Erwerbsminderungsrente: Nach der Reform ist vor der Reform: Kommentar

DIW Wochenbericht 24 / 2023, S. 334

Johannes Geyer

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Der Verlust der Erwerbsfähigkeit ist ein doppeltes Pech: Die Menschen müssen nicht nur mit den gesundheitlichen Einschränkungen leben, sondern auch mit den gravierenden finanziellen Folgen. Viele Betroffene verlieren ihre wichtigste Einkommensquelle, nämlich ihren Lohn. Einspringen soll an dieser Stelle die Erwerbsminderungsrente. Etwa 160000 Personen nehmen diese jährlich neu in Anspruch. Insgesamt beziehen derzeit 1,8 Millionen Menschen Erwerbsminderungsrente, hinzu kommen geschätzt 2,7 Millionen Menschen, die inzwischen eine Altersrente beziehen. Bezogen auf alle Alters- und Erwerbsminderungsrenten liegt der Anteil der ursprünglich Erwerbsgeminderten bei immerhin 22 Prozent.

Von den Erwerbsgeminderten, die die Altersgrenze noch nicht erreicht haben, gilt etwa ein Drittel als armutsgefährdet, die Grundsicherungsquote (bei unbefristeten Renten) liegt aktuell bei 15 Prozent, der Bezug von Sozialhilfe oder anderer Transfers dürfte ebenfalls überdurchschnittlich ausfallen. Zwar gab es in den Jahren 2014, 2018 und 2019 Reformen. Allerdings bezogen sich bisher alle Verbesserungen auf neu zugehende Erwerbsminderungsrenten, nicht den Rentenbestand. Das wird nun bis zum Juli 2024 nachgeholt. Dann werden die Renten pauschal um 7,5 Prozent (Rentenzugänge zwischen Januar 2001 und Juni 2014) beziehungsweise 4,5 Prozent (Rentenzugänge zwischen Juli 2014 und Dezember 2018) angehoben.

Doch auch nach der Reform werden Armutsrisiko und Grundsicherungsquote deutlich überdurchschnittlich ausfallen. Eine aktuelle Studie des DIW Berlin schätzt, dass die Reform das Armutsrisiko nur um etwa zwei Prozentpunkte senken kann. Die Reform kommt zudem reichlich spät, wenn sie heute noch die Bezüge von Rentner*innen aufwertet, die teilweise vor 23 Jahren in Rente gegangen sind. Bei befristeten Renten wird es zudem keine Rückrechnung geben und bei Gestorbenen allenfalls eine höhere Hinterbliebenenrente. Viele dieser frühen Zugangskohorten werden also nicht in den Genuss der Aufwertung kommen. Der Zuschlag ist zudem sehr sparsam kalkuliert: Rechnerisch entspricht die Anhebung ungefähr 50 Prozent dessen, was die Reformen 2014 und 2019 für neu zugehende Erwerbsminderungsrenten vorsahen. Die Bundesregierung schätzt die zusätzlichen jährlichen Ausgaben der Rentenversicherung auf etwa 2,6 Milliarden – mit abnehmender Tendenz. Man könnte überrascht sein, dass diese Reform – bei so einem überschaubaren Finanzvolumen – nicht früher umgesetzt wurde.

Wie sollte etwa das Armutsrisiko substanziell gesenkt werden? Eine weitere Anhebung der Erwerbsminderungsrenten wäre zwar möglich, würde aber das Problem vergrößern, dass die Erwerbsminderungsrente bereits heute für ältere Personen attraktiver sein kann als eine Altersrente mit Abschlägen. Besser wäre es, Leistungsverbesserungen in beiden Systemen vorzunehmen. Das ist angesichts der finanziellen Spielräume der Rentenversicherung aber unrealistisch. Ein Kompromiss könnte sein, die Grundrente weiter zu entwickeln: Bisher zählen die Zurechnungszeiten bei der Erwerbsminderungsrente nicht zu den Grundrentenzeiten, so dass sich viele Erwerbsgeminderte nicht für den Grundrentenzuschlag qualifizieren können.

Ein weiterer wichtiger Punkt wäre eine Erhöhung der Reaktivierungsquote. Eine aktuelle Studie der Rentenversicherung zeigt für den Zugang 2011, dass im Laufe von neun Jahren nach Renteneintritt gerade ein Prozent zurück in den Arbeitsmarkt gefunden hat. Bei so geringen Abgangsraten kann man die Frage stellen, ob Erwerbsminderungsrenten nicht grundsätzlich unbefristet gewährt werden sollten. Völlig unterbelichtet ist bisher, wie das Risiko der Erwerbsminderung im Mehrsäulensystem versichert werden soll. Ein exemplarisches Beispiel dafür ist die Riesterrente: Bei dieser staatlich geförderten Versicherung ist das Risiko der Erwerbsminderung in der Regel nicht versichert, stattdessen gelten voll Erwerbsgeminderte als unmittelbar zulagenberechtigt. Bei der betrieblichen Altersvorsorge gibt es häufiger Versicherungsschutz, allerdings ist ihre Verbreitung ungleich verteilt, so dass viele Menschen, die eine Absicherung brauchen, keinen Zugang zum Versicherungsschutz haben.

Dieser Kommentar ist in einer längeren Version zuerst im Wirtschaftsdienst Nr. 5/2023 erschienen.

Johannes Geyer

Stellvertretender Abteilungsleiter in der Abteilung Staat

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