dreimal so hohe Inflation erfahren wie Menschen mit hohen Einkommen. Denn Menschen mit geringen Einkommen müssen einen sehr viel höheren Anteil ihres Einkommens für die Dinge ausgeben, die in dieser Krise besonders teuer geworden sind, beispielsweise Energie für Strom und Heizung sowie Lebensmittel. Daher ist diese Inflation eine höchst unsoziale Krise.
Sage und schreibe 80 Prozent der Menschen, deren finanzielle Lage sich verschlechtert hat, geben an, bei Lebensmitteln zu sparen. Eine andere Reaktion ist die Verschiebung größerer Anschaffungen, was 40 Prozent der Menschen als Reaktion auf diese Krise tun. Und knapp 30 Prozent der Menschen nehmen einen Kredit auf oder überziehen das Konto, um die höheren Kosten des Lebensunterhalts temporär bewältigen zu können. Verschuldung mag eine verständliche Reaktion sein, sie ist aber keine nachhaltige Antwort auf permanent höhere und auch in diesem Jahr weiterhin stark steigende Preise.
Diese Zahlen mögen teilweise erwartbar und teilweise überraschend sein – sie sind auf jeden Fall deprimierend und besorgniserregend, denn sie zeigen, wie tiefgreifend diese Krise die Lebensgrundlage nicht nur einiger weniger, sondern vieler Menschen bis in die Mittelschicht hinein erodiert. 2023 wird sich die Lage nicht bessern, sondern weiter verschlechtern – bei einer Inflation, die bei den meisten Menschen erneut über dem Anstieg von Löhnen und Renten liegen wird. Weitere Einsparungen bei der Grundversorgung und eine zunehmende Verschuldung sind für die meisten Menschen keine Option. Der Sozialstaat ist gefragt: Die Politik darf sich nicht zurücklehnen und die Krise für bewältigt erklären, sondern sie muss zielgenauer als in der Vergangenheit die verletzlichsten Menschen der Gesellschaft besser schützen und unterstützen.
Dieser Kommentar ist im Rahmen von „Fratzschers Verteilungsfragen“ am 21. April 2023 zuerst bei ZEIT Online erschienen.
Themen: Verteilung, Konjunktur, Geldpolitik
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2023-17-3
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/273585