Medienbeitrag vom 27. November 2023
Kaum wurde der Regelsatz für das Bürgergeld erhöht, gab es die erwartbaren Reaktionen: Der Lohnabstand sei nicht mehr gewahrt, es werde zu wenig sanktioniert und überhaupt gäbe es zu wenig Mitwirkungspflichten. Auch die Forderung, Empfänger von Bürgergeld zu gemeinnütziger Arbeit zu verpflichten, ließ nicht lange auf sich warten. Wie sich solche lautstark vorgetragenen Forderungen in der Realität auswirken würden, dazu gibt es allerdings kaum empirisch fundierte Erkenntnisse. Die Wirklichkeit ist nämlich wesentlich komplizierter, als die schrille Debatte suggeriert. Sachliche Beiträge, die es durchaus gibt, haben da Schwierigkeiten, Gehör zu finden.
Dieser Gastbeitrag von Johannes Geyer, Peter Haan und Wolfgang Schroeder erschien am 27. November 2023 im Tagespiegel.
Insbesondere ein Aspekt würde mehr Aufmerksamkeit verdienen: Das Lohnabstandsgebot hat, abhängig von der konkreten Höhe des Stundenlohns, ganz unterschiedliche Implikationen. Das Existenzminimum und auch andere Transfers wie das Wohngeld orientieren sich zunächst nicht am Stundenlohn, sondern am Bedarf der Haushalte und damit am Einkommen.
Das ist auch richtig, da ein Mindestniveau abgesichert werden soll. Allerdings müssen Geringverdienende deutlich mehr arbeiten, um das Mindestniveau zu erreichen als Gutverdienende – und das häufig auch noch in Jobs mit schlechteren Arbeitsbedingungen. Daher ist es gerade wichtig, die monetären Arbeitsanreize von Geringverdienenden zu erhöhen. Eine große Hürde bei den Arbeitsanreizen dieser Gruppe stellen dabei die Abgaben für die Sozialversicherung dar. Diese Beiträge werden bis zur Beitragsbemessungsgrenze im Prinzip von allen Versicherten mit dem gleichen Prozentsatz geleistet.
Nur im Übergangsbereich gibt es einen bestimmten Einkommenskorridor mit größeren Entlastungen. Der Lohnabstand für Personen mit niedrigen Stundenlöhnen und, damit verbunden, der Arbeitsanreiz, könnte erheblich erhöht werden, indem die Sozialversicherungsbeiträge für diese Gruppe weiter reduziert würden.
Derzeit werden Sozialversicherungsbeiträge durch Minijobs subventioniert. Einkommen unter 520 Euro sind von der Steuer und den Sozialversicherungsbeiträgen der Beschäftigten befreit beziehungsweise Beschäftigte können sich von den Beiträgen zur Rentenversicherung befreien lassen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Einkommen durch geringe Löhne und viele Stunden oder hohe Löhne und wenige Stunden entstehen. Der Lohnabstand für Personen mit niedrigen Stundenlöhnen würde sich deutlich erhöhen, wenn sich die Subventionen nicht am Einkommen, sondern direkt an den Stundenlöhnen orientierten. Minijobs könnten dann abgeschafft und der Übergangsbereich neugestaltet werden.
Die dadurch frei werdenden Mittel sollten genutzt werden, um die Subventionen bei geringen Löhnen nicht nur bis 520 Euro zu zahlen, sondern auch für eine Beschäftigung in Vollzeit. Das würde den Lohnabstand zum Bürgergeld und die Anreize für eine Vollzeitbeschäftigung deutlich steigern. Diese Reform würde den Arbeitsanreiz unabhängig vom Bürgergeld erhöhen. Derzeit führt insbesondere die steuerliche Berücksichtigung der Einkünfte aus Minijobs in Kombination mit dem Ehegattensplitting und der beitragsfreien Mitversicherung für Eheleute in der gesetzlichen Krankenversicherung dazu, dass sich eine Ausdehnung der Arbeitszeit über die Minijobgrenze hinaus, vor allem für viele verheiratete Frauen, nicht lohnt.
Allerdings hat dieser Vorschlag bisher ein gravierendes Problem: Es liegen keine verlässlichen Informationen zu den geleisteten Arbeitsstunden vor, die die Sozialpolitik nutzen könnte. Eine belastbare Erfassung der Arbeitsstunden wurde schon häufig angemahnt – unter anderem, um Missbrauch beim Mindestlohn zu verhindern. Informationen zu Arbeitsstunden würden die soziale Sicherung auch in anderen Bereichen zielgenauer machen. So gilt beispielsweise bei der Grundrente nicht ein niedriger Stundenlohn, sondern ein niedriges versichertes Einkommen als relevant.
Im Rahmen des 2019 getroffenen Urteils des Europäischen Gerichtshofs sind die Arbeitgeber nachdem Arbeitsschutzgesetz verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die von den Beschäftigten geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann. Bislang wurde dies vom deutschen Gesetzgeber jedoch nicht in nationales Recht überführt. Das Bundesarbeitsgericht hat im September 2022 festgestellt, dass in Deutschland die gesamte Arbeitszeit der Arbeitnehmenden aufzuzeichnen ist. Damit soll garantiert werden, dass Ruhezeiten eingehalten und Überstunden erfasst werden. Ein weiterer Vorteil: Informationen zu Arbeitsstunden würden die soziale Sicherung endlich zielgenauer machen.
Themen: Arbeit und Beschäftigung , Öffentliche Finanzen