Blog Marcel Fratzscher vom 29. September 2023
Der Gender-Pay-Gap ist bekannt, der Class-Pay-Gap dagegen kaum. Dabei bestimmt die Herkunft die Karriere, sagt Ökonom Marcel Fratzscher. Diskutieren Sie jetzt mit ihm.
Die Chancen in Schule, Ausbildung, Studium und der beruflichen Karriere hängen stark vom sozioökonomischen Hintergrund ab – also von Beruf, Einkommen, Vermögen und der Bildung der Eltern. Deutschland führt international im Feld der ungleichen Bildungschancen. Von 100 Kindern aus Akademikerhaushalten beginnen 74 ein Studium, aus Arbeiterhaushalten beginnen lediglich 21 Kinder ein Studium. Viermal mehr Akademikerkinder schließen erfolgreich das Bachelorstudium ab, sechsmal mehr ein Masterstudium und zehnmal mehr eine Promotion. Damit ist die soziale Mobilität in Deutschland in Bezug auf das Einkommen eine der geringsten in Europa und in etwa so gering wie in den USA. Alles lange bekannt und gut erforscht.
Dieser Text erschien am 29. September 2023 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Kein Thema in der Forschung und im gesellschaftspolitischen Diskurs ist die Chancengleichheit im Arbeitsleben und inwiefern sie vom sozioökonomischen Hintergrund abhängt. Ob also Arbeiterkinder mit einem erfolgreichen Studium die gleiche Bezahlung bekommen wie studierte Akademikerkinder. Und haben First-Generation-Professionals, also Arbeiterkinder mit Hochschulabschluss, die gleichen Karrierechancen? Oder gibt es einen Class-Pay-Gap in Deutschland?
Vieles deutet darauf hin, dass der Class-Pay-Gap in Deutschland erheblich ist, wie eine Untersuchung der Boston Consulting Group (BCG) zeigt. Umgekehrt und positiv ausgedrückt bedeutet das, dass Deutschland enormes doppeltes Potenzial hat, wenn das Land Menschen aus allen sozialen Herkünften die gleichen Chancen bei der Bildung im Arbeitsleben eröffnen würde.
Recht gut erforscht ist bereits die Lage in Großbritannien, wo Zahlen über den Einkommensunterschied zwischen Erstakademikern und Akademikern mit Eltern, die studiert haben, vorliegen. 17 Prozent beträgt der Class-Pay-Gap in Großbritannien im höheren Management und bei prestigeträchtigen Berufen, hat die Social Mobility Commission errechnet.
Der Class-Pay-Gap weitet sich mit zunehmender Bildung, Einkommen und Alter deutlich – die Einkommensunterschiede steigen. Auch eine britische Nichtregierungsorganisation (NGO) errechnete einen Class-Pay-Gap von 13 Prozent. Für viele Managementpositionen lag der Class-Pay-Gap nach den Berechnungen der NGO bei über 20 Prozent, bei Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen und Fachkräften im Gesundheitssektor bei fünf Prozent oder weniger. Für Frauen aus Arbeiterfamilien war der Effekt stärker als für Männer. Die Ethnizität spielte dagegen eine geringere Rolle.
Die Zahlen aus Großbritannien zeigen, dass Diversität in Bezug auf die soziale Herkunft in mancher Hinsicht eine ähnlich große Bedeutung hat wie in Bezug auf Gender und die Gleichstellung von Frauen und Männern. Jedoch bekommt das Thema des sozioökonomischen Hintergrundes und dessen Auswirkungen in wissenschaftlichen Untersuchungen und medial deutlich weniger Aufmerksamkeit.
Die Studie der Boston Consulting Group misst zwar nicht den Class-Pay-Gap für Deutschland, zeigt jedoch in beeindruckender Art und Weise die hohen Hürden für Arbeiterkinder mit Hochschulabschluss. Insbesondere drei Hürden erschweren die Inklusion der First-Generation-Professionals und schaffen ihnen dauerhaft Nachteile bei den Chancen auf dem Karriereweg und bei der Bezahlung: Sie haben deutlich schlechtere Informationen und Kenntnisse, wie sie sich in ihrem beruflichen Umfeld etablieren können und vorankommen. Sie verfügen über deutlich schlechtere Netzwerke. Und sie haben sehr viel häufiger das Gefühl, nicht sie selbst sein zu können und dass ihre Vorgesetzten nicht auf ihre Bedürfnisse eingehen. Dies erschwert ihnen die Kommunikation und schwächt beispielsweise ihre Position bei Gehaltsverhandlungen. Diese Nachteile werden im Laufe des Berufslebens etwas geringer, werden aber nie komplett abgebaut.
Die Nachteile aufgrund der sozioökonomischen Herkunft entscheiden auch in Deutschland über die Karriere. Sie werden jedoch weder in wissenschaftlichen noch politischen Diskursen so diskutiert wie das Geschlecht. Denn den sozioökonomischen Hintergrund sieht man nicht – das Geschlecht ist meist durch den Namen oder das Aussehen offensichtlich, das Elternhaus kann meist nur erahnt werden. Manche Arbeiterkinder und First-Generation-Professionals empfinden die soziale Herkunft zudem als Stigma und verschweigen ihre Familie. Und das betrifft auch die Unternehmen.
Die BCG-Studie zu Diversität und Inklusion hat ermittelt, dass Beschäftigte 50 Prozent produktiver und deutlich zufriedener sind, wenn sie das Gefühl haben, am Arbeitsplatz authentisch sein zu können. First-Generation-Professionals haben eine 32 Prozent höhere Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber. Und sie haben eine zu 59 Prozent höhere intrinsische Motivation. Sollten sie es bis zur Führungskraft schaffen, zeigen sie eine höhere Wertschätzung für Diversität.
Mehr Diversität in Bezug auf den sozioökonomischen Hintergrund schafft somit einen erheblichen Nutzen nicht nur für die Gesellschaft, sondern für jedes einzelne Unternehmen.
Und dieses Potenzial ist enorm, da mit 45 Prozent der Hochschulabsolventen fast jeder zweite akademische Berufseinsteiger ein First-Generation Professional ist. Ihre fehlende Sichtbarkeit darf keine Entschuldigung für Politik und Unternehmen sein, Diversität und Inklusion in Bezug auf die vielen Menschen mit schwierigeren und nicht linearen Lebensläufen zu ignorieren. Großbritannien sollte ein Vorbild sein. Das Land hat eine Social Mobility Commission gegründet und damit eine Datengrundlage und Transparenz geschaffen, um einen gesellschaftlichen Diskurs anzustoßen und Lösungen zu erarbeiten.
Und auch Unternehmen können und sollten mehr tun – durch eine Schärfung des Bewusstseins, den Abbau von Einstiegsbarrieren, durch Mentoring und eine höhere Wertschätzung für Diversität und Menschen mit einem weniger privilegierten sozioökonomischen Hintergrund. Eine Verbesserung von Diversität und Inklusion ist in Zeiten der Transformation und des Fachkräftemangels umso wichtiger und trägt gleichzeitig zu einer gerechteren Gesellschaft mit mehr Chancengleichheit bei.
Themen: Arbeit und Beschäftigung , Ungleichheit