Die Politik darf die Bürger nicht gegen die Streikenden ausspielen

Blog Marcel Fratzscher vom 2. Mai 2023

Der Tarifabschluss im öffentlichen Dienst ist katastrophal für die Kommunen und hat das Potenzial, das Land weiter zu spalten. Doch schuld daran sind nicht die Beschäftigten.

Der 1. Mai ist der Tag der Arbeit und auch des Arbeitskampfes. In den vergangenen Jahrzehnten wurden diese eher symbolisch auf den Straßen deutscher Großstädte ausgetragen. Einen wirklichen Arbeitskampf gab es kaum. Das könnte sich ändern. Der Staat darf dabei nicht selbst zur Ursache von Arbeitskämpfen werden, so wie er dies kürzlich bei den Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst getan hat.

Dieser Gastbeitrag erschien am 1. Mai 2023 in Der Spiegel.

Ein wachsender Niedriglohnsektor, schrumpfende Reallöhne bei vielen Arbeitnehmer*innen und eine sinkende Lohnquote in den 1990er- und 2000er-Jahren war vor allem das Resultat einer hohen Arbeitslosenrate und einer sinkenden Tarifabdeckung. Die Macht von Beschäftigten und Gewerkschaften, ihre Interessen mit Nachdruck zu verfolgen, erodierte.

Dies ändert sich gerade auf dramatische Art und Weise. Der enorme und wachsende Fachkräftemangel führt zu einer starken Machtverschiebung. Der Arbeitgebermarkt verschiebt sich zum Arbeitnehmermarkt. Heute sind bereits zwei Millionen Jobs unbesetzt, weitere fünf Millionen Beschäftigte werden in den kommenden zehn Jahren fehlen. Das wird unweigerlich zu mehr Arbeitskämpfen führen, bis sich eine neue Balance der Macht etabliert hat.

Die Politik ist jedoch nicht machtlos, sondern sie kann viele dieser Arbeitskämpfe mit einer klugen Politik verhindern. Vor allem aber darf der Staat nicht selbst Auslöser für Arbeitskämpfe werden. Der Tarifstreit im öffentlichen Dienst der vergangenen Monate lässt nichts Gutes ahnen, denn der Staat hat in diesem Streit systematisch Bürger gegen Beschäftigte ausgespielt.

Der Tarifabschluss im öffentlichen Dienst könnte sich katastrophal auf viele Kommunen in Deutschland auswirken und zu empfindlichen Einschränkungen der Daseinsvorsorge führen. 30 Prozent der Kommunen in Deutschland sind überschuldet, und viele weitere haben keinerlei finanziellen Spielraum, um die enormen Kosten von zusätzlichen 17 Milliarden Euro der Lohnsteigerungen von durchschnittlich elf Prozent stemmen zu können. Die katastrophale Finanzsituation wird viele Kommunen zwingen, Leistungen zu kürzen und Gebühren und Abgaben zu erhöhen. Kitas und Mitgliedschaften in Sportvereinen könnten teurer, Spielplätze und Schwimmbäder geschlossen werden, die Beantragung eines Personalausweises oder das Genehmigungsverfahren für den Neubau deutlich länger dauern.

Dies ist keine diffuse Sorge, sondern wird mit hoher Wahrscheinlichkeit die Realität vielerorts in den kommenden Jahren werden. Und dies schadet nicht nur der Daseinsvorsorge, sondern richtet auch einen erheblichen Schaden für die Wirtschaft an. Denn auch Unternehmen brauchen leistungsfähige Kommunen und gute Rahmenbedingungen, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können – zumal die Kommunen knapp die Hälfte aller öffentlichen Investitionen in Deutschland leisten.

Es ist eine populistische Umkehr der Fakten, wenn nun manche in Politik und Wirtschaft den deutlichen Lohnerhöhungen der Beschäftigten im öffentlichen Dienst hierfür die Verantwortung geben. Drei Argumente sind in dieser Debatte zentral.

Erstens bestehen die Probleme der Kommunen nicht erst seit ein oder zwei Jahren, sondern seit 20 bis 30 Jahren. Die Hauptverantwortung für diese finanzielle Misere liegt in der Konstruktion des deutschen Föderalismus, bei dem die Kommunen von Bund und Ländern finanziell häufig zu schlecht ausgestattet werden und zu wenig Autonomie haben, um ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen zu können. Studien des DIW Berlin zeigen, dass die Belastungen für Sozialausgaben verantwortlich für die finanzielle Schieflage sind – und nicht vermeintlich zu hohe konsumtive oder administrative Ausgaben. Das Resultat ist ein zunehmendes Süd-Nord-Gefälle und immer ungleichere Lebensverhältnisse und Wirtschaftsbedingungen in Deutschland.

Ein zweiter Einwand der Kritiker des Tarifabschlusses ist es, wir sähen nun den Beginn einer Lohn-Preis-Spirale, durch die sich Lohnforderungen und Preissteigerungen gegenseitig hochschaukeln. Auch dieser Einwand ist falsch. Von Anfang 2021 bis Ende 2024 werden die Preise voraussichtlich um knapp 20 Prozent steigen, die Löhne im öffentlichen Dienst jedoch lediglich durchschnittlich um 14 Prozent (drei Prozent 2021 bis 2022, um elf Prozent 2024). Das bedeutet, dass die Kaufkraft der Löhne im öffentlichen Dienst durchschnittlich um sechs Prozent sinken wird. Daher kann keine Rede von einer solchen Spirale sein, zumal in Deutschland nur knapp die Hälfte aller Beschäftigten über Tarifverträge abgedeckt sind. Vor allem im Niedriglohnbereich sind die meisten Beschäftigten nicht über Tarifverträge abgesichert.

Als Drittes sollten auch die positiven Aspekte der Lohnsteigerungen für Gesellschaft und Wirtschaft betont werden. Gerade der öffentliche Dienst klagt seit vielen Jahren über einen akuten Fachkräftemangel. Es fehlt an Fachpersonal in Kitas, Schulen und der Verwaltung. Bauämter wurden ausgedünnt, und Genehmigungsverfahren für Unternehmen brauchen lange und sind kostspielig. Dies bremst wichtige Investitionen der Unternehmen in die digitale und ökologische Transformation und kostet letztlich gute Arbeitsplätze und Wohlstand.

Deutschland hat eine riesige stille Reserve im Arbeitsmarkt, also Menschen, die nicht oder nur wenige Stunden berufstätig sind. Viele geben an, dass bessere Arbeitsbedingungen und vor allem höhere Löhne ein wichtiger Anreiz für sie wären, um mehr zu arbeiten. Höhere Löhne würden also helfen, zumindest einen kleinen Teil dieser Fachkräftelücke und damit die Daseinsvorsorge zu verbessern. Gleichzeitig helfen höhere Löhne, die Nachfrage zu stabilisieren, wovon wiederum Staat und Unternehmen profitieren.

Was ist zu tun?

  • Als Erstes sollte die Politik die Kommunen stärken. Dies erfordert eine grundlegende Reform des Bund-Länder-Finanzausgleichs, sodass finanz- und strukturschwache Kommunen systematisch bessergestellt werden und mehr Autonomie über ihre Finanzen erhalten. Dies erfordert auch eine Entschuldung der knapp 30 Prozent der Kommunen, denen heute fast jegliche Flexibilität fehlt. Immer wieder hat die Politik über solche Pläne diskutiert und sie letztlich verworfen. Natürlich hat der Staat ein knappes Budget. Aber wenn die Bundesregierung lieber 18 Milliarden Euro im Jahr durch den Ausgleich der kalten Progression vor allem an Spitzenverdiener zurückgibt, anstelle die Kommunen finanziell zu kompensieren, dann zeigt dies die falschen Prioritäten.

  • Zum Zweiten sollte die Politik sich für und nicht gegen bessere Arbeitsbedingungen und auch höhere Löhne einsetzen. Lohnerhöhungen, die die Produktivität der Beschäftigten widerspiegeln, sind dringend notwendig, um die wirtschaftliche Transformation voranzubringen und den Fachkräftemangel zumindest ein wenig reduzieren zu helfen. Eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns gehört genauso dazu wie die Allgemeinverbindlichkeit vieler Tarifverträge.

Deutliche Lohnsteigerungen im öffentlichen Dienst sind nicht nur gerechtfertigt, sondern schaffen einen erheblichen Nutzen für die Daseinsvorsorge und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Die Politik sollte also nicht Beschäftigte gegen Kommunen ausspielen, sondern betonen, dass ihre Stärkung die zwei Seiten einer Medaille sind. Die Politik sollte eine Kehrtwende vollziehen, die Kommunen deutlich stärken und gleichzeitig auch deutliche Lohnerhöhungen möglich machen. Nur so kann die Politik einen wichtigen Beitrag für gleichwertige und gute Lebensbedingungen in Deutschland leisten und gleichzeitig künftige Arbeitskämpfe vermeiden helfen.

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