DIW Wochenbericht 17 / 2024, S. 251-259
Fabian Beckmann, Rolf G. Heinze, Dominik Schad, Jürgen Schupp
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„Bevor neue Reformen des Bürgergeldes oder gar neue Konzepte in die politische Debatte geworfen werden, sollten erst umfassende Forschungsergebnisse abgewartet werden. Gefragt ist jetzt eine politische Kommunikation, die die Debatte versachlicht, pragmatisch über die Bedarfslagen und Ansprüche aufklärt und die Umbauprozesse erklärt.“ Jürgen Schupp
Im Januar 2023 hat in Deutschland das Bürgergeld das System der Grundsicherung abgelöst, begleitet von zahlreichen politischen und medialen Kontroversen. Nach einem Jahr Bürgergeldreform wurden Beschäftigte in sieben Jobcentern in Nordrhein-Westfalen befragt, um eine erste Bilanz zur Umsetzungspraxis zu ziehen. Die Jobcenterbeschäftigten sehen demnach das Bürgergeldgesetz mehrheitlich sehr skeptisch, aber mit Blick auf einzelne Reformaspekte finden sich auch differenzierte sowie vereinzelt positive Einschätzungen. Insbesondere die Einführung der Bagatellgrenze und die verbesserte Betreuung Langzeitarbeitsloser wurden mehrheitlich positiv beurteilt. Überwiegend negativ bewertet wurden hingegen die höheren Regelsätze und die neue Sanktionspraxis. Insgesamt gehen die Jobcenterbeschäftigten mehrheitlich davon aus, dass sich die Motivation und die Mitwirkung der Leistungsbeziehenden nicht verbessern und der bürokratische Aufwand nicht wesentlich verringert. Trotz dieser vorerst negativen Bewertung durch die Jobcenterbeschäftigten sollten erst weitere repräsentative Untersuchungen, auch bei den Bürgergeldbeziehenden, erfolgen. Die Politik sollte zur Versachlichung der Debatte beitragen und Stereotypen gegenüber Bürgergeldbeziehenden entgegenwirken.
Die Ablösung des als Hartz IV bezeichneten Grundsicherungssystems wurde zu Beginn der Ampelkoalition als das zentrale sozialpolitische Projekt bezeichnet. Als übergeordnetes Leitbild sollte das neue Bürgergeld „die Würde des und der Einzelnen achten, zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen sowie digital und unkompliziert zugänglich sein“.Siehe Bundesregierung (2021): Mehr Fortschritt wagen. Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, 59 (online verfügbar, abgerufen am 9. April 2024. Dies gilt für alle Onlinequellen in diesem Bericht, sofern nicht anders vermerkt).
Der Weg zum schrittweisen Inkrafttreten des neuen Bürgergeldgesetzes zum 1. Januar 2023 sowie in weiten Teilen auch erst zum 1. Juli 2023 wurde erst Ende November 2022 nach dem Aushandeln eines umfassenden Kompromissvorschlags freigemacht. Vorausgegangen war eine wochenlange emotionalisierte politische und gesellschaftliche Debatte. Die Kritiker*innen des Ampelentwurfs brachen eine Neiddebatte mit teilweise unvollständigen Beispielrechnungen oder dem Wiederholen verbreiteter Ressentiments auf dem Rücken der ärmsten Mitglieder der Gesellschaft vom Zaun. In der abschließenden Debatte im Bundestag stimmte neben der Mehrheit der Ampelkoalition auch die größte Oppositionspartei CDU/CSU der Einführung des Bürgergeldgesetzes zu, die aber jüngst die Debatte mit einem neuen Konzept befeuert hat.Am 18. März 2024 stellte die Union ein neues Konzept vor, das das Bürgergeld in der jetzigen Form abschaffen und durch eine neue Grundsicherung ersetzen soll, vgl. Informationen auf der Website der CDU.
Die substanziellen Veränderungen durch das BürgergeldgesetzVgl. hierzu im Detail auch die Informationen auf der Website des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. im Vergleich zum früheren Hartz-IV-System können dabei grob fünf Bereichen zugeordnet werden, in denen Instrumente, Prozesse und Leitbilder neu austariert wurden: Erstens wurde eine veränderte Kultur der Kommunikation zwischen Jobcentern und Bürgergeldberechtigten implementiert, die auf das bisherige Kernelement einer Eingliederungsvereinbarung verzichtet und stattdessen auf einen gemeinsam von Jobcenter und Arbeitsuchenden erarbeiteten Kooperationsplan setzt. Hierzu zählt auch eine Reform der Leistungsminderungen (sogenannte „Sanktionen“), die künftig stufenweise bis zu 30 Prozent des Leistungsbezugs umfassen können.An dieser Stelle bestand gesetzlicher Regelungsbedarf aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2019. Der ursprüngliche Gesetzentwurf sah hierzu noch ein Sanktionsmoratorium vor, auf das jedoch letztendlich verzichtet wurde. Mittlerweile ist eine gesetzliche Nachschärfung des Bürgergeldgesetzes im Rahmen des zweiten Haushaltsfinanzierungsgesetzes beschlossen worden (online verfügbar). Für die statistisch vergleichsweise sehr kleine Gruppe der sogenannten „Totalverweigerer“ ist künftig vorgesehen, deren Regelbezug bei Verweigerung einer zumutbaren Arbeit befristet auf zwei Monate um 100 Prozent zu streichen.
Zweitens setzt das Bürgergeld verstärkt auf Re-Integration, da auf die bisherige vorrangige Vermittlung in Erwerbstätigkeit (Vermittlungsvorrang) verzichtet wird – zugunsten von Maßnahmen der Weiterbildung wie dem Erwerb eines Berufsabschlusses. Zudem sind für Weiterbildungen seit Juli 2023 auch zusätzliche finanzielle Anreize sowie entsprechend verlängerte Fördermöglichkeiten vorgesehen. Der Soziale Arbeitsmarkt (§ 16i SGB II) für Menschen nach besonders langer Arbeitslosigkeit, der im Jahr 2019 zunächst befristet auf fünf Jahre eingeführt worden war, wurde entfristet. So können einerseits Arbeitgeber*innen auch künftig Lohnkostenzuschüsse erhalten und andererseits Arbeitnehmer*innen mit professionellem Coaching begleitet werden, um hiermit soziale Teilhabe nachhaltig zu ermöglichen.
Der dritte Bereich enthält sowohl bedingungsärmere Elemente für mehr Sicherheit und mehr Respekt für die individuelle Lebensleistung als auch verbesserte finanzielle Anreize zur Arbeitsaufnahme. So gilt in den ersten zwölf Monaten des Bezugs von Bürgergeld eine Karenzzeit, die Antragstellenden sowohl einen höheren Vermögensfreibetrag (in Höhe von 40000 statt 15000 Euro) einräumt als auch die Kosten der Unterkunft in tatsächlicher Höhe anerkennt. Jugendliche, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, erhalten ebenfalls ab Juli 2023 einen individuellen Freibetrag von 520 Euro, sodass sie bis zu dieser Grenze einer bezahlten Beschäftigung ohne Abzüge nachgehen können. Weiterhin wird künftig die Transferentzugsrate von 80 Prozent auf 70 Prozent gesenkt, wenn Bürgergeldbeziehende einer Beschäftigung mit einem Einkommen zwischen 520 und 1000 Euro nachgehen.Die Transferentzugsrate beschreibt den Prozentsatz, der einer Person vom zusätzlich verdienten Einkommen abgezogen wird, wenn sie Grundsicherung bezieht.
Der vierte Bereich betrifft die Höhe der Regelsätze, die zeitnäher an die Inflation angepasst und je nach Bedarfsstufe zunächst zum 1. Januar 2023 um bis zu zwölf Prozent auf 502 Euro angehoben und zum 1. Januar 2024 erneut um zwölf Prozent auf 563 Euro für eine alleinstehende Person deutlich erhöht wurden.Zur Diskussion des gesetzlichen Mechanismus von Preisentwicklung und Bürgergelderhöhung vgl. Irene Becker (2024): Regelbedarfsfortschreibungen – ein Vergleich mit faktischen Preisentwicklungen. Sozialer Fortschritt Nr. 2, 131–150.
Der fünfte Bereich enthält bürokratieabbauende Maßnahmen, die das Ziel haben, die formalen Hürden einer Antragstellung abzusenken. So wurde es zudem pünktlich zur Einführung des Bürgergeldes möglich gemacht, Erst- und Weiterbewilligungsanträge auch online beim Jobcenter einzureichen sowie digital mit dem Jobcenter zu kommunizieren. Für mögliche Rückforderungen wird eine Bagatellgrenze in Höhe von 50 Euro geschaffen.
Insgesamt wurden etliche Schritte gesetzlich verankert. Hierzu gehört neben der Beratung auf Augenhöhe die aufsuchende Arbeit zu Hause (Hausbesuche), spezielle Unterstützung bei gesundheitlichen Einschränkungen und die im Gesetz nun entfristeten Maßnahmen des sozialen Arbeitsmarktes. Eine Vielzahl an Änderungen geht zum einen auf Regelungen zurück, die sich bereits während der Corona-Pandemie bewährt haben, und zum anderen auf Empfehlungen aus der langjährigen evidenzbasierten Wirkungsforschung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB).Fabian Beckmann et al. (2021): Klima der Angst oder Respekt auf Augenhöhe? Erfahrungen von Hartz IV-Beziehenden mit Jobcentern im Zuge der Corona-Pandemie. Sozialer Fortschritt Nr. 10–11, 651–669 (online verfügbar); Holger Bähr et al. (2018): Grundsicherung und Arbeitsmarkt in Deutschland. IAB-Bibliothek 370; Frank Bauer et al. (2022): Stellungnahme des IAB zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einführung eines Bürgergeldes. IAB-Stellungnahme 07/2022 (online verfügbar).
Trotz der anhaltenden politischen und medialen Kontroversen mangelt es seit der Implementierung bislang an empirischer Evidenz sowohl mit Blick auf potenzielle Arbeitsmarkteffekte als auch Erfahrungen in den Jobcentern bei der Anwendung der neuen Regelungen. Im Folgenden steht daher die Umsetzung der Bürgergeldreform durch die Jobcenter – einerseits aus der Perspektive der im Vermittlungsprozess involvierten Integrationsfachkräfte und andererseits der im Leistungsbezug tätigen Beschäftigten – im Fokus der Betrachtung, um auf dieser Basis eine erste Erfahrungsbilanz aus der Praxis zu ziehen.Aus der Perspektive der betroffenen Leistungsbeziehenden wurden vor Einführung des Bürgergeldgesetzes und der geplanten Veränderungen bereits im Jahr 2022 Befragungsergebnisse veröffentlicht: Fabian Beckmann et al. (2022): Bürgergeld statt Hartz IV: Was sich Langzeitarbeitslose von der geplanten Reform erhoffen. DIW Wochenbericht Nr. 31+32, 412–422 (online verfügbar).
Die Beschäftigten der Jobcenter tragen für eine erfolgreiche Implementierung des Bürgergeldgesetzes eine besondere Verantwortung.Vgl. Michael Lipsky (2010 [1980]): Street Level Bureaucracy: Dilemmas of the Individual in Public Services. 30th Anniversary Expanded Edition. The Russell Sage Foundation, New York. Sie sind dafür zuständig, die veränderten leistungsrechtlichen Regelungen umzusetzen. Eine große Rolle spielen dabei die veränderten Inhalte im Verwaltungshandeln und im alltäglichen Eingliederungs- und Beratungsprozess.Die letzte Befragung auf der Ebene von Jobcentern erfolgte im Rahmen einer IAB-Studie Mitte 2022: Christopher Osiander und Philipp Ramos Lobato (2023): Die Bürgergeld-Reform – Einschätzungen aus der Jobcenter-Befragung des IAB. Der Landkreis Nr. 12, 749–751. Insgesamt zeigte sich dabei, dass die Jobcenter die durch die Bürgergeldreform intendierte nachhaltige Integration von Arbeitslosen unterstützen, die damals geplanten Änderungen im Bereich der Sanktionen jedoch skeptisch beurteilten. Das Bürgergeldgesetz wird vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Rahmen der Wirkungsforschung wissenschaftlich evaluiert, wozu auch eine bundesweite online-basierte Befragung von Mitarbeitenden der Jobcenter gehört, die als Wiederholungsbefragung angelegt werden soll. Vgl. hierzu die Informationen auf der Website des IAB.
Die im Folgenden ersten explorativen Befunde beruhen auf einer quantitativen Online-Erhebung, zu der in sieben Jobcentern in Nordrhein-Westfalen im Zeitraum vom 24. Januar bis 29. Februar 2024 insgesamt 5818 Beschäftigte dieser Einrichtungen eingeladen wurden (Kasten). 1894 Befragte füllten in diesem Zeitraum den Fragebogen vollständig aus, davon 1273 Integrationsfachkräfte, die für die Arbeitsvermittlung zuständig sind, und 621 Beschäftigte aus dem Leistungsbereich, die für die Bewilligung und Auszahlung der Gelder zuständig sind. Die Ergebnisse erlauben aufgrund der selektiven Auswahl und der beschränkten Befragungsdauer keine Verallgemeinerung auf die Situation in sämtlichen Jobcentern in Deutschland; sie liefern gleichwohl eine erste quantitative Orientierung der Einschätzung und Bewertung des Bürgergeldgesetzes, die über Einzelfallschilderungen einzelner Jobcenterbeschäftigter hinausreicht.Vgl. etwa Peter Wulle (2024): Schadet das Bürgergeld dem Dortmunder Arbeitsmarkt? Nein, ist der Jobcenter-Chef überzeugt. Ruhr-Nachrichten vom 22. Januar 2024, 2; Florian Diekmann und Cornelia Schmergal (2023): Wollen die Leute nicht arbeiten oder können sie nicht?. Der Spiegel Nr. 50 (online verfügbar).
Die präsentierten Befunde beruhen auf einer empirischen onlinebasierten Erhebung, die beim InWIS-Institut an der Ruhr-Universität Bochum in Auftrag gegeben wurde. Die Studie wurde durch die sieben Jobcenter der Städteregion Aachen, der Städte Bochum, Duisburg, Essen, Gelsenkirchen und Wuppertal sowie des Kreises Recklinghausen beauftragt. Die Datenerhebung erfolgte in Form einer standardisierten, etwa 10- bis 15-minütigen onlinebasierten Befragung (CAWI) aller Beschäftigten in den teilnehmenden Jobcentern. Das Institut erstellte für die sieben Jobcenter entsprechende Einladungen an sämtliche Beschäftigten.
Die insgesamt 5818 Beschäftigten wurden in der Zeit vom 24. Januar 2024 bis 29. Februar 2024 per E-Mail angeschrieben (Tabelle).Die Feldphase war also bereits abgeschlossen, bevor der Beschluss des Bundesvorstandes der CDU am 18. März 2024 zum Ersetzen des Bürgergeldes durch eine „Neue Grundsicherung“ erfolgte und die mediale Berichterstattung prägte. Insgesamt konnten innerhalb dieses Zeitraums 1894 vollständig ausgefüllte Interviews durchgeführt werden, was einer durchschnittlichen Gesamtausschöpfungsquote von 32,6 Prozent entspricht. Rund 1273 Befragte sind dem Bereich Markt- und Integration zuzuordnen und 621 Befragte dem Bereich Leistung. Während Beschäftigte der Leistungsgewährung vor allem die sozialrechtlichen Ansprüche des Bürgergeldbezugs prüfen und bewilligen, besteht die Tätigkeit von Beschäftigten des Bereiches „Markt und Integration“ in der Interaktionsarbeit mit den Leistungsberechtigten, wobei Aspekte wie Weiterbildung, Qualifikation und Arbeitsmarktintegration im Vordergrund stehen. Angesichts des kurzen Befragungszeitraums kann das als vergleichsweise gutes Ergebnis gewertet werden und deckt sich in etwa mit Felderfahrungen, die beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zu ähnlichen Themen sowie Zielgruppen in der Vergangenheit durchgeführt wurden.
männlich | weiblich | Beschäftigte in Leistungsgewährung | Fachkräfte Markt und Integration sowie übrige | Beschäftigte (gesamt) | |
---|---|---|---|---|---|
Alle Beschäftigten | 1874 | 3944 | 2143 | 3675 | 5818 |
Anteil in Prozent | 32,2 | 67,8 | 36,8 | 63,2 | 100,0 |
Beschäftigte, die vollständige Fragebögen eingereicht haben1 | 646 | 1172 | 621 | 1273 | 1894 |
Anteil in Prozent1 | 34,1 | 61,9 | 32,8 | 67,2 | 100,0 |
Ausschöpfungsquote in Prozent | 34,5 | 29,7 | 29,0 | 34,6 | 32,6 |
1 Vier Prozent der Befragten haben keine Angaben zum Geschlecht gemacht.
Anmerkung: Stand: Februar 2024. Die Beschäftigten wurden zwischen dem 24. Januar und dem 29. Februar 2024 in den Jobcentern der Städteregion Aachen, der Städte Bochum, Duisburg, Essen, Gelsenkirchen und Wuppertal sowie des Kreis Recklinghausen online befragt.
Quelle: Eigene Berechnungen.
Gemäß der Typisierung aller Jobcenter Deutschlands unter Berücksichtigung der jeweiligen regionalen Besonderheiten hat die Bundesagentur für Arbeit Vergleichstypen erstellt, um einen Vergleich und eine Einordnung der Leistungsfähigkeit der 408 Jobcenter Deutschlands vornehmen zu können.Für detaillierte Infos zur Typisierung von Jobcentern im SGB-II-Bereich vgl. Wolfgang Dauth, Matthias Dorner und Uwe Blien (2013): Neukonzeption der Typisierung im SGB-II-Bereich. Vorgehensweise und Ergebnisse. IAB-Forschungsbericht Nr. 11 (online verfügbar). Nach dieser Typologie werden die ausgewählten Jobcenter nahezu allesamt dem Typ IIIC zugeordnet mit vergleichbaren Merkmalen hinsichtlich Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes für Arbeitssuchende im SGB II, Struktur der erwerbfähigen Leistungsberechtigten, Struktur der Bedarfsgemeinschaften, Bevölkerung und Sozialstruktur und geografische Lage des Jobcenters. Sie können allgemein typisiert werden als „Städte bzw. (hoch-)verdichtete Landkreise überwiegend im Agglomerationsraum Rhein-Ruhr mit sehr geringer Arbeitsplatzdichte, geringer saisonaler Dynamik bei gleichzeitig hohem Beschäftigungspotenzial in einfachen Tätigkeiten und hohem Migrantenanteil“. Lediglich die Beschäftigten im Jobcenter der Städteregion Aachen sind dem Typ IIIb zugeordnet, die als „Überwiegend Städte bzw. verstädterte Regionen mit hohen Wohnkosten, Dienstleistungsarbeitsmärkten und geringer Arbeitsplatzdichte“ typisiert sind.
Bei den Integrationsfachkräften wurde zunächst erfragt, ob die organisatorische und persönliche Umstellung im Zuge der Einführung des Bürgergeldgesetzes als erfolgreich angesehen wird. So gaben die Mitarbeitenden an, dass sie zu 83 Prozent mit den Neuerungen des Bürgergeldgesetzes gut vertraut sind und dass innerhalb der Jobcenter mehrheitlich die neuen Regelungen umfassend erläutert wurden (Abbildung 1). Nach Einschätzung der Integrationsfachkräfte kennen auch 56 Prozent der Kund*innen – also der Leistungsberechtigten – die neuen gesetzlichen Regelungen.
Eher negativ schätzen die Befragten die Wirkung einer Reihe neuer gesetzlicher Förder- und Motivationsmöglichkeiten ein. 14 Prozent waren der Meinung, dass diese neuen Möglichkeiten bislang eine positive Wirkung hatten. Ähnlich verhalten fällt die bisherige Bilanz zur Qualität der Zusammenarbeit mit den Leistungsempfänger*innen aus. Knapp 60 Prozent ziehen keine positive Bilanz, und nur 15 Prozent stimmen zu, dass die neuen Regelungen die Zusammenarbeit erleichtern. Hinsichtlich des neuen Kooperationsplans stimmen immerhin 27 Prozent der Beschäftigten zu, dass diese Maßnahme eine Erleichterung ihrer Tätigkeit darstellt, während 42 Prozent darin keine Erleichterung erkennen können.
Zentral war die differenzierte Abfrage, ob einzelne veränderte Regelungen im SGB aus Sicht der Integrationsfachkräfte in den Jobcentern auf jeden Fall oder eher beibehalten werden sollen oder eher nicht beziehungsweise gar nicht beibehalten werden sollten (Abbildung 2). Von 14 Regelungen plädierten die Integrationsfachkräfte lediglich bei vier Regelungen eher für eine Beibehaltung. Bei zehn Regelungen überwog die Ablehnung der erfolgten Veränderungen.
Eher Zustimmung (57 Prozent versus 25 Prozent Ablehnung) erfuhr die unter dem Stichwort des Bürokratieabbaus erfolgte Einführung einer Bagatellgrenze, wonach Überzahlungen unter 50 Euro pro Bedarfsgemeinschaft nicht mehr zurückgefordert werden. Bei den erstmals gesetzlich verankerten Regelungen zur ganzheitlichen Betreuung und zum Aufbau der Beschäftigungsfähigkeit Langzeitarbeitsloser mit Hilfe von Coaches plädieren 88 Prozent der Jobcenterbeschäftigten für eine Beibehaltung (sieben Prozent Ablehnung). Auch die veränderte Form der Zusammenarbeit mit Hilfe eines gemeinsam erarbeiteten Kooperationsplans wollen 51 Prozent der Befragten beibehalten. Während 55 Prozent der Erhöhung des Regelsatzes für Kinder in Form des Kinderzuschlags zustimmen (35 Prozent Ablehnung), wird die Erhöhung des Regelsatzes für Erwachsene lediglich von einem Drittel gebilligt und von mehr als der Hälfte (58 Prozent) abgelehnt.
Hinsichtlich der Erhöhung des Regelsatzes zum 1. Januar 2024 auf nunmehr 563 Euro für Alleinstehende wurde die Bewertung der Beschäftigten erfragt, ob sie die Erhöhung für zu hoch, angemessen oder zu niedrig erachten (Abbildung 3). Bei dieser leistungsrechtlichen Frage traten zudem deutliche Unterschiede zwischen den Integrationsfachkräften und den Beschäftigten im Leistungsbereich auf. Während ein Drittel der Integrationsfachkräfte diese Erhöhung als angemessen bewertet, finden sie drei Prozent zu niedrig, aber 62 Prozent zu hoch. Bei Beschäftigten in der Leistungsgewährung, die in der Regel einen anderen Kontakt zu Leistungsberechtigten als Integrationsfachkräfte haben, wird die jüngste Erhöhung von 78 Prozent als zu hoch erachtet und lediglich jeder Fünfte findet die Erhöhung angemessen (Kasten).Die jährlichen Anpassungen der Regelsätze beschließt nicht das Parlament, sondern sie werden in Form eines gesetzlich geregelten Mechanismus, abhängig von der Inflations- und Lohnentwicklung, festgelegt.
Auch bei der Frage zur neu geregelten Praxis von Leistungsminderungen (Sanktionen) plädieren lediglich 21 Prozent der Integrationsfachkräfte für eine Beibehaltung in der derzeitigen Form; 73 Prozent lehnen dies ab (Abbildung 2). Die neu geregelten Erleichterungen bei der Gewährung von Kosten der Unterkunft stoßen auf ein ambivalentes Echo, wonach 36 Prozent der Integrationsfachkräfte die Ausweitung der Karenzzeit beibehalten wollen und dies bei 38 Prozent auf Ablehnung stößt. Für die Beibehaltung der höheren Freibeträge beim Schonvermögen plädieren 26 Prozent der Integrationsfachkräfte (Ablehnung 55 Prozent). Die Zustimmung zur neu eingeführten Karenzzeit, in der privates Vermögen unangetastet bleibt, ist mit 32 Prozent etwas höher als zu den Freibeträgen des Vermögens. 50 Prozent lehnen sie aber dennoch ab.
Die im Bürgergeldgesetz neu eingeführten finanziellen Anreize für Bildungsaktivitäten stoßen ebenfalls auf ein höchst ambivalentes Echo. So wollen 44 Prozent der Integrationsfachkräfte, dass die Einführung eines Weiterbildungsgeldes beibehalten wird, während 45 Prozent diese Anreize ablehnen. Die Einführung eines Bürgergeldbonus wird von 28 Prozent der Befragten befürwortet und stößt bei 60 Prozent hingegen nicht auf Zustimmung.Der erst zum 1. Juli 2023 eingeführte Bürgergeldbonus in Höhe von 75 Euro für Weiterbildungen, die nicht auf einen Berufsabschluss abzielen, wurde Ende März 2024 mit dem Inkrafttreten des Haushaltsfinanzierungsgesetzes wieder abgeschafft. Die erfolgte Erhöhung der Zuverdienstpauschalen bei Leistungsberechtigten, die zugleich eine Erwerbstätigkeit ausüben, wird von 40 Prozent der Integrationsfachkräfte befürwortet, während 47 Prozent die im Schnitt leicht verringerte Transferentzugsrate ablehnen.
Gegenstand kontroverser politischer Auseinandersetzungen im Gesetzgebungsverfahren war zudem die Abschaffung des früher geltenden Vermittlungsvorrangs. Statt der bisher bevorzugten Vermittlung in Erwerbstätigkeit sollen nun Weiterbildungsmaßnahmen oder der Erwerb eines Berufsabschlusses im Vordergrund stehen, um die langfristige Integration in den Arbeitsmarkt zu verbessern. Auch bei dieser Regelung ist die Beurteilung ambivalent, wonach 34 Prozent für und 51 Prozent gegen eine Beibehaltung plädieren.
Auffallend sind die von den Jobcenterbeschäftigten geäußerten Folgen des Bürgergeldgesetzes auf Motivation, Anreize und Kooperation von Leistungsberechtigten (Abbildung 4). Deutlich mehr als die Hälfte der Beschäftigten geht davon aus, dass sich die Motivation der Leistungsberechtigten, die Anspruchshaltung, die Erreichbarkeit und die Mitwirkung von Kund*innen verschlechtern. Sowohl hinsichtlich der Anreize, eine neue Stelle/Arbeit aufzunehmen, sehen die Beschäftigten unter dem Strich eine Verschlechterung als auch bezüglich des Abstands des Regelsatzes zu niedrigen Löhnen (also dem Lohnabstandsgebot), obgleich sich diese Vermutung bislang „wissenschaftlich noch nicht beurteilen“ lässt.Vgl. Bernd Fitzenberger: Warum die aktuelle Bürgergelddebatte nicht die richtigen Schwerpunkte setzt. IAB-Debattenbeitrag vom 11. März 2024 (online verfügbar). Fakt ist allerdings, dass der Mindestlohn im Vergleich zu den Regelsätzen bei Hartz IV beziehungsweise beim Bürgergeld stärker angehoben wurde.
Interessant sind auch Bewertungen des bürokratischen Aufwands zur Leistungsgewährung – ein zentrales Ziel des Bürgergeldgesetzes.Vgl. zu möglichen Formen einer umfassenderen Entbürokratisierung von Verwaltungshandeln: Jörg Bogumil und Andreas Voßkuhle (2024): Wie Bürokratieabbau wirklich gelingt. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Februar 2024 (online verfügbar). An den Dokumentationspflichten hat sich zwar wenig geändert. Die digitale Antragstellung sowie die Einführung einer Bagatellgrenze für mögliche Rückforderungen dürften den bürokratischen Aufwand aber eher verringern. Dieser wird jedoch von rund der Hälfte der entsprechenden Fachkräfte als etwa gleichbleibend hoch eingeschätzt und von 39 Prozent als Verschlechterung bewertet. Dies kann zum einen daran liegen, dass sich die Struktur der Leistungsberechtigten verändert hat, und zum anderen, dass der Aufwand nach einer Umstellung häufig als erhöht wahrgenommen wird.
Auch ein Drittel der Fachkräfte für Integration bewertet den bürokratischen Aufwand bei Beratung und Vermittlung als höher. Verbessert hat sich der bürokratische Aufwand lediglich für fünf Prozent (Leistungsgewährung) und sechs Prozent (Beratung und Vermittlung). Einzig in der mittlerweile vorhandenen Möglichkeit der digitalen Form der Leistungsbeantragung überwiegt der Anteil derjenigen, die dies als Verbesserung erachten (28 Prozent), gegenüber denjenigen, die dies als Verschlechterung sehen (zehn Prozent). Auch der Grad der Verständlichkeit der Sprache in offiziellen Dokumenten und Briefen zählt zu den Punkten, die mit zwölf Prozent eher als Verbesserung gegenüber acht Prozent als Verschlechterung wahrgenommen wird.
13 Prozent der Beschäftigten zählen als Verbesserung, dass sich durch die höheren Regelsätze die Armut reduzieren lässt. Zwölf Prozent beurteilen die höheren Regelsätze auch als Verbesserung der sozialen Teilhabe. Hinsichtlich der Zeit für Beratung (22 Prozent) und der Qualität von Beratung (13 Prozent) überwiegen hingegen bei den Integrationsfachkräften die Verschlechterungen. Bezüglich der Qualität der Hilfe bei gesundheitlichen Problemen sehen 60 Prozent keine Veränderungen, neun Prozent eher eine Verschlechterung und fünf Prozent eine Verbesserung.
In der Gesamtbilanz schätzt – wenig überraschend nach den vielen schlecht beurteilten Einzelpunkten – weniger als jeder fünfte Jobcenterbeschäftigte das Bürgergeld als Verbesserung ein (Abbildung 5). Rund die Hälfte bewertet die Veränderungen als Verschlechterung, bei den Integrationsfachkräften etwas mehr als bei den Beschäftigten der Leistungsgewährung. Der Rest sieht weder eine Verbesserung noch eine Verschlechterung.
Die Befragungsergebnisse von Beschäftigten aus sieben Jobcentern in Nordrhein-Westfalen deuten auf ein bislang geringes Akzeptanzniveau bei der erfolgten Überführung des früheren Hartz-IV-Systems in das neue Bürgergeld. Lediglich vier Änderungen, wie die Einführung einer Bagatellgrenze und die Betreuung Langzeitarbeitsloser, werden überwiegend positiv beurteilt. Zehn neue Regelungen werden dagegen überwiegend abgelehnt, insbesondere die neue Sanktionspraxis und die erhöhten Regelsätze. Vor allem erwarten die Jobcenterbeschäftigten keine positiven Anreize für die Motivation und Arbeitsaufnahme der Bürgergeldbeziehenden. Auch der angestrebte Bürokratieabbau wird von den meisten (noch) nicht positiv beurteilt.
Auch wenn die Ergebnisse nicht repräsentativ sind, können die Befunde einen ersten Puzzlestein darstellen, um eine empirische Aussage zu den Auswirkungen der Bürgergeldreform zu treffen. Es ist aber nicht auszuschließen, dass das Bürgergeldgesetz trotz der bisher wenig positiven Bewertung der Beschäftigten zu einer Verbesserung der Eingliederung und der sozialen Integration der Bürgergeldberechtigten führt. Auch die Klärung der methodisch relevanten Frage, welcher Anteil der Bewertungen tatsächlich dem neuen Bürgergeldgesetz zugeschrieben werden kann und welcher Anteil eher den seitdem veränderten wirtschaftlichen, konjunkturellen und strukturellen Rahmenbedingungen geschuldet ist, steht aus.
Dies betrifft auch die Frage, in welchem Maße die hier vorgestellten empirischen Befunde primär Ausdruck beruflicher (Alltags-)Erfahrungen der Jobcenterbeschäftigten sind oder vielmehr grundsätzliche sozialpolitische Einstellungen widerspiegeln. Auch kann die Studie die Effekte des (vielfach polemischen) medialen Diskurses ums Bürgergeld nicht berücksichtigen. Allerdings kann sie helfen, für die komplexen Problemlagen in Jobcentern zu sensibilisieren und damit stereotype Argumentationsmuster, die teilweise schon seit Jahren immer wieder befeuert werden, abzubauen.
Für ein umfassendes evidenzbasiertes Urteil und robuste wissenschaftliche Erkenntnisse sollten vor allem die Ergebnisse des auf mehrere Jahre angelegten Evaluationsprogramms des IAB abgewartet werden.Vgl. Sebastian Bähr et al. (2023): Bürgergeld-Reform: Evaluationsprogramm des IAB. IAB-Forschungsbericht Nr. 6 (online verfügbar; abgerufen am 11. April 2024). Methodisch bedarf es neben standardisierter Befragungsergebnisse bei Integrationsfachkräften einer entsprechenden Perspektive von Leistungsberechtigten und forschungsbasierter qualitativer Beobachtungen von Beratungsgesprächen. Diese Forschung sollte ausgewertet werden, bevor neue Reformen des Bürgergeldes oder gar ganz neue Konzepte in die politische Debatte geworfen werden. Auch wenn sich erst in der breit angelegten und repräsentativen Forschung zeigen sollte, dass die Jobcenterbeschäftigten und die Gesellschaft die neuen Bürgergeldregelungen eher aus Verunsicherung oder Ressentiments ablehnen, täte die Politik schon jetzt gut daran, diesen Stimmungslagen in der Bevölkerung durch ein realitätsnahes Erwartungsmanagement zu begegnen. Die Regelungen des Bürgergeldgesetzes eröffnen nach wie vor die Chance, das Selbstverständnis des deutschen Sozialstaats zu schärfen: Denjenigen, die Hilfe benötigen, kann ein weniger hürdenreicher, weniger schambehafteter und auch bürokratieärmerer Zugang zu staatlichen Leistungen geebnet und so die Würde aller Bürger*innen auch in kritischen Situationen garantiert werden.
Gefragt ist eine politische Kommunikation, die pragmatisch über die Bedarfslagen und Ansprüche aufklärt, undifferenzierte und ressentimentgeleitete Argumentationsmuster zurückweist und die Umbauprozesse erklärt. Die Jobcenter wie auch die Politik sollten angesichts der Diskurssituation in der Öffentlichkeit zum einen vermeiden, negative Einzelentwicklungen zu tabuisieren, aber zugleich auch nicht zögern, Positivnarrative über gelungene Integration zu kommunizieren. Die Vielschichtigkeit der Problemlagen von Bürgergeldbeziehenden muss offen der vielfach verunsicherten Bevölkerung vermittelt und zugleich sollten konstruktive Wege für bedarfsgerechte Lösungen aufgezeigt werden.
Themen: Verteilung, Ungleichheit, Arbeit und Beschäftigung
JEL-Classification: D01;J28;J64
Keywords: transfer reform, long-term unemployment, preferences
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2024-17-1