DIW Wochenbericht 39 / 2023, S. 542
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Die Sehnsucht, zur Mitte der Gesellschaft zu gehören, und wie eine Gesellschaft ihre Mitte definiert, sagt viel über die Werte einer Gesellschaft aus, aber auch über individuelle Wahrnehmungen und Fehleinschätzungen. Neue Studien zeigen eine erstaunliche Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung der Menschen zur Zugehörigkeit zur Mittelschicht und der Realität.
Sechs von sieben Spitzenverdienenden in Deutschland glauben demnach, zur Mittelschicht zu gehören. Selbst der heutige CDU-Vorsitzende Friedrich Merz zählte sich 2018 zur Mittelschicht, obwohl er ein fast siebenstelliges Jahreseinkommen angab. Aber auch Menschen mit sehr wenig Einkommen rechnen sich überwiegend der Mittelschicht zu. Gleichzeitig hat die Mehrheit der Deutschen den Eindruck, dass die Einkommensungleichheit in Deutschland zunimmt. Es ist also nicht so, dass Menschen die Ungleichheit unterschätzen, sondern sie ordnen sich bewusst oder unbewusst anders in die Verteilung der Gesellschaft ein, als es der Realität entspräche.
Üblicherweise wird die Mittelschicht auf Grundlage von Einkommen und Vermögen definiert. Es gibt aber auch andere Zuschreibungen, wie die von Friedrich Merz im Wahlkampf 2018 vorgetragene. Was die Mittelschicht für ihn ausmache, habe er von seinen Eltern mitbekommen. Nämlich: „Fleiß, Disziplin, Anstand, Respekt und das Wissen, dass man der Gesellschaft etwas zurückgibt, wenn man es sich leisten kann.” Für ihn sind Tugenden statt Geld die Grundlage für die Zuordnung zu sozialen Schichten. Aber: Was sagt dies über all die Menschen aus, die nicht zur Mittelschicht gehören? Sind diese nicht anständig, nicht fleißig und nicht diszipliniert? Eine Zuordnung über Tugenden ist ausgrenzend und daher ungeeignet.
Die wohl beste Definition von Mittelschicht beruht auf Einkommen. Eine Ergänzung um Vermögen ist schwierig, da fast 40 Prozent der deutschen Haushalte praktisch kein Vermögen haben und somit die Mehrheit der Unterschicht zugeordnet werden müsste. Eine in der Wissenschaft übliche Definition ist, alle Menschen mit einem Nettoeinkommen zwischen 75 Prozent und 170 Prozent des mittleren Einkommens als Mittelschicht zu definieren. Eine Studie des DIW Berlin zeigt auf dieser Grundlage, dass die Mittelschicht in Deutschland von 63 Prozent in den 1990er Jahren bis 2015 auf knapp 56 Prozent geschrumpft ist. Die Oberschicht ist in diesem Zeitraum von elf auf 18 Prozent und die Unterschicht mit weniger als 75 Prozent des mittleren Einkommens von 25 auf 32 Prozent gewachsen.
Wieso zählen sich dann so viele Menschen in Deutschland zur Mittelschicht, obwohl wenig mehr als die Hälfte dazu zählt? Eine mögliche Erklärung ist die Fehleinschätzung. Menschen vergleichen sich mit anderen in ihrem sozialen und beruflichen Umfeld. Ein Beschäftigter mit einem Jahreseinkommen von 100000 Euro netto gehört objektiv zu den fünf Prozent der Topverdienenden, mag sich aber unter Freunden und Bekannten, die ähnlich gut verdienen, nicht wie jemand aus der Oberschicht fühlen. Und ein Arbeiter mit 30000 Euro Nettojahreseinkommen mag sich in seinem Umfeld durchaus als jemand mit einem mittleren Einkommen empfinden.
Aber dies ist nur ein Teil der Erklärung. Viele mögen sich ihrer hohen oder vergleichsweise geringen Einkommen sehr wohl bewusst sein und die Zuordnung zur Mittelschicht mag eher den Wunsch nach Gemeinschaft spiegeln und danach, kein Außenseiter zu sein. Zudem sind sowohl Armut als auch Reichtum in unserer Gesellschaft häufig mit einem Stigma behaftet. Über Geld spricht man nicht, so heißt es, und vor allem Spitzenverdienende tun sich häufig schwer, ihr Gehalt offen zu kommunizieren, denn sie haben Sorge, damit Kritik oder Neid zu ernten.
Die traurige Wahrheit aber bleibt, dass die Mittelschicht in Deutschland schrumpft, und zwar schneller als in den meisten Industrieländern. Dabei hängt die Frage, ob jemand Teil der Mittelschicht oder gar der oberen Mittelschicht ist, immer weniger von der geleisteten Arbeit und eigenen Anstrengungen ab, sondern immer stärker von Erbschaften und der Lotterie der Geburt.
Der Beitrag ist in einer längeren Fassung am 8. September bei Zeit Online erschienen.
Themen: Verteilung, Ungleichheit, Arbeit und Beschäftigung
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2023-39-3
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/279499