Breiter Industriestrompreis ist kein geeignetes Entlastungsinstrument

DIW Wochenbericht 38 / 2023, S. 513-521

Lea Bernhardt, Tomaso Duso, Robin Sogalla, Alexander Schiersch

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  • Strompreise sind in Deutschland deutlich gestiegen, liegen für viele Unternehmen aber noch im europäischen Mittelfeld, jedoch höher als in den USA
  • Studie untersucht, wie sich Strompreisanstiege von sechs und 18 Cent pro kWh gegenüber dem Jahr 2018 auf Industrieunternehmen auswirken
  • Nur wenige Unternehmen in ausgewählten Industriezweigen stark betroffen; große Mehrheit der Unternehmen wenig belastet
  • Industriestrompreis in Höhe von sechs Cent pro kWh könnte Kostensteigerungen dämpfen, aber nicht komplett abfedern. Brückencharakter des Industriestrompreises fraglich
  • Politik muss genau begründen, wenn sie Unternehmen aus strategischen Gründen gezielt entlasten will

„Nur wenige Teilbranchen und Unternehmen wären von Strompreiserhöhungen stark betroffen. Ob und inwiefern diese Teilbranchen gefördert werden sollten, erfordert eine datengestützte Abwägung ihrer strategischen Bedeutung.“ Lea Bernhardt

Die stark gestiegenen Energiepreise haben zu einer breiten Diskussion über mögliche Entlastungen für Unternehmen in Form eines Industriestrompreises geführt. Damit sollen Unternehmen international wettbewerbsfähig bleiben und es soll eine Abwanderung ins Ausland verhindert werden. Tatsächlich liegen die deutschen Strompreise für (Industrie-)Unternehmen aufgrund vielfacher Abgabenbefreiungen im europäischen Mittelfeld, sind aber deutlich höher als im außereuropäischen Ausland. Simulationen mit unterschiedlich starken Preisanstiegen zeigen, dass nur ein sehr kleiner Teil der Unternehmen große Kostenanstiege im Verhältnis zu ihrer Wertschöpfung zu verzeichnen hätte. Zudem besteht eine große Heterogenität zwischen den Branchen. So ist der Bereich der Industriegase oder die Aluminiumproduktion deutlich stärker betroffen als andere Industrien. Breit angelegte Industriestrompreise erscheinen daher wenig zielführend. Selektive Entlastungen für bestimmte Bereiche könnten wettbewerbsrechtlich problematisch sein und müssen möglicherweise weit über den Brückencharakter des Industriepreises hinaus gewährt werden.

In Anbetracht der anhaltend hohen Energiepreise in Deutschland wird derzeit über Entlastungsmöglichkeiten für besonders energieintensive Unternehmen diskutiert. Nachdem die Strompreise im letzten Jahrzehnt relativ stabil waren, gab es zwischen Herbst 2021 und Ende 2022 einen starken Anstieg der Strompreise, sowohl in Deutschland als auch in anderen EU-Ländern.

Die durchschnittlichen Strompreise sind in Deutschland für Industriekunden in der Spitze auf über 25 Cent pro Kilowattstunde (kWh) gestiegen (Abbildung 1). Der Großhandelsstrompreis lag im Jahr 2018 im Durchschnitt bei 5,4, während er 2022 einen Höchstwert von 46,5 Cent pro kWh erreichte. Seit Anfang 2023 sind die Großhandelsstrompreise auf das Niveau von ungefähr zehn Cent pro kWh gesunken. Auch die Entwicklung auf dem Terminmarkt zeigt, dass die Markterwartungen bis 2030 bei einem Preisniveau zwischen acht und fünfzehn Cent pro kWh liegen.

Die industriellen Strompreise lagen in den letzten Jahren zwar über dem europäischen Durchschnitt. Allerdings liegen die effektiven Preise in Deutschland für viele (Industrie-)Unternehmen aufgrund vielfacher Abgabenbefreiungen unter dem europäischen Durchschnitt.infoVgl. Studie unter Beteiligung des DIW Berlin Paolo Buccirossi et al. (2021): Energy and Environmental Guidelines (EEAG) Revision Support Study. Final report (online verfügbar, abgerufen am 25. August 2023. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt). Neben Erleichterungen bei der Stromsteuer durch Ausnahmeregelungen für bestimmte Verkehrsunternehmen oder dem Spitzenausgleich für stromintensive Betriebe galten bis Ende 2022 weitreichende Ermäßigungen bei den Umlagen für erneuerbare Energien. infoDiese Ermäßigungen gelten als staatliche Beihilfen und wurden als solche von der EU-Kommission genehmigt. Die beiden zentralen Kriterien für die Befreiung von der EEG- und KWK-Umlage sind die Energieintensität und die Handelsintensität, vgl. Paolo Buccirossi et al. (2021), a. a. O. Anfang 2023 ist das Energiefinanzierungsgesetz (EnFG) in Kraft getreten, das die bisherige Besondere Ausgleichsregelung (BeSAr) im Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) ersetzt.info§§ 28 ff Energiefinanzierungsgesetz v. 20. Juli 2022, BGBl. I S. 1237, 1272, zuletzt geändert am 26. Juli 2023, BGBl. 2023 I Nr. 202.

Trotz der schon bestehenden Entlastungen wird in der wirtschaftspolitischen Diskussion stark für einen staatlich subventionierten Industriestrompreis geworben, um die Wettbewerbsfähigkeit und Existenz potenziell gefährdeter Unternehmen sicherzustellen.infoBundesverband der Deutschen Industrie e.V. (2023): Wettbewerbsfähigkeit der Industrie in der Transformation sichern. Positionspapier Mai 2023 (online verfügbar). Ohne eine solche Entlastung der energieintensiven Unternehmen drohe eine Abwanderung und Standortverlagerung ins Ausland, was wiederum zu einem Verlust an Wertschöpfung und Arbeitsplätzen in Deutschland führen könnte.infoVerband der Chemischen Industrie e. V. (2023): Ja zum Industriestrompreis! Politikbrief Mai 2023. Diese Befürchtungen sind allerdings nicht neu: Bereits 2014 warnte das Bundeswirtschaftsministerium vor einer drohenden Deindustriealisierung.infoVgl. Informationen auf der Website des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz vom 24. März 2014. Auch damals wurde der Vergleich zu den Strompreisen in den USA gezogen, die deutlich geringer waren als in Deutschland.infoAktuell liegen die Strompreise in den USA bei rund 8 Cent pro kWh, vgl. Daten von der Website des U.S. Energy Information Administration (online verfügbar). Diese Argumentation wiederholt sich nun verstärkt durch die Implementierung des Inflation Reduction Acts, der energieintensive Produktion aus Deutschland abwerben könnte.infoMit dem Inflation Reduction Act sollen unter anderem Investitionen in die heimische Energieerzeugung gefördert und Energiepreise für bestimmte Unternehmen subventioniert werden. Vgl. Jens Südekum (2023): Was für den Industriestrompreis spricht. Wirtschaftsdienst 103 (8), 506–507.

Anfang Mai dieses Jahres präsentierte das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) daher ein Konzept zur Einführung von Industriestrompreisen für deutsche Unternehmen (Kasten 1).infoBundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (2023): Wettbewerbsfähige Strompreise für die energieintensiven Unternehmen in Deutschland und Europa sicherstellen (online verfügbar). Damit sollen Unternehmen entlastet werden, die im internationalen Wettbewerb stehen und besonders energieintensiv sind.

Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) plant, die Strompreise auf sechs Cent pro Kilowattstunde für 80 Prozent des Verbrauchs mit einer Laufzeit bis maximal Ende 2030 zu senken. Praktisch umgesetzt werden soll dieser Brückenstrompreis, indem der Bund die Differenz zwischen dem Preis an der Strombörse und dem Industriestrompreis von sechs Cent erstattet. Ferner wird nicht der tatsächliche Verbrauch, sondern ein über Stromverbrauchsbenchmarks bestimmter Referenz-Verbrauch zugrunde gelegt. In der Analyse wird angenommen, dass sich diese Richtwerte am historischen Stromverbrauch orientieren, ähnlich wie bei den Strom- und Gaspreisbremsen. Die Summe der Transferleistung vom Staat an die Unternehmen hängt somit weder vom effektiv gezahlten Preis noch vom tatsächlichen Verbrauch ab, sodass ein Anreiz erhalten bleibt, möglichst wenig Energie zu verbrauchen.

Um den Empfängerkreis zu beschränken, will sich das BMWK an der Besonderen Ausgleichsregelung (BesAR) aus dem Energiefinanzierungsgesetz (EnFG) orientieren. Antragsberechtigt wären demnach Unternehmen, die in einer bestimmten Teilbranche tätig sind.infoSiehe § 31 EnFG. Der potenzielle Empfängerkreis umfasst damit Unternehmen aus über 100 Branchen, wobei nur Unternehmen mit einem Stromverbrauch über einer Gigawattstunde pro Jahr die Befreiung erhalten.infoSiehe Liste 1 und 2 der Anlage zu § 31 EnFG Im Jahr 2022 wären insgesamt 1990 Unternehmen begünstigt worden.infoBundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (2022): Hintergrundinformationen zur Besonderen Ausgleichsregelung. Antragsverfahren 2021 für Begrenzung der EEG-Umlage 2022 (online verfügbar).

Als Voraussetzung für diese Entlastung wird unter anderem die Verpflichtung seitens der Unternehmen diskutiert, bis 2045 klimaneutral zu sein und eine Standortgarantie abzugeben. Finanziert werden sollen die Ausgaben aus Mitteln des Wirtschaftsstabilisierungsfonds, in einer Größenordnung von rund 25 bis 30 Milliarden Euro. Pro Jahr dürften circa 4,8 Milliarden Euro an Subventionen anfallen.infoWissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen (2023): Ein Industriestromtarif für Deutschland? Stellungnahme (online verfügbar).

Ziel dieser Studie ist es, neue datenbasierte Evidenz über die Auswirkungen hoher Strompreise auf die Wertschöpfung von Unternehmen in die Diskussion einzubringen.

Simulationen zum Anstieg der Stromkosten zeigen große Unterschiede zwischen Branchen

Doch obwohl die wirtschaftspolitische Diskussion über die Auswirkungen eines Industriestrompreises lebhaft geführt wird, steht sie auf einer recht dünnen empirischen Basis. Insbesondere werden Statistiken auf einer hoch aggregierten Industrieebene verwendet, die die große Heterogenität von Unternehmen auch innerhalb der gleichen Branchen vernachlässigen. Dahingegen zeigen empirische Studien, dass moderate Strompreisänderungen zwar keinen negativen Effekt auf die Wettbewerbsfähigkeit eines durchschnittlichen Unternehmens haben, es aber große Unterschiede zwischen und innerhalb einzelner Wirtschaftszweige gibt.infoAndreas Gerster und Stefan Lamp (2022): Energy Tax Exemptions and Industrial Production. SSRN Working Paper (online verfügbar); Kathrine von Graevenitz und Elisa Rottner (2022): Do Manufacturing Plants Respond to Exogenous Changes in Electricity Prices? Evidence From Administrative Micro-Data. ZEW Discussion Paper No. 22-038 (online verfügbar); Kathrine von Graevenitz, Elisa Rottner und Andreas Gerster (2023): Brückenstrompreis: Fehler aus der Vergangenheit fortführen? ZEW Policy Brief (online verfügbar).

Die empirischen Untersuchungen dieser Studie basieren auf Unternehmensdaten der amtlichen Statistik, die das AFiD-Panel Industrieunternehmen sowie das AFiD – Modul Energieverwendung umfassen. Auf Basis dieser Daten werden die Kosten simuliert, die stromintensive Industrieunternehmen in Deutschland zu tragen hätten, wenn die Strompreise deutlich über das tatsächliche Niveau im Jahr 2018 steigen würden (Kasten 2).info2018 wird als Basisjahr genutzt, da dies das letzte zur Verfügung stehende Jahr der AFiD-Daten ist.

Die empirischen Untersuchungen basieren auf den Unternehmensdaten der amtlichen Statistik. Die hier verwendeten Module umfassen das AFiD – Panel Industrieunternehmen sowie das AFiD – Modul Energieverwendung. Die beiden Datenquellen umfassen alle Unternehmen in Deutschland im verarbeitenden Gewerbe (Wirtschaftszweig C) mit 20 oder mehr tätigen Personen. Das Panel Industrieunternehmen enthält die Wertschöpfung auf Unternehmensebene sowie Daten über die Kostenstruktur für eine repräsentative Stichprobe, die die Berechnung der Wertschöpfung erlaubt. Das Modul Energieverwendung liefert unter anderem Informationen über den Stromverbrauch der Unternehmen. Alle Berechnungen nutzen als Basisjahr 2018, da für dieses Jahr die aktuellsten Daten vorliegen.

Der Kostenanstieg der einzelnen Szenarien berechnet sich wie folgt: Zunächst wird der Preisanstieg für Unternehmen i, beim Börsenstrompreisszenario, b, berechnet:

Pnewi,b=Pi,2018Industrie+ΔPbbörse

wobei Pi,2018Industrie der Strompreis ist, den Unternehmen i im Jahr 2018 bezahlt. Weil keine unternehmensspezifischen Strompreise beobachtet werden, werden verbrauchergruppenspezifische Strompreise genutzt. ΔPbbörse ist der Anstieg im Börsenstrompreis je nach Szenario, also sechs oder 18 Cent pro kWh.

Die durch den Industriestrompreis entstehende Subvention berechnet sich wie folgt:

Subi,b=(P2018börse+ΔPbbörse-6ct)×0.8×verbrauchi,2018

In der Simulation wird davon ausgegangen, dass der historische Verbrauch eines Unternehmens die Grundlage für die Berechnung der Subvention ist und nicht auf der Basis von Benchmarks für die stromeffizientesten Unternehmen beruht.infoDas BMWK nennt im Vorschlag die Verwendung von Stromverbrauchsbenchmarks. Allerdings ist unklar, ob damit der historische Verbrauch oder Benchmarks im Bezug auf die effizientesten Unternehmen gemeint sind. Für den Börsenstrompreis in 2018, P2018börse, wird der durchschnittliche Preis von 5,4 Cent pro kWh verwendet. Daraus ergibt sich der folgende Kostenanstieg für Unternehmen i, nachdem die Subvention durch den Industriestrompreis berücksichtig wurde.

CIi,b,p=(Pnewi,b-Pi,2018Industrie)×verbrauchi,2018-Subi,b

Schließlich wird die neue Wertschöpfung unter der Annahme, dass die Unternehmen 70 Prozent des Kostenanstiegs weitergeben können und somit nur 30 Prozent des Kostenanstieges tragen, berechnet. Damit ergibt sich die neue Wertschöpfung als:

WSi,b,p,cnew=(1+70%×CIi,b,pPi,2018Industrie×verbrauchi,2018)×WSi,2018

Die Wertschöpfung ist definiert als der Umsatz abzüglich aller Vorleistungen.

Mangels detaillierter Daten und Schätzungen werden in der Berechnung einige Aspekte vernachlässigt. Zunächst wird nicht berücksichtigt, dass Unternehmen in Folge höherer Strompreise ihre Stromnutzung teilweise durch andere Inputs ersetzen könnten. Da die Berechnungen diese Substitution ausschließen, wird der Kostenanstieg potenziell überschätzt. Auf der anderen Seite können die Preisanstiege für vorgelagerte, stromintensive Produkte nicht berücksichtigt werden. Durch diesen Wertschöpfungsketteneffekt würden die Kosten für nachgelagerte Industrien stärker steigen als in den hier gerechneten Szenarien.

Es werden unterschiedliche Szenarien für den Preisanstieg simuliert, um die Auswirkungen eines moderaten sowie eines extremen Preisanstiegs zu zeigen. Die Szenarien I und II gehen von einem Anstieg des Großhandelsstrompreises um sechs Cent pro kWh im Vergleich zum Jahr 2018 aus (Tabelle). Da der Großhandelspreis 2018 im Durchschnitt bei 5,4 Cent pro kWh lag, liegt der in den Szenarien I und II angenommene Großhandelspreis bei 11,4 Cent pro kWh und damit leicht über dem aktuellen Großhandelspreis sowie den im Mittel erwarteten künftigen Preisen (Abbildung 1).

Tabelle: Übersicht über die berechneten Szenarien

Strompreisanstieg\Subvention keine Subvention Industriestrompreis von 6 Cent
6 Cent pro Kilowattstunde Szenario I Szenario II
18 Cent pro Kilowattstunde Szenario III Szenario II

Anmerkung: Die Szenarien simulieren einen Kostenanstieg um 6 beziehungsweise 18 Cent pro Kilowattstunde im Vergleich zu 2018 mit und ohne staatliche Subvention.

Quelle: Eigene Darstellung.

Der in den Szenarien III und IV angenommene Anstieg um 18 Cent pro kWh spiegelt die Strompreissteigerung aus dem Jahr 2022 auf einen durchschnittlichen Großhandelsstrompreis von 23 Cent pro kWh wider. Da die aktuellen Großhandelsstrompreise deutlich geringer sind und die Futures für die kommenden Jahren auf niedrigere Preise hindeuten, ist diese Preiserhöhung ein recht unwahrscheinliches Extremszenario.infoDer durchschnittliche Großhandelspreis lag im 2. Quartal 2023 laut SMARD (Strommarktdaten für Deutschland) bei 9,2 Cent/kWh und im 1. Quartal bei 12 Cent SMARD (2023): Der Strommarkt im 1. Quartal: Großhandelsstrompreis gesunken (online verfügbar) und SMARD (2023): Der Strommarkt im 2. Quartal: Hohe PV-Einspeisung (online verfügbar).

Die Strompreissteigerungen werden mit Annahmen darüber kombiniert, ob sie ungebremst an die Unternehmen weitergegeben (Szenarien I und III) oder durch den vom BMWK vorgeschlagenen Industriestrompreis kompensiert werden (Szenarien II und IV). In diesem Fall erhalten die Unternehmen auf 80 Prozent ihres historischen Stromverbrauchs eine Zahlung in Höhe der Differenz zwischen dem jeweiligen Großhandelsstrompreis und sechs Cent (Kasten 1).

Für weitere Berechnungen wird angenommen, dass die Unternehmen 70 Prozent des Kostenanstiegs an ihre Kund*innen weitergeben können, ohne dabei ihre Absatzmenge zu verringern oder ihre Effizienz zu verändern (Kasten 2).infoEine aktuelle Studie aus den USA schätzt die Überwälzungsrate von Energiekostensteigerungen auf etwa 70 Prozent; siehe Sharat Ganapati, Joseph S. Shapiro und Reed Walker (2020): Energy Cost Pass-Through in US Manufacturing: Estimates and Implications for Carbon Taxes. American Economic Journal: Applied Economics (online verfügbar).

Relativ geringe durchschnittliche Kostenanstiege, aber große Unterschiede zwischen den Branchen

Bei einer relativ hoch aggregierten Betrachtung unterschiedlicher Branchen (zweistellige Gliederungsebene) sind die durchschnittlichen Kostenanstiege zwar sehr unterschiedlich, liegen aber selbst im Extremszenario in nur zwei Branchen bei knapp über zehn Prozent ihrer Wertschöpfung (Abbildung 2).infoNach der Klassifikation des Statistischen Bundesamtes werden die Wirtschaftszweige (WZ) in statistische Einheiten unterteilt. So zeigen zweistellige Wirtschaftsabteilungen eine stärker aggregierte Aufschlüsselung als vierstellige Wirtschaftsklassen. Vgl. Informationen auf der Webseite des Statistischen Bundesamts. Im Folgenden werden die Begriffe Branche und Teilbranche synonym für die Wirtschaftsabteilung (zweistellig) beziehungsweise Wirtschaftsklasse (vierstellig) verwendet.

Insgesamt ergeben sich die stärksten Auswirkungen bei der Produktion von Papier und Pappe sowie bei der Metallerzeugung und -bearbeitung. Für diese beiden Branchen verringert sich bei einem Preisanstieg von sechs Cent pro kWh ohne Subvention und einer Weitergabe von 70 Prozent an die Kund*innen die Wertschöpfung um knapp sieben Prozent. Die Herstellung von Holzwaren sowie die Chemiebranche sind mit Kostenanstiegen zwischen vier und fünf Prozent am zweitstärksten betroffen. Für alle anderen Branchen ergeben sich Kostenanstiege unter vier Prozent im Verhältnis zur Wertschöpfung. Selbst bei der Simulation eines extremen Preisanstiegs um 18 Cent pro kWh verzeichnen die meisten Wirtschaftszweige geringere Kostenanstiege von 0,1 Prozent bis knapp unter acht Prozent.

Mit Industriestrompreis (Szenario II und IV) fallen die Kostenanstiege erwartungsgemäß geringer aus. So würden die Kosten in der Metall- und Papierbranche bei einem Strompreisanstieg von sechs Cent pro kWh um weniger als drei Prozent der Wertschöpfung ansteigen. Der Industriestrompreis würde die Kostenanstiege für die am stärksten betroffenen Branchen ungefähr halbieren.

Große Heterogenität auch innerhalb der Branchen mit dem höchsten Stromverbrauch

Eine detailliertere Betrachtung (vierstellige Gliederungsebene) zeigt, dass es auch innerhalb der stromintensiven Branchen eine große Heterogenität gibt.infoDie Teilbranchen Herstellung von Holz- u. Zellstoff (1711), Papier, Karton u. Pappe (1712) sowie Kokereien (1910) und Mineralölverarbeitung (1920) gehören ebenfalls zu den potenziell besonders betroffenen Teilbranchen. Die Ergebnisse können aber aufgrund von Datenschutzrestriktionen nicht gezeigt werden.

Während die Chemiebranche an vierter Stelle der Kostenanstiege liegt (Abbildung 2), verzeichnet die Teilbranche der Industriegasherstellung den mit Abstand größten Kostenanstieg mit einem Anteil von fast 40 Prozent der Wertschöpfung in Szenario I (Abbildung 3).infoZu Industriegasen gehören beispielweise die in chemischen Prozessen gewonnenen Gase Acetylen, Kohlendioxid und Wasserstoff. Mit einem Industriestrompreis würde der Anstieg auf knapp 17 Prozent fallen. Insgesamt könnte der Industriestrompreis die Kostensteigerungen bei den sehr stromintensiven Teilbranchen dämpfen, aber die Unternehmen nicht komplett entlasten.

Andere Bereiche der Chemiebranche weisen deutlich geringere Kostenanstiege aus. In Szenario I liegt der Kostenanstieg bei zwölf Prozent der Wertschöpfung für die Herstellung anorganischer Chemikalien und bei sechs Prozent für Düngemittel sowie Kunststoffe in Primärformen. Für alle anderen Teilbranchen in der Chemie bedeutet der Kostenanstieg einen Verlust der Wertschöpfung von unter fünf Prozent.

Auch in der Metallerzeugung gibt es große Unterschiede zwischen den Teilbranchen. Die besonders stromintensive Aluminiumindustrie hat den größten Kostenanstieg. Bei einer Erhöhung der Strompreise um sechs Cent steigen die Kosten um 15 Prozent der Wertschöpfung ohne Industriestrompreis (gegenüber sechs Prozent mit Subvention) und um 23 Prozent (beziehungsweise zwölf Prozent mit Subvention) bei einer Erhöhung um 18 Cent. Die Herstellung vom Blei, Zink und Zinn verzeichnet ebenfalls einen Kostenanstieg von über zehn Prozent der Wertschöpfung in Szenario I, während dieser bei der Produktion von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen sowie Eisengießereien bei acht Prozent liegt.

Mit Ausnahme der Zementindustrie und der Herstellung von Holzplatten verzeichnen alle weiteren aufgeführten Industrien Kostenanstiege von unter zehn Prozent (15 Prozent) bei einer Preiserhöhung von sechs Cent (18 Cent) ohne Subvention beziehungsweise Anstiege um null (ein) bis drei (sechs) Prozent bei einem subventionierten Industriestrompreis.

Wenige Unternehmen innerhalb der Teilbranchen stark betroffen

Die größten Kostenanstiege bei einem Preisanstieg um sechs Cent pro kWh betreffen die Branche der Papier- und Pappherstellung mit einem Medianwert von sechs Prozent. Allerdings ist die Schwankungsbreite mit einigen Ausreißern nach oben sehr groß (Abbildung 4).infoDie Auswahl der dargestellten Teilbranchen in Abbildung 4 erfolgte auf Grundlage der Datenverfügbarkeit. Aufgrund von Datenschutzrestriktionen kann die Verteilung nicht für alle Teilbranchen aus Abbildung 3 dargestellt werden. Ebenso verhält es sich bei Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen. Auch hier wird der hohe Durchschnittswert des Kostenanstiegs von wenigen stark betroffenen Unternehmen getrieben.

Besonders betroffene Teilbranchen haben geringen Anteil an der industriellen Wertschöpfung

Um den Effekt der Kostenanstiege in Relation zum Anteil an der industriellen Wertschöpfung und des Stromverbrauchs zu setzen, werden die gezeigten Teilbranchen noch einmal gegenübergestellt (Abbildung 5).infoDie Teilbranchen wurden nach Datenverfügbarkeit ausgewählt. Aufgrund starker Datenschutzrestriktionen ist eine vollständige Abbildung nicht möglich.

Den höchsten Anteil am industriellen Stromverbrauch hat die Teilbranche von Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen mit knapp neun Prozent, gefolgt von sonstigen organischen Grundstoffen und Chemikalien mit acht Prozent. Diese beiden Teilbranchen machen aber nur einen geringen Anteil an der industriellen Wertschöpfung aus (zwei beziehungsweise drei Prozent). Auf der anderen Seite weist der Bereich der Industriegase, der den höchsten Kostenanstieg zu verzeichnen hat, einen Anteil an der industriellen Wertschöpfung von gerade einmal 0,9 Prozent aus. Der Anteil am industriellen Stromverbrauch liegt mit 2,5 Prozent im Mittelfeld der betrachteten Industrien. Allerdings liefern die genannten Teilbranchen Grundstoffe für viele nachgelagerte Industrien.

Daher wird von Wirtschaftsvertreter*innen oft das Argument angeführt, dass eine Abwanderung der energieintensiven Grundstoffindustrien auch zu einem Verlust nachgelagerter Industrien mit höherer Wertschöpfung führt.infoIW Consult (2023): Fiskalischer Impact der Energieintensiven Industrien in Deutschland (online verfügbar). Mangels Datenverfügbarkeit gibt es aber keine robuste Evidenz für diesen Effekt innerhalb der Wertschöpfungsketten.

Fazit: Breite Industriestrompreise sind nicht sinnvoll

Die aktuell breit diskutierten Industriestrompreise erscheinen vor dem Hintergrund der gezeigten Simulationsergebnisse nicht zielführend. Der Vorschlag des BMWK grenzt den Adressatenkreis auf Basis der Besondere Ausgleichsregelung zwar richtigerweise ein, in der politischen Diskussion wird jedoch vielfach ein noch breiterer Adressatenkreis gewünscht. Darüber hinaus könnten auch nach dem Vorschlag des BMWK Unternehmen aus mehr als 100 Teilbranchen potenziell vom Industriestrompreis profitieren (Kasten 1).

Die Simulationsergebnisse zeigen, dass die Anzahl der besonders stark von einem Strompreisanstieg betroffenen Teilbranchen deutlich geringer ist. Zudem führen die simulierten Preissteigerungen selbst innerhalb dieser Teilbranchen für viele Unternehmen zu keinem großen Kostenanstieg im Verhältnis zur Wertschöpfung. Nur wenige Unternehmen in einigen eng definierten Teilbranchen haben einen hohen Kostenschock zu verzeichnen. Außerdem würde ein Industriestrompreis für diese sehr stromintensiven Teilbranchen zwar Kostensteigerungen dämpfen, aber die Unternehmen nicht komplett entlasten.

Eine alternative Entlastung, wie etwa die vom Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium der Finanzen vorgeschlagene Abschaffung der Stromsteuer in DeutschlandinfoWissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen (2023), a. a. O., wäre möglicherweise rechtlich umsetzbar, würde aber eine sehr umfassende Steuererleichterung darstellen, die schwer zu finanzieren wäre. Die durchschnittlichen Einnahmen aus der Stromsteuer betragen jährlich 6,7 Milliarden Euro.infoVgl. Informationen auf der Website des Bundesfinanzministeriums (online verfügbar). Im Vergleich zu den geschätzten Kosten von 4,8 Milliarden Euro für den Industriestrompreis wäre die Abschaffung also zunächst teurer, würde aber zugleich allen Unternehmen und auch allen Verbraucher*innen zugutekommen. Eine solch breite Entlastung wäre zwar wenig zielgenau, im Vergleich zum Industriestrompreis aber leichter mit dem EU-Beihilferecht vereinbar.

Schließlich sollte auch die Brückenfunktion des Industriepreises überdacht werden. Deutschland wird sehr wahrscheinlich auch langfristig nicht die günstigsten Strompreise in Europa und weltweit haben. Ein als Brückenstrompreis angelegter Strompreis, der die Unternehmen nur bis zum Jahr 2030 subventioniert, erscheint somit wenig realistisch. Einige energieintensive Industrien werden daher weiterhin mit Wettbewerbsnachteilen konfrontiert sein. Eine gründliche Abwägung könnte daher notwendig sein, um zu bestimmen, ob und, wenn ja, welche Schlüsselsektoren beziehungsweise Unternehmen tatsächlich von strategischer Bedeutung sind und deswegen unterstützt werden sollten.

Diese Frage sollte anhand von datengestützten Analysen beantwortet werden, die die Bedeutung bestimmter Schlüsselsektoren für die nationalen Wertschöpfungsketten messen. Erst dann könnte die Politik entscheiden, sie auf dem Weg zur Klimaneutralität und darüber hinaus zu unterstützen. Ob ein Brücken- beziehungsweise Industriestrompreis dafür das richtige Instrument ist, bleibt fraglich. Eine große Abwanderungswelle ist auch ohne Industriestrompreis nicht zu befürchten, selbst wenn die Transformation hin zu einer klimaneutralen Produktion einige wenige Industrieunternehmen vor Herausforderungen stellen wird und gegebenenfalls einige nicht mehr in Deutschland produzieren werden können.

Robin Sogalla

Doktorand in der Abteilung Unternehmen und Märkte

Tomaso Duso

Abteilungsleiter in der Abteilung Unternehmen und Märkte

Alexander Schiersch

Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Unternehmen und Märkte



JEL-Classification: H2;K32;L5;Q4
Keywords: energy costs, subsidy, competition policy
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2023-38-1

Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/279494

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