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Diese Inflation ist eine höchst unsoziale Krise

Blog Marcel Fratzscher vom 24. April 2023

Wegen der hohen Inflation sparen große Teile der Gesellschaft an Essen, verschieben Ausgaben und machen Schulden. Das geht auf Dauer nicht – der Sozialstaat ist gefragt.

Hohe Inflation und Energiekrise haben die finanziellen Nöte vieler Menschen in Deutschland deutlich erhöht. Gleichzeitig sind die Unterschiede zwischen Menschen und gesellschaftlichen Gruppen groß – manche stecken diese Krise finanziell gut weg, andere sehen ihre wirtschaftliche Existenz gefährdet.

Eine neue Studie des Statistikportals Statista und des Finanzdienstleisters auxmoney zeigt, wer die Menschen sind, die besonders unter der Krise leiden. Bei der Befragung, die recht repräsentativ für die Bevölkerung ist, gaben Ende 2022 fast die Hälfte (46 Prozent) der Menschen an, dass sich ihre finanzielle Lage zum Teil deutlich verschlechtert hat. Dies mag angesichts der eingetrübten wirtschaftlichen Lage infolge des Krieges in der Ukraine und der stark gestiegenen Energiepreise nicht unbedingt überraschend sein. Wichtig und interessant sind jedoch die Mechanismen dahinter. Kennt man diese, können sich die Menschen einerseits selbst in Zukunft besser vor einem Wohlstandsverlust schützen und andererseits können staatliche Institutionen zielgenauer und besser unterstützen.

Dieser Text erschien am 21. April 2023 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Insgesamt gibt es drei verschiedene Mechanismen. Der erste sind die konkreten Ausgaben der Menschen, die in dieser Krise stark gestiegen sind. Die Inflation für das Jahr 2022 betrug zwar im Durchschnitt knapp sieben Prozent, Produkte und Dienstleistungen unterschieden sich jedoch sehr stark in ihrer Teuerung. Energie (für Heizung, Strom und Mobilität) wurde im Durchschnitt um knapp 50 Prozent teurer; Nahrungsmittel um mehr als 20 Prozent. Dagegen wurden andere Produkte, wie manche elektronische Geräte, sogar günstiger.

Die meisten Menschen mussten Kaufkraftverluste hinnehmen

Der zweite Mechanismus ist die Entwicklung der Einkommen durch Arbeit, Rente oder soziale Leistungen. Die gute Nachricht für Deutschland war und ist, dass die Arbeitslosigkeit gering geblieben ist. Auch gab es Zuwächse bei Löhnen und Renten: Die Löhne sind 2022 um circa vier Prozent und die Renten um knapp fünf Prozent gestiegen. Diese Zuwächse lagen jedoch deutlich unter den knapp sieben Prozent Inflation. In anderen Worten: Die meisten Menschen mussten deutliche Verluste der Kaufkraft ihrer monatlichen Einkommen hinnehmen. Und sie werden dies wohl auch 2023 tun müssen, wenn die Prognosen richtig sind und die Inflation deutlich höher als die Lohnerhöhungen sein wird.

Der dritte Mechanismus ist die Vorsorge, also die Frage, ob und wie stark Menschen auf Ersparnisse oder auf Unterstützung durch Familie und Staat zurückgreifen können. Und hier zeigt sich eine der größten sozialen Schwächen Deutschlands: Fast 40 Prozent der Menschen haben praktisch keine Ersparnisse, können ihre steigenden Lebenshaltungskosten in dieser Krise also nicht durch finanzielle Rücklagen ausgleichen, sondern müssen beispielsweise ihren Konsum reduzieren oder Kredite aufnehmen.

Bemerkenswert ist, dass ältere Menschen (über 60 Jahre) um fast 50 Prozent häufiger finanziell negativ von dieser Krise betroffen sind als junge Erwachsene (jünger als 30 Jahre). Zwar haben ältere Menschen häufiger Ersparnisse und Rücklagen, jüngere Menschen haben jedoch mehr Möglichkeiten, durch Veränderungen in ihrem Arbeitsleben (zum Beispiel Mehrarbeit, Wechsel des Arbeitgebers) zusätzliche Einnahmen zu generieren. Ähnliches gilt für Familien und Mehrpersonenhaushalte: Menschen in einem Einpersonenhaushalt sind sehr viel häufiger finanziell negativ von dieser Krise betroffen als Familien in Haushalten mit vier und mehr Personen, da größere Haushalte mehr Möglichkeiten haben, zusätzliche Einnahmen oder Ersparnisse zu mobilisieren.

Frauen trifft die Krise härter

Offensichtlich ist, dass doppelt so viele Haushalte mit geringen Einkommen (weniger als 2.000 Euro brutto im Monat) negativ betroffen sind als Haushalte mit mittleren und hohen Einkommen (mehr als 4.000 Euro brutto). Daraus ergibt sich auch, dass Frauen viel häufiger negativ von dieser Krise betroffen sind als Männer: 53 Prozent der Frauen, aber nur 39 Prozent der Männer gaben an, finanziell schmerzvolle Einbußen verkraften zu müssen. Denn Frauen verdienen deutlich weniger als Männer und haben durchschnittlich deutlich geringere Rücklagen und Ersparnisse.

Dass Haushalte mit geringen Einkommen so viel stärker betroffen sind, mag zunächst verwundern. Sie können weniger sparen, da sie häufig ihr gesamtes Monatseinkommen für den Lebensunterhalt benötigen. Doch es gibt noch einen weniger offensichtlichen Grund. Menschen mit geringen Einkommen erfahren häufig eine doppelt bis dreimal so hohe Inflation als Menschen mit hohen Einkommen, denn sie müssen einen sehr viel höheren Anteil ihres Einkommens für die Dinge ausgeben, die in dieser Krise besonders teuer geworden sind, nämlich Dinge der Grundversorgung: Energie für Strom und Heizung und Lebensmittel. Daher ist diese Inflation eine höchst unsoziale Krise.

Interessant und wichtig ist auch die Reaktion der Menschen in Deutschland auf diese Krise. Sage und schreibe 80 Prozent der Menschen, deren finanzielle Lage sich verschlechtert hat, geben an, bei Lebensmitteln zu sparen, also bei einem der wichtigsten Dinge der Grundversorgung. Dies passt auch zu den Angaben der Tafeln in Deutschland, die im Zuge dieser Krise eine starke Nachfrage verzeichnen. Es sind mittlerweile fast zwei Millionen Menschen, die regelmäßig die Tafeln aufsuchen.

Verzichten, sparen, verschieben, Schulden machen

Eine andere Reaktion ist die Verschiebung größerer Anschaffungen, was 40 Prozent der Menschen als Reaktion auf diese Krise tun. Und knapp 30 Prozent der Menschen nehmen einen Kredit auf oder überziehen das Konto, um die höheren Kosten des Lebensunterhalts temporär bewältigen zu können. Auch dies passt zu anderen Studien, die zeigen, dass die Anzahl überschuldeter Haushalte in Deutschland mit dieser Krise deutlich zugenommen hat. Die Verschuldung mag eine verständliche Reaktion sein, sie ist aber keine nachhaltige Antwort auf permanent höhere und auch in diesem Jahr weiterhin stark steigende Preise, vor allem für Lebensmittel.

Diese Zahlen zu den finanziellen Auswirkungen der Krise sind auf jeden Fall deprimierend und besorgniserregend, denn sie zeigen, wie tiefgreifend diese Krise die Lebensgrundlage nicht nur einiger weniger, sondern vieler Menschen bis in die Mittelschicht hinein erodiert. 2023 wird sich diese Lage nicht bessern, sondern weiter verschlechtern, bei einer Inflation, die bei den meisten Menschen erneut über dem Anstieg von Löhnen und Renten liegen wird. Die Zahlen zeigen auch, dass weitere Einsparungen bei der Grundversorgung und eine zunehmende Verschuldung für die meisten Menschen keine Option mehr sind, um diese Krise zu bewältigen. Hier ist der Sozialstaat gefragt. Die Politik darf sich nicht zurücklehnen und die Krise für bewältigt erklären, sondern sie muss zielgenauer als in der Vergangenheit die verletzlichsten Menschen der Gesellschaft besser schützen und unterstützen.

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